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Demokratischer Zentralismus

Unter dem Titel Zwischen Skylla und Charybdis wurde im Zusammenhang mit einem deutschen Regrupierungsprozess eine Kritik am leninistischen demokratischen Zentralismus verfasst.

von NAO Prozesses.

Demokratischer Zentralismus oder die Veränderung des Leninismus im Stalinismus – bis zur Unkenntlichkeit wie auch bis zur Kenntlichkeit

Der leninistische demokratische Zentralismus gehört explizit nicht in den Minimalkonsens hinein und wenn da einer im Blog folgendes schreibt: „…die ablehnung des demokratischen zentralismus wird zu nichts anderem führen als zu einem bunten haufen, wo jeder meint, ein bissl was zum gesamtmüsli beitragen zu können (im besten fall)oder zu einer völligen arbeitsunfähigkeit..“ dann haben wir da ein anschauliches und konkretes Beispiel von sektiererischen Denkmethode, auf die mindestens vier der oben angeführten Charakteristiken des Sektierertums zutrifft. Der „Gläubige“ hat es nicht nötig den Inhalt der Begriffe zu definieren und zu differenzieren und die Geschichte der geradezu gigantischen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis zu analysieren. Er hat es auch nicht nötig, die Begriffe in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu stellen, also die sehr enge Verbindung des leninistischen demokratischen Zentralismus mit dem leninistischen Monolithismus (ständige Betonung von der Partei aus einem Guss und der eisernen Disziplin) und dem leninistischen Substitutionalismus (die Avangarde denkt und handelt anstelle der Klasse) zu machen. Wie war denn das schon wieder mit diesem wichtigen marxistischen Prinzip, wonach politische Strömungen in letzter Instanz nur nach ihrer Praxis beurteilt werden sollen? Gilt dieses Prinzip nur, wenn es einem gerade in den Kram passt? Das Konzept des demokratischen Zentralismus besagt in der Theorie, dass alle kontroversen Fragen von der Gesamtmitgliedschaft in den Parteistrukturen ausführlich diskutiert werden und dann ein Mehrheitsentscheid gefasst wird, der nun von allen nach Aussen geschlossen vertreten werden muss. Nur ganz nebenbei, in der Praxis hatte das zur Folge, dass überall dort wo die Bolschewiki in den Sowjets die Mehrheit hatten, es gar keine Diskussionen mehr gab. In der 21-jährigen Geschichte der Bolschwistischen Fraktion/Partei zu Lenins Zeiten wurden fast alle wichtigen kontroversen Fragen, vor allem nach 1917 nicht in der Gesamtmitgliedschaft diskutiert und schon gar nicht entschieden. Vor der Revolution war es die Illegalität die als Entschuldigung vorgeschoben wurde, nach der Revolution der Bürgerkrieg und nach dem Bürgerkrieg die schwierige Situation im Lande. Im 19. Existenzjahr (!!!)der Partei, am 10. Parteikongress im März 1921, wurde die Demokratiefrage (intern und im Zusammenhang mit dem Funktionieren in den Sowjets) zum ersten Mal offiziell auf die Tagesordnung gesetzt, mit dem Resultat ihrer offiziellen Abschaffung auch innerhalb der Partei. In einem inoffiziellen, geheimen Zusatz, von dessen Existenz die Parteimitgliedschaft ca. 70 Jahre danach erfuhr, wurden die Ausschlussmechanismen geregelt für diejenigen, die sich nicht an das Tendenz- und Fraktionsverbot halten sollten, wobei jede abweichende politische Meinung, von mehr als einer Person vorgebracht, als Verstoss gegen das Tendenzverbot behandelt wurde. Was die wenigsten wissen ist, dass Lenin mit Stalin und Sinowjew am gleichen Kongress noch einen veritablen Staatsstreich durchführte, indem fast alle kritischen und potentiell kritischen Leute aus dem ZK entfernt wurden. Die hochbegabten, leidenschaftlichen, kritisch denkenden und ehrlichen Revolutionäre wie beispielsweise Preobraschenski wurden ersetzt durch charakterlose Bürokraten wie Molotow oder Kuibyschew. Stalins Mannen besassen ab diesem Zeitpunkt die Mehrheit im ZK, dank Lenin!
Über alle wichtigen Belange der ersten siegreichen sozialistischen Revolution, von der Phase ihrer Vorbereitung bis zu Lenins Tod anfangs 1924, wurde ausnahmslos in kleinsten Zirkeln entschieden und nicht in der Partei und schon gar nicht in den Sowjets, dort wurden einzelne wenige Entscheide nur im Nachhinein pseudodemokratisch abgesegnet. Der Entscheid für den Aufstand vor der Konstituierung des zweiten allrussischen Sowjetkongresses, der Entscheid über die Verstaatlichung und Nutzung des Bodens, der Entscheid über Krieg oder Friedensabschluss in Brest-Litowsk, der Entscheid über die Gründung der Geheimpolizei, der Tscheka, die Entscheidungen über Repressionsmassnahmen und Verbote gegen andere sozialistische Strömungen, die Entscheidungen über die erste sehr problematische neue Verfassung von 1918, der Hinauswurf der linken Sozialrevolutionäre aus den Sowjetstrukturen, wo sie noch am 5. Sowjetkongress im Juli 1918 rund 35% der Delegierten stellten, der Entscheid über die Eskalation des sogenannten roten Terrors, der Entscheid zugunsten des „Kriegskommunismus“ mit seinen Zwangsrequisitionen, der Entscheid für den militärischen Durchmarsch auf Warschau, der Entscheid zur Beibehaltung der Zwangsrequisitionen im Februar 1920, der Entscheid zur Eroberung Georgiens, der Entscheid zur sofortigen Niederschlagung der Kronstädterrevolte und schliesslich auch der Entscheid für eine neue ökonomische Politik (NEP); bei all diesen für die Revolution schicksalsschweren Entscheidungsprozessen blieben die rund 20 Millionen Wähler und Wählerinnen der Sowjetdelegierten sowie auch die Mitglieder der Partei ausgeschlossen, alle Entscheidungen wurden in Gremien gefasst, denen nicht mehr als zwanzig Personen angehörten.
Nicht nur die Entscheidungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, sondern, was noch viel schlimmer ist, die Menschen, ja selbst die aktivsten Parteimitglieder waren vom Bewusstseins bildenden Prozess der Meinungsbildung bis 1918 nahezu und danach vollständig ausgeschlossen. Trotzki selbst bestätigt dies indirekt in seiner Autobiographie, als er schrieb, dass er über die schweren Meinungsverschiedenheiten im Politbüro während der entscheidenden Phase in den Jahren 1922/23, höchstens zehn Personen informiert hätte.
Bucharin, Mitglied des Politbüros und führender Theoretiker der Partei schildert das Parteileben für die Zeit ab 1921(in Tat und Wahrheit treffen Bucharins Beschreibung aber bereits seit Ende 1918 zu) wie folgt:
„….die Sekretäre der Zellen werden normalerweise von den Rayonkomitees ernannt, wobei sich diese nicht bemühen, ihre Kandidaten in diesen Zellen durchzubringen; sie stellen einfach eine Person auf…..kommen und fragen: Wer ist dagegen?, und weil man sich mehr oder weniger fürchtet, sich dagegen auszusprechen, wird das entsprechende Individuum zum Sekretär bestimmt…..in der Mehrzahl der Fälle werden die Wahlen zu den Parteiorganisationen in Wahlen in Anführungszeichen verwandelt, weil die Abstimmungen nicht nur ohne vorhergehende Diskussion vorgenommen wird, sondern nach der Formel wer ist dagegen? Und da es nicht gut ist gegen die Obrigkeit zu sprechen, ist es mit dieser Formel getan……normalerweise läuft eine so genannte Debatte in unserer Parteiorganisation wie folgt ab. Zuerst die Wahlen zum Präsidium der Versammlung. Irgendein Genosse aus dem Rayonkomitee tritt auf, list eine Namensliste vor und fragt: Wer ist dagegen? – Niemand ist dagegen, und damit ist die Sache auch erledigt. Das Präsidium wird gewählt und der Genosse verkündet, dass das Präsidium einstimmig gewählt worden ist. Danach kommt die Tagesordnung. Bei der Tagesordnung folgt die gleiche Prozedur…..Ich erinnere mich nur an vereinzelte, extrem seltene Fälle, wo auf den Parteiversammlungen neue Punkte auf die Tagesordnung gesetzt wurden…. Danach wird eine vorbereitete Resolution verlesen, die nach dem Schema F angenommen wird. Der Vorsitzende fragt: Wer ist dagegen? – Niemand ist dagegen. Die Resolution wird einstimmig angenommen. Das sind die normalen Verhältnisse in unserer Parteiorganisation …..Das Gleiche lässt sich in etwas veränderten Form auch auf den höheren Rängen unserer Parteihierarchie beobachten.“ (Hervorhebungen von mir)
Der leninistische Substitutionalismus zerstörte innerhalb und ausserhalb der Partei jedes politische Leben und zwar sehr rasch und viele Jahre vor Stalin. Mit der Kriminalisierung der letzten nicht bolschewistischen Strömung, der Partei der linken Sozialrevolutionäre im Juli 1918, waren die Sowjets klinisch tot und die Parteidemokratie rang auf der Intensivstation mit ihrem Tode. Die Menschen haben dies sehr wohl bemerkt, Ausdruck davon war, dass die Beteiligung bei den Wahlen zu den Sowjets ins Bodenlose sank. Bei den Wahlen im Herbst 1924 betrug sie auf dem Lande, wo über 70 % der Bevölkerung lebte, noch 15-20 % nach offizieller Schätzung. Die Konzentrierung der Macht zu Gunsten der kleinen Ausschüsse bei gleichzeitiger Einschränkung und Abschaffung der demokratischen Rechte in den Massen- und Parteistrukturen ist unvereinbar mit dem Prinzip der Wählbarkeit von unten nach oben. Es wird folgerichtig ersetzt durch das Prinzip der Ernennung von oben nach unten. Das ist dann die Sekretärsherrschaft, die Herrschaft der verschworenen Cliquen mit allen zwingenden Folgeerscheinungen wie Korruption, Machtmissbrauch, Doppelmoral, Betrügereien, Manipulationen und Fälschungen. Die Ernennungen begannen bereits im Verlaufe des Jahres 1918. Sie nahmen dann aber unabhängig von den objektiven Schwierigkeiten von Jahr zu Jahr zu, exakt in dem Masse wie die demokratischen Rechte in Gesellschaft und Partei abnahmen. Im Jahre 1922 gab es nach Trotzki mehr als zehnmal soviel Ernennungen wie anfangs 1919, als rund 1 Million Soldaten fremder, ausländischer Armeen in Russland standen. Ein sehr anschaulicher Beleg dafür, dass nicht einfach die schwierigen objektiven Umstände für die falsche Entwicklung verantwortlich gemacht werden können. Seit über 90 Jahren hören die Kritiker des leninistischen Dreisatzes Demokratischen Zentralismus, Monolithismus und Substitutionalismus, die alle drei engsten miteinander verbunden sind dieses idiotische Mantra. Der knapp 3 Jahre dauernde Bürgerkrieg hätte ohne Lenins Durchmarsch auf Warschau, ohne das absurde Konzept des Kriegskommunismus und ohne die von Lenin in grotesker Weise verherrlichte Tscheka auf eineinhalb Jahre verkürzt werden können.
Die Tscheka, die allrussische ausserordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage, wurde bereits im Dezember 1917 gegründet. Lenin sah in ihr eines der „wichtigsten Werkzeuge der Revolution“ (!!!) und verherrlichte in äusserst befremdender Art den Terror. Trotzki berichtet in seiner Leninbiographie: „Lenin betonte bei jeder Gelegenheit die absolute Notwendigkeit des Terrors. Da gibt es Revolutionäre, höhnte er, die sich vorstellen, wir sollten die Revolution mit Liebe und Güte vollenden…..Was wird aus der Diktatur werden, wenn man ein Schwächling ist? Solche Tiraden hörten wir ein Dutzend Mal am Tage…..“ Und Steinberg, ein linker Sozialrevolutionär, der bis Brest-Litowsk als Volkskommissar für Justiz der Sowjetregierung angehörte, publizierte ein Telegramm Lenins vom 9. August 1918 an den Sowjet von Nischnij-Nowgorod: In Nischnij-Nowgorod ist ein Aufstand der Weissgardisten in Vorbereitung. Ihr müsst alle Kräfte mobilisieren, ein Triumvirat von Diktatoren ernennen, unverzüglich mit Massenterror einsetzen, hunderte Prostituierte, die Soldaten und Offiziere mit Wodka betören, erschiessen und deportieren. Zögert keinen Augenblick, Hinrichtungen für verborgene Waffen, Massendeportationen von Menschewiki….“
Die Tscheka verfügte über eigene, immer grösser werdende Truppenverbände. Der Geist dieser Truppen aus Berufssoldaten war in erster Linie geprägt durch die äusserst brutale Arbeit der Getreidebeschlagnahmungen während des so genannten Kriegskommunismus. Wer immer auch Einblick in den Stalinschen Massenterror erhält, wird sogleich fassungslos vor der Frage stehen: Mit welchen Mitteln, mit welcher gewaltigen Maschinerie hat Stalin eigentlich unzählige Millionen Menschen erschiessen und umbringen können, in der Zwangskollektivierung, in den Konzentrationslagern und bei den Zwangsumsiedlungen von ganzen Völkern? Welches Killer-Roboters hat er sich da bedient? Wie mächtig und enorm muss die Tötungsmaschine gewesen sein, dass er im Juni des Jahre 1937 beispielsweise selbst Tuchatschewski und 25’000 der höchsten Offiziere der Roten Armee kurzerhand erschiessen konnte? Es war die von Lenin aufgebaute und verherrlichte Tscheka. Als Stalin sie fixfertig übernahm, hat er sie noch vergrössert, aber sie war bereits eine gegen menschliche Regungen immune Maschinerie.
Auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges schlossen die Bolschewiki mit den Anarchisten der strategisch sehr wichtigen Ukraine einen Bündnisvertrag für den gemeinsamen Kampf gegen die Konterrevolution, in welchem die Bolschewiki sich verpflichteten, nach dem Kampf den Anarchisten das Recht zu geben, legal im Lande politisch arbeiten zu können. Unter denen, die den Vertrag auf Seiten der Bolschewiki unterschrieben haben, war neben Frunse, dem Nachfolger Trotzkis als Kriegskommissar auch Bela Kun, der ehemalige Führer der ungarischen Räterepublik von 1919 als Vertreter der 3. Internationale. Er sollte den Anarchisten Vertrauen in die Fähigkeit der Bolschewiki eintrichtern, die Egalitätsprinzipien unter den Arbeitern und Bauern einzuhalten. Nach dem gemeinsamen Sieg der „roten“ und „schwarzen“ Armee gegen die konterrevolutionären Wrangeltruppen im Oktober/November 1920, was faktisch den Bürgerkrieg beendete, hielten die Bolschewiki nicht nur den Vertrag nicht ein, sondern sie nahmen die besten Kämpfer der anarchistischen Bauernbewegung fest, verleumdeten sie in ihrer Presse als Banditen und Diebe und mehrere Hunderte, d.h. die gesamte anarchistische Führung, wurde erschossen. Victor Serge schrieb in seinen Erinnerungen: “Dieses unbegreifliche Verhalten der bolschewistischen Macht, die ihre eigenen Verpflichtungen gegenüber einer revolutionären Bauernminderheit von grenzenlosem Mut zerrissen, hatte eine furchtbar demoralisierende Wirkung…..Der Bürgerkrieg ging zu Ende und die Bauern, durch die Requisition erbittert, kamen zu dem Schluss, dass mit den bolschewistischen Kommissaren keinerlei Verständigung möglich sei.“
Die Folgen waren u.a. die Verstärkung und Ausdehnung von Bauernaufständen, die den Bürgerkrieg unnötig verlängerten. In den fruchtbarsten Anbaugebieten Russlands, in den südöstlich von Moskau gelegenen Gouvernements Tambow und Woronesch z. B. die von A. S. Antonow geführten und nach ihm benannten Bauernrevolte. Diese Bewegung richtete sich zwar vor allem gegen die Getreiderequisitionen unter dem Kriegskommunismus und umfasste zeitweise bis zu 50’000, zum grössten Teil bewaffnete Bauern, aber diese Aufstände waren auch ein Zeichen der vollständig zerstörten Glaubwürdigkeit der Revolutionsregierung. Es war keine bedauerliche Ausnahme und es hatte auch nichts mit der Verteidigung der Revolution zu tun, der Staatsterrorismus gegen die eigene Basis war bereits zur Norm geworden, was auch die Behandlung der gefangengenommenen Kronstädter beweist. Viktor Serge schrieb: „Hunderte von Gefangenen wurden nach Pedrograd gebracht und der Tscheka übergeben, die sie noch Monate später, in kleinen Partien dumm und verbrecherisch erschoss. Diese Besiegten gehörten mit Leib und Seele der Revolution, sie hatten das Leiden und den Willen des russischen Volkes ausgedrückt, die NEP gab ihnen recht, sie waren schliesslich Gefangene des Bürgerkrieges, und die Regierung hatte ihnen seit langem die Amnestie versprochen, wenn sie sich ihr anschlössen.“
Wer hatte diese Massaker angeordnet? War es einer dieser Briefe von Lenin? War es ein geheimer Beschluss des 5-köpfigen Politbüros? Waren es die 200’000 Mitglieder der Partei? So auf jeden Fall sah der von den Sektierern noch heute verehrte demokratische Zentralismus in der Praxis aus. „Eine abstrakte Wahrheit gibt es nicht, die Wahrheit ist immer konkret,“ schrieb Lenin bereits im Jahre 1904 und führte diesen von ihm so genannten „Hauptgrundsatz der Dialektik“ bei jeder Gelegenheit ins Felde. Ja allerdings, in diesem Punkt geben wir Lenin recht, nur gilt das auch für seinen demokratischen Zentralismus!!

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