Die für schweizerische Verhältnisse beeindruckende Beteiligung von überwiegend jungen Menschen am Frauen*streik und an der Umweltbewegung zeigt, dass wieder mehr Menschen bereit sind, aktiv zu werden und sich kollektiv für politische Anliegen zu organisieren. Vor allem die linken und systemkritischen Kräfte in diesen Bewegungen nehmen gegenüber Parteien eine skeptische oder ablehnende Haltung ein. Die Angst vor Vereinnahmung und dem Versuch, Bewegungen für Wahlerfolge und Parteiinteressen zu instrumentalisieren, ist mehr als berechtigt. Mit dem folgenden Artikel möchte ich aufzeigen, warum wir als Aktivist*innen der Bewegung für den Sozialismus dennoch versuchen sollten, auf die Entstehung einer revolutionär-sozialistischen Partei hinzuarbeiten. Ferner möchte ich darlegen, unter welchen Bedingungen sich linke Parteien und soziale Bewegungen positiv ergänzen können.
von David Ales (BFS Basel)
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Parteien sind nicht per Definition auf Wahlen, Parlamentssitze und Regierungsposten ausgerichtet. Sie trachten auch nicht automatisch danach, autoritär und von oben nach unten zu funktionieren. Dass die meisten Menschen bei Parteien an die grossen «Volksparteien» (SVP, SP, FDP usw.) denken, hängt damit zusammen, dass diese Träger von politischen Programmen und Gesellschaftsanalysen sind, die in unserer Gesellschaft derzeit sehr dominant sind. Das Spektrum der «radikalen Linken» ist derzeit noch viel zu schwach und zu fragmentiert, um eigene widerständige Organisationen hervorzubringen, die politisch relevant sind. Das könnte sich aber ändern.
Was sind Parteien?
Parteien sind zunächst einmal nicht mehr als eine Form der politischen Organisation, in der sich Menschen mit gleichen oder ähnlichen Überzeugungen zusammenschliessen, um gemeinsam für ihre Ziele einzustehen. Diese Definition macht deutlich, dass Parteien nicht nur eine systemerhaltende, sondern auch eine systemkritische Rolle entfalten können. Ausschlaggebend ist die politische Ausrichtung und die Funktionsweise der jeweiligen Organisation. Dass historisch gesehen die Mehrheit der linken (und rechten) Parteien autoritär und undemokratisch funktioniert haben und dies weiterhin tun, ist kein Beweis dafür, dass Parteien immer so sind. Klar ist aber: Wenn sich Menschen mit autoritärem und undemokratischem Gedankengut zusammenschliessen, so drückt sich dies auch in ihren jeweiligen Parteien (und von ihnen geführten Regierungen) aus. Die von linken Aktivist*innen oft gezogene Schlussfolgerung, wonach sich Parteien «automatisch» negativ auf demokratische Aushandlungsprozesse auswirken, ist auf Grund der historischen Erfahrungen zwar verständlich, aber verwechselt im Grunde Ursache (autoritäres Politikverständnis) und Wirkung (autoritäre Partei).
Sich als Klasse verstehen
Als Marxist*innen sind wir der Meinung, dass die kapitalistische Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist. Vereinfacht gesagt, liegt die ökonomische (und teilweise auch politische) Macht in den Händen einer besitzenden und wohlhabenden Minderheit, der Klasse der Kapitalist*innen. Die Mehrheit der Menschen hingegen besitzt keine eigenen Produktionsmittel und muss ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben. Sie bildet so die Klasse der Lohnabhängigen. Die Geschichte zeigt, dass die ungleiche Verteilung von Reichtum, Wohlstand und politischer Mitbestimmungsmöglichkeit immer wieder zu Konflikten führt: zu Klassenkämpfen. Antrieb dieser Auseinandersetzungen sind dabei nicht nur die Ungleichheit zwischen den beiden Klassen, sondern auch solche innerhalb der Klassen: Akademiker*innen verdienen mehr als Reinigungskräfte; Lohnabhängige mit Schweizer Pass haben mehr Rechte als diejenigen ohne; Frauen* verdienen weniger als Männer* und leisten mehr unbezahlte Arbeit, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn sich also die Angestellten einer Firma für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen einsetzen, Geflüchtete für würdige Lebensbedingungen kämpfen, Frauen* feministische Anliegen formulieren oder die Klimabewegung gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Konzerne kämpft, sind das für uns verschiedene Formen des Klassenkampfes. In ihnen sehen wir das Potential, sich gegen die kapitalistische Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen und sich solidarisch und kollektiv als Klasse der Lohnabhängigen zu organisieren. Um dies aber zu ermöglichen, ist es wichtig, auf die gemeinsamen Anliegen und Interessen der verschiedenen Bewegungen aufmerksam zu machen. Als Aktivist*innen der BFS versuchen wir nicht nur, uns an Arbeitskämpfen sowie feministischen, antirassistischen oder Umweltbewegungen zu beteiligen, sondern darüber hinaus auf die Bildung eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse der Lohnabhängigen hinzuarbeiten.
Selbstemanzipation statt Stellvertretung
«Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein», hielten Marx und Engels schon 1879 fest. Wir glauben, dass dieser Grundsatz richtig ist. Die Rolle revolutionärer Parteien sollte es niemals sein, sich als Stellvertreterin der Klasse der Lohnabhängigen zu sehen. Vielmehr geht es darum, sich in sozialen Bewegungen zu engagieren und als organisierte Kraft eigene Analysen, Erfahrungen und Ideen zur Debatte zu stellen. Revolutionäre Parteien können so dazu beitragen, den verschiedenen sozialen Bewegungen eine politische Form zu geben und sie zu vernetzen. Die Aufgabe revolutionärer Parteien ist es also gerade nicht, sich an die Stelle der Lohnabhängigen oder sozialer Bewegungen zu setzen und als vermeintlich aufgeklärte Minderheit «in ihrem Sinne» zu handeln. Stattdessen sollten sie ein Instrument sein, in dem sich verschiedene Teile der Lohnabhängigen und Bewegungen organisieren, voneinander lernen, Erfahrungen austauschen und miteinander Perspektiven über den Kapitalismus hinaus entwickeln. Schon 1848 drückten Marx und Engels dieses Anliegen im Kommunistischen Manifest aus, als sie betonten, dass die Kommunist*innen «keine sektiererischen Prinzipien [aufstellen], wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.»
Die Partei als kollektives Gedächtnis
Die letzten Jahrzehnte haben eine Vielzahl an sozialen Bewegungen hervorgebracht. Die Antiglobalisierungsbewegung der 90er Jahre, die massiven Mobilisierungen gegen den Irakkrieg ab 2002, die ab 2011 in zahlreichen Ländern aktive Occupy-Bewegung mit dem bis heute verwendeten Slogan «We are the 99%» sowie die Frauen- und die Umweltbewegung der jüngsten Zeit sind einige wichtige Beispiele. Die historische Erfahrung zeigt, dass solche Massenmobilisierungen unterschiedlich lange wirkmächtig bleiben und irgendwann – sofern sie keinen durchschlagenden Erfolg haben – auch wieder an Schwung verlieren, im schlimmsten Fall von der Bildfläche verschwinden. Revolutionäre Parteien können diesen Prozess in der Regel nicht aufhalten, aber sie können versuchen, sich mit Aktivist*innen aus diesen Bewegungen zu vernetzen und so als eine Art kollektives Gedächtnis zu fungieren. Sofern sie wirklich Teil von sozialen Mobilisierungen sind, können revolutionäre Parteien also aus ihnen lernen und die daraus gewonnenen Erfahrungen für künftige Herausforderungen lebendig halten.
Revolutionäre Parteien als Instrument gegen die herrschende Ideologie
Der italienische Marxist Antonio Gramsci beschäftigte sich ab den 1920er Jahren mit der Frage, warum im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zwar 1917 in Russland eine Revolution stattgefunden hatte, in anderen Ländern aber mit einer stärkeren Arbeiter*innenbewegung wie beispielsweise Deutschland oder Italien revolutionäre Erhebungen niedergeschlagen wurden. Eine seiner wichtigsten Erkenntnisse bestand darin, dass erfolgreiche (kapitalistische) Herrschaft nicht nur auf Zwangsapparaten wie Militär und Polizei basiert, sondern auch auf der Zustimmung breiter Bevölkerungsteile. Die Klasse der Kapitalist*innen ist ökonomisch gesehen eine kleine Minderheit. Aber es ist ihr gelungen, in der «bürgerlichen Gesellschaft» über ihren engen Kreis hinaus Verbündete zu finden, die ihre Weltsicht teilen und so mit ihr politische Hegemonie (Vorherrschaft) ausüben. Diese Vorherrschaft basiert auf gemeinsamen Überzeugungen, die als herrschende Ideologie (Denkweise) von Intellektuellen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Lehrer*innen, Medienschaffenden bis hin zum Stammtisch täglich hervorgebracht und weiterentwickelt wird. Die herrschende Ideologie, oder das, «was die Leute so denken», kommt also nicht nur von oben, sondern aus der ganzen Gesellschaft.
Ob eine Partei wirklich einen emanzipatorischen und revolutionären Charakter hat, ist keine Frage ihres Selbstverständnisses, sondern eine Frage der Praxis.
Diese Erkenntnis ist wichtig, weil aus ihr folgt, dass sich unser Kampf gegen den Kapitalismus nicht auf die Sicherheitsapparate und die Repression konzentrieren sollte, sondern in erster Linie ein Projekt der Infragestellung der herrschenden Ideologie ist. Auch in der Schweiz stehen Militär und Polizei allzeit bereit, um gegen aufständische Elemente vorzugehen, historisch haben sie dies immer wieder unter Beweis gestellt. Doch der eigentliche Kitt, der die kapitalistische Gesellschaft zusammenhält und diese oft als unangefochten erscheinen lässt, ist eben die herrschende Ideologie: Die Vorstellung, dass die «freie Marktwirtschaft» eine natürliche Ordnung ist, zu der es keine bessere Alternative gibt; dass sich Menschen ganz automatisch in der bürgerlichen Kleinfamilie und in Nationalstaaten organisieren sollten; dass Armut, Gewalt, Umweltzerstörung und Krieg nun mal zur menschlichen Existenz dazugehören. All dies sind gesellschaftlich tief verankerte Vorstellungen, die es aus linker Sicht unermüdlich in Frage zu stellen gilt. In diesem Prozess können Parteien eine wichtige Rolle spielen. Im Sinne Gramscis sind Parteien keine technischen Apparate oder Wahlmaschinen, sondern gesellschaftliche Kräfte, die darum bemüht sind, auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen, indem sie Bündnisse eingehen, politische Programme entwickeln, Debatten lancieren, Meinungen machen, Alltagspraxen mitgestalten. Für revolutionäre Parteien besteht die Hauptaufgabe letztlich darin, der durch die herrschende Ideologie und Politik verursachten Spaltung der Lohnabhängigen entgegenzuwirken und ihr ein eigenes alternatives Projekt – sozusagen eine Gegenideologie – entgegenzustellen. Dieses Projekt kann niemals nur auf dem Papier in Form einer revolutionären Theorie bestehen, sondern muss sich in einer eigenen politischen Praxis, Bildung und Gegenkultur beweisen und artikulieren. Längerfristig müssen revolutionäre Parteien in der Lage sein, auf politischer, kultureller und intellektueller Ebene eine gesamtgesellschaftliche Alternative zu entwerfen, die genügend Überzeugungskraft hat, um die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen.
Die Partei als Versuch, Theorie und Praxis näherzubringen
Gerade wenn es darum geht, alternative Konzepte auch praktisch werden zu lassen, stehen revolutionäre Parteien in der Verantwortung. Eine Partei, die ein feministisches Programm vertritt, kann dies nur dann glaubwürdig tun, wenn sie es schafft, den Kampf um Gleichberechtigung und gegen Geschlechterdiskriminierung auch in «ihren eigenen Reihen» zu führen. Eine Partei, die für eine Gesellschaft kämpft, in der das bürgerliche Verhältnis von «Führenden» und «Geführten» überwunden werden soll, muss auch intern zu einer Praxis finden, die all ihre Mitglieder theoretisch und praktisch stärkt und befähigt, mitzudiskutieren und mitzuentscheiden. Eine Partei mit revolutionär-sozialistischem Anspruch schliesslich, die für eine Gesellschaft kämpft, in der die politische Macht von der Gesamtheit der Lohnabhängigen ausgeht, muss schon heute beweisen, dass sie in der Lage ist, nicht nur (meist männliche und weisse) Akademiker*innen zu organisieren, sondern Lohnabhänige in verschiedenen Lebenslagen, mit und ohne Kinder, mit und ohne Schweizer Pass, mit und ohne Hochschulbildung. Auch wichtige linke Prinzipien wie dasjenige der internationalen Solidarität dürfen sich nicht auf Demoparolen beschränken, sondern müssen sich in konkreter Solidaritätsarbeit mit emanzipatorischen Bewegungen weltweit zeigen. Kurz gesagt: Ob eine Partei wirklich einen emanzipatorischen und revolutionären Charakter hat, ist keine Frage ihres Selbstverständnisses, sondern eine Frage der Praxis.
Die BFS ist derzeit noch weit davon entfernt, eine organisierte revolutionäre Kraft zu sein. Um zu einer solchen zu werden, braucht es nicht nur eine kontinuierliche Aufbau- und Bildungsarbeit, die Verständigung auf gemeinsame Überzeugungen und Strategien sowie die Etablierung basisdemokratischer Strukturen. Linke Projekte können immer nur dann wachsen, wenn gesellschaftliche Gruppen politisch aktiv werden, Massenbewegungen entstehen und echte politische Auseinandersetzungen stattfinden. Dennoch geht es schon heute darum, im Kleinen Erfahrungen zu sammeln, gemeinsam zu analysieren, neue Protestformen zu finden, Perspektiven zu entwickeln.
Für Gramsci waren übrigens alle Menschen parteiisch – ob gewollt oder nicht. Sich nicht zu positionieren und zu versuchen, gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen fernzubleiben, bedeutete für ihn nicht weniger, als letztlich für die Herrschenden Partei zu ergreifen. Politische Abstinenz setzte er mit einer Art «passiver Zustimmung» gleich, weil Nichtstun letztlich bedeutet, die bestehenden Verhältnisse zu akzeptieren. Der Historiker Howard Zinn drückte dies ganz ähnlich aus: «You Can’t Be Neutral On a Moving Train».