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Schweizer Imperialismus: Eine marxistische Interpretation

Ist die Schweiz imperialistisch? Ein Land, in dem ein Selbstbild der humanitären Tradition, des vernünftigen Ausgleichs, des Pazifismus und der politischen Neutralität hochgezüchtet wird, in dem es scheinbar allen gut geht, eine starke «Mittelschicht» dafür sorgt, dass alles im Lot bleibt? Ein Land, das sich gerne als «Erfolgsmodell» sieht? Im Folgenden wollen wir dieser Frage nachgehen. (1)

von Willi Eberle (BFS Zürich)

Imperialismustheorien und die Schweiz

Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fand eine nachhaltige und tiefgehende Veränderung des Kapitalismus statt: Die moderne Staatenbildung akzentuierte sich. Die politischen Strukturen bildeten sich heraus, um die internationale Konkurrenz und den Klassenkonflikt politisch auf neue Grundlagen zu stellen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden diese Veränderungen auch von bürgerlichen Theoretiker:innen noch offen und unverblümt debattiert. Damals standen diese Veränderungen auch im Zentrum der marxistischen Debatten um revolutionäre politische Strategien. In der Schweiz, die bereits damals eine besondere Rolle in der sich herausbildenden imperialistischen Ordnung der Mehrwertaneignung und -verwaltung spielte, wurde dies beispielsweise durch den bürgerlichen Ökonomen Richard Behrendt 1931 und durch den Kommunisten Pollux, Georges Baehler, in den 1940er Jahren geleistet.

Die Schweizer Industrie produzierte bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts mehr für den Export als für den Binnenmarkt. Die Schweizer Handelsgesellschaften hatten seit längerem eine solide Verankerung rund um den Globus und Teile der Industrie und die Banken begannen zunehmend, international eine herausragende Rolle zu spielen. Die Arbeiter:innenklasse war kämpferisch wie anderswo. Diesem Kampfgeist wurde durch die Unternehmer:innenschaft einerseits mit Repression, andererseits mit Kooptation begegnet. Und – ebenfalls wie andernorts in Europa und den USA – wurde mit der geförderten Immigration von billigeren Arbeitskräften die Löhne gedrückt.

Was die Schweiz aber bereits damals von den führenden imperialistischen Staaten – Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Russland, Belgien, den USA und anderen – unterschied, war, dass der Militarismus innenpolitisch zwar eine wichtige Rolle spielte, sie aber über keine Kolonien verfügte. Die politischen Eliten beriefen sich seit fast fünf Jahrhunderten auf die politische Neutralität. Ab dem späten 19. Jahrhundert hatten die Banken innenpolitisch die Führung übernommen. (2) Zudem waren die grossen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung über ihre Führungen spätestens seit dem Ersten Weltkrieg in die politische Ordnung der Klassenzusammenarbeit eingegossen. Das heisst, die Gewerkschaftsführungen und die Sozialdemokratie setzten auf Möglichkeiten von Vereinbarungen mit den Unternehmer:innen und deren Organisationen und nicht auf die Stärkung der Kampfkraft der Arbeiter:innenbewegung. Die revolutionären Erhebungen seit dem Ersten Weltkrieg in Europa scheiterten letztendlich an dieser politischen Grundkonstellation der Hegemonie des Reformismus. Ähnliches spielte sich in allen wichtigen Staaten Europas ab, aber in der Schweiz wurden die Fäden der Klassenzusammenarbeit besonders dicht und tief in das gesellschaftliche und politische Funktionieren hineingewoben. Dies vor dem Hintergrund eines äusserst stabilen inneren Zusammenhaltes der Bourgeoisie, der sich darauf stützt, dass die Schweiz von den Zerstörungen und tiefen Krisen, wie sie andere Staaten im 20. Jahrhundert durchlebt hatten, verschont blieb.

In der marxistischen Linie der Imperialismustheorien stand diese Problematik des Reformismus und der Klassenzusammenarbeit implizit oder explizit im Zentrum des Interesses. Bei Lenin wird die Auseinandersetzung mit dem Reformismus durch die Diagnose eines «verfaulenden Kapitalismus» und der «Aktualität der Revolution» beschrieben. In dieser Sicht besteht die soziale Basis des Reformismus aus einer Schicht mehr oder weniger privilegierter Werktätigen, der sogenannten Arbeiteraristokratie – nach heutiger Terminologie der Mittelschichten – und aus politisch eher konservativen Teilen der Arbeiter:innenschaft. Diese Schichten wollen keinen Bruch mit den Unternehmer:innen und ihrem Staat. Die Bürokratien der Arbeiter:innenorganisationen stützen sich teilweise auf diese eher retardierenden Teile. Sie haben aber auch eigene Interessen, die sie an die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie binden, auch wenn dabei wichtige materielle Interessen der grossen Mehrheit der Werktätigen verletzt werden. Dieser Aspekt ist in der Periode der neoliberalen Offensive geradezu kennzeichnend für die Krise der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung. Die Pfeiler dieser Klassenzusammenarbeit sind in der Schweiz die Sozialpartnerschaft mit der absoluten Friedenspflicht und die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie.

Ende September 2020 traten die Mitarbeiter:innen der Logistik-Firma XPO in den Streik. Sie wehrten sich gegen die Schliessung der Genfer Niederlassung und damit der Entlassung aller Angestellten.

Die Schweiz im Imperialismus: Ein «Erfolgsmodell» für wen?

Die marxistische Imperialismus-Theorie interessierte sich schon immer für die Formen von politischer Herrschaft und ihrer Institutionen, für die Dynamik der kapitalistischen Konkurrenz im Staatensystem als Konflikt um die Kontrolle über Märkte und für die Frage, wie diese Herrschaft im Interesse der massgeblichen Kapitalfraktionen über die Grenzen des Landes ausgedehnt werden kann. Kurzum, die marxistische Imperialismus-Theorie bemüht sich darum, die historische Entwicklung des Kapitalismus im grösseren Zusammenhang auf globaler Ebene zu verstehen (Callinicos, 67). Letztendlich geht es um die Kontrolle der Produktion und Akkumulation von Mehrwert im globalen Massstab. (3)

In diesem allgemeinen Sinne muss von einem Schweizer Imperialismus gesprochen werden. So sind pro Kopf die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) bedeutender als in jedem anderen Land und ihr Wachstum verlief über die vergangenen Jahrzehnte überdurchschnittlich. Dies bedeutet, dass im helvetischen Kapitalismus pro Kopf mehr Mehrwert akkumuliert wird als anderswo. Und dies liegt an der ausserordentlich hohen Konzentration von multinationalen Konzernen. Letztere sind die eigentlichen Gewinner der neoliberalen Offensive, die in den 1970er Jahren einsetzte.

In diesem Zusammenhang ist auch die starke Entwicklung des globalen Handels und der Freihandelsverträge vor allem ab dem Beginn der 1990er Jahre zu erwähnen. Zwischen 1970 und 2000 ist das Volumen des Welthandels um den Faktor 24 gestiegen, das Volumen des Handels mit Halbfabrikaten gar um den Faktor 100! Dies ist ein starkes Indiz für das Vorantreiben der internationalen Arbeitsteilung entlang einer Optimierung und Ausdifferenzierung der globalen Wertschöpfungsketten. Das global operierende Kapital hat über die vergangenen vier bis fünf Jahrzehnte seine Möglichkeiten ausgebaut, gerade auch über eine Neuausrichtung der Produktions- und Verteilungsketten, die Produktion dort zu platzieren, wo die Kosten insbesondere die Löhne am tiefsten und weitere Bedingungen (Rechtssicherheit, berufliche Qualifikationen, politische Stabilität, Steuern, fortgeschrittene Liberalisierung des Arbeitsmarktes, geringe Umweltstandards, Repression von Gewerkschaften etc.) optimal sind. Diese Neuausrichtung der Produktions- und Verteilungsketten ermöglichte eine überdurchschnittliche Akkumulation von Mehrwert für wenige hundert Multinationale Konzerne.

Die erhöhte Ausbeutung der Lohnabhängigen wurde aufgrund der neuen Kräfteverhältnisse auch in Europa und den USA durch eine forsche Durchsetzung von Programmen des Sozialabbaus, Massenentlassungen und Lohnsenkungen umgesetzt. Die Führungen der wichtigsten Organisationen der Arbeiter:innenbewegung – der Sozialdemokratie, der Kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften – leisteten meist kaum Widerstand dagegen oder waren, sofern in der Regierung, eifrig damit beschäftigt, solche Programme selbst durchzusetzen und gegenüber ihrer Basis zu vertreten. Tragische Beispiele sind etwa die Agenda 2010 und Hartz IV durch die sozialdemokratische Regierung in Deutschland (2003) und die Umsetzung der harten Abbauprogramme in Griechenland durch die Syriza-Regierung (2015) oder der aktuellen «linken» Regierungen in Spanien und Portugal. All dies in der Hoffnung, dadurch von der Bourgeoisie respektiert zu werden und «Schlimmeres verhindern» zu können. Dieser Prozess beschleunigte sich in den 1990er Jahren, vor allem auch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Anschluss der DDR an die BRD und die Herausbildung der Europäischen Union und deren Osterweiterungen mit dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt.

Dieser wachsende strukturelle Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen in Europa und den USA lässt sich gut veranschaulichen an der Entwicklung der globalen Lohnquote, das heisst des Anteils der Löhne am Bruttoinlandprodukt (BIP). Diese hat sich im Verlaufe der vergangenen vier Jahrzehnte weltweit im Durchschnitt von etwa 70 % auf unter 60 % verringert. In der Schweiz war diese Senkung der Lohnquote weniger dramatisch, unter anderem weil der Anteil der oberen Lohnsegmente aufgrund der überdurchschnittlichen Präsenz von Konzernzentralen und Banken stark gewachsen ist. Also aufgrund der Rolle der Schweiz im Imperialismus.

Was ist die Bewegung für den Sozialismus?

Für diese Konzernzentralen ist die Schweiz attraktiv. Dies liegt nicht nur an den ausserordentlich tiefen Steuerregimes für Unternehmen und Reiche. Wichtige Faktoren sind auch die Stabilität der Politik, der Währung, ein sehr gut ausgebauter Schutz des Eigentums, eine moderne und durch den Staat zur Verfügung gestellte Infrastruktur, die Nähe der Hochschulen zum Arbeitsmarkt, ein ausgefeiltes Patentrecht, ein liberaler Arbeitsmarkt ohne Kündigungsschutz, hoch entwickelte Mechanismen der Klassenzusammenarbeit sowie eine vergleichsweise tiefe Staatsverschuldung. Seit über zwanzig Jahren rangiert die Schweiz auf den allerobersten Plätzen der WEF-Rangliste der weltweit unternehmensfreundlichsten Länder, verfügt über eine sehr breite Mittelschicht mit einer guten Ausbildung, eine gute Infrastruktur für Verkehr, Telekom, Wasser- und Energieversorgung, ein sehr gutes Bildungssystem und so weiter. Sie steht aber auch an der Spitze bei der Ungleichverteilung. Der Reichtum der Reichsten hat stark zugenommen: Das Vermögen der oberen 1% hat sich seit 1990 versiebenfacht. Die Frankenrendite liegt über jener anderer wichtiger Währungen, und pro Kopf der Bevölkerung wird von Schweizer Banken der höchste Betrag an ausländischem Vermögen verwaltet (mehr als das Fünffache des BIP). Damit hat der helvetische Kapitalismus in den vergangenen 25 Jahren seine Position in der globalen Konkurrenz gegenüber anderen Staaten im Kontext der Krisen um 2000/2002, 2008/2009, 2015 und vermutlich auch 2020 stark ausgebaut.

Für die Reichen, die Reichsten und die Unternehmen ist die Schweiz also ein «Erfolgsmodell». Hier werden sie am tiefsten besteuert, können auf eine solide Erhöhung ihres Reichtums und ein sehr wohlwollendes politisches Umfeld zählen. Hierzulande besitzt 1% der Bevölkerung über 40% des Reichtums. Zugleich verdienen jedoch auch 8% der arbeitenden Bevölkerung derart tiefe Löhne, dass sie selbst mit einem stark eingeschränkten Lebensstil damit nicht über die Runden kommen.

Und die Lohnabhängigen?

Aufgrund der grossen materiellen Bedeutung von multinationalen Konzernen fliesst auch überdurchschnittlich viel des global erbeuteten Mehrwerts in die Schweiz. Dies schlägt sich auch in einer im internationalen Vergleich sehr tiefen Arbeitslosigkeit, kaum sichtbarer absoluter Armut und einer sehr breiten Mittelschicht nieder. Es existiert ein über die vergangenen vier Jahrzehnte angewachsenes Segment von gut bis sehr gut verdienenden Arbeitenden. Vor allem im Vergleich mit anderen imperialistischen Ländern, wo sich unter den Lohnabhängigen breite Verarmungstendenzen verfestigen. Nichtsdestotrotz gibt es in der Schweiz ca. 8% Working Poor.

In den vergangenen 25 Jahren kam es in mehreren Schüben zu bedeutenden Verschlechterungen im politisch-sozialen Kräfteverhältnis. Dies wurde beispielsweise 2015 (Frankenschock) sichtbar, als es zu weit über 20`000 Entlassungen und breiten zeitweiligen Lohnsenkungen und Arbeitszeiterhöhungen im Einverständnis mit den Gewerkschaften kam. In der aktuellen Krise wird damit gerechnet, dass zwischen Mitte 2019 und Mitte 2020 mindestens 70`000 Stellen verloren gegangen sind. Die Kurzarbeit geht zu Lasten der Arbeitslosenversicherung und der Lohnabhängigen, die häufig Lohneinbussen in Kauf nehmen müssen. Das politische System bestätigt bislang weitgehend die Interessen der Schweizer imperialistischen Bourgeoisie.

In Zeiten von starkem Wachstum wie beispielsweise Ende der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre konnten die Arbeitenden teilweise von den Produktivitätsgewinnen profitieren. Dies zeigt sich daran, dass zwischen 1950 und 1970 die Löhne real um 70% und die Profite um 195% gewachsen sind. Diese punktuelle Teilhabe der Werktätigen an den Produktivgewinnen mittels Lohnerhöhungen hat seit der neoliberalen Wende in den 1970er Jahren abrupt aufgehört. Es wird davon ausgegangen, dass in den vergangenen 30 Jahren die Produktivitätsgewinne über 50% betrugen, während die real verfügbaren Einkommen alles in allem für die grosse Mehrheit der Arbeitenden jedoch nur leicht gewachsen sind. Diese Entwicklung wäre mit einer kämpferischen Politik der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie für die Lohnabhängigen deutlich besser gewesen.

Da es in der Arbeiter:innenschaft jedoch kaum wirksame politische Widerstandsstrukturen gegen die neoliberalen Angriffe, hingegen starke und historisch durch das Kapital befeuerte fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen gibt – wie in anderen imperialistischen Staaten – , hat sich ab den späten 1980er Jahren um die Schweizerische Volkspartei (SVP) eine Neue Rechte entwickelt. Denn der Rassismus – als hässlicher Zwilling des Nationalismus – schafft ideologisch und politisch eine irrationale politische Solidarisierung der Werktätigen in einem Land mit «ihren» Kapitalist:innen. Demgegenüber wird die Solidarität unter den Lohnabhängigen, unter den Mieter:innen, den Konsument:innen usw. durch die Logik der Konkurrenz laufend zerstört.

Was tun: Vom Widerstand zur Revolution

Die vergangenen 25 Jahre sind weltweit durch drei Wellen sehr starker sozialer Erhebungen gekennzeichnet: Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre der europäisch/lateinamerikanische Zyklus und die Antiglobalisierungsbewegung, 2008 bis ca. 2012 der mediterrane Zyklus – z.B. in Aegypten, Griechenland, Spanien, Frankreich und anderen Länder im Mittelmeerraum – und die Occupy-Bewegung. 2020 befinden wir uns in einem Zyklus, der ca. 2017 einsetzte und von Aufständen gegen die zerstörenden Auswirkungen der neoliberalen Offensive rund um den Globus gekennzeichnet ist.

Diese sozialen Erhebungen führten nach einigen Anfangserfolgen fast immer in schwere politische – und damit soziale – Niederlagen, vor allem in Europa, den USA, in Lateinamerika und in Nordafrika. Dabei wurde die neoliberale Offensive weltweit verstärkt vorangetrieben: Marktliberalisierungen, Privatisierungen, Sozialabbau, ökologische Verwüstungen, Kriege, gewaltsame Vertreibung von Menschen, grossflächige Verarmungsprozesse, Verschärfung von unterdrückerischen und repressiven Tendenzen sind die Folgen dieser Niederlagen. Das heisst, es tobt weltweit ein verschärfter Klassenkampf.

Die progressiven Bewegungen sind vielfältig und sehr oft radikal: Sie entzünden sich an unerträglichen Missständen und wollen sofortige Besserung und fordern damit die bestehenden bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse, das heisst das Privateigentum und den bürgerlichen Staat, heraus. Weltweit wurden durch sie über die vergangenen 25 Jahre zahllose Regierungen gestürzt. Was dann kam, war oft noch schlimmer. An vielen Orten traten linke Regierungen an, die den Ausgleich mit den alten Eliten suchten – beispielsweise in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Venezuela, Ecuador, Spanien, Frankreich, Griechenland. In Europa regierte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in elf von fünfzehn Ländern die institutionelle Linke – und trieb die neoliberalen Gegenreformen kräftig voran. Auch in der Schweiz: Damals kam es zu ersten Abbaumassnahmen in der Altersvorsorge und dem Service Public, die Mehrwertsteuer wurde eingeführt und grosse Steuerreformen zugunsten der Reichen und der multinationalen Konzerne wurden unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung durchgezogen. Die unsoziale Finanzierung der Gesundheitsversorgung mittels Kopfprämien wurde damals verallgemeinert.

Eine zentrale Rolle bei der politischen Umsetzung dieser Offensive spielte bis anhin der Reformismus und ab den 1990er Jahren der sogenannte Neoreformismus, der in verschiedenen Ausformungen in der radikalen Linken Fuss fasste. Derweil wuchs die sogenannte Neue Rechte und selbst neue Erscheinungsformen des Faschismus erhoben ihr Haupt.

Diese Neue Rechte wird in der Schweiz durch die Schweizerische Volkspartei (SVP) verkörpert. Sie entwickelte sich in der Schweiz um diejenigen Interessen in der Bourgeoisie, die auf keinen Fall in eine Dynamik eingebunden werden wollen, die den Interessen des US-Imperialismus entgegengesetzt ist; vor allem die Finanzindustrie und die Pharmaindustrie, die Informatik und auch Teile der Autobranche sind eher auf die USA als auf die EU ausgerichtet. Die Ablehnung der Integration in die EU war und ist auch nach der deutlichen Ablehnung der Kündigungsinitiative der SVP vom 27. September 2020 weiterhin ein zentraler Pfeiler des politischen Aufbauprojektes der SVP. Christoph Blocher, deren jahrzehntelanger Chef, und sein Umfeld aus den 1980er Jahren haben zentrale wirtschaftliche Interessen in diesen Bereichen. Zudem verkörpern sie eine Fraktion der Schweizer Bourgeoisie, der die Kosten für die Klassenzusammenarbeit in Europa zu hoch sind, und die sich eher am aggressiv klassenkämpferischen US-amerikanischen Modell orientieren, bei dem diese Kosten um einiges tiefer liegen als im europäischen Modell.

Vor welche Aufgaben stellt uns diese Entwicklung als revolutionäre Linke? Wir sehen drei grosse Herausforderungen:

1. Die Anliegen dieser Bewegungen müssen mit den Sorgen der Arbeits- und Lebensrealität der Werktätigen verbunden werden. Dies ist angesichts der sogenannten «Corona-Krise» besonders wichtig, da die Schweizer Bourgeoisie wie ihre Klassengenoss:innen rund um den Globus diese Krise erklärtermassen möglichst auf Kosten der Arbeiter:innenklasse, das heisst der grossen Mehrheit der Bevölkerung, lösen will. Zehntausende von Jugendlichen in der Schweiz haben nach ihrer Ausbildung diesen Herbst keine Stelle gefunden. Gleichzeitig macht die Jugend den Lebensnerv der radikalisierten Sektoren in den sozialen Bewegungen aus. Sie sucht radikale Lösungen für ihre Zukunft.

Gleichzeitig gibt es in den Gewerkschaften vereinzelte Zusammenhänge von linken Kräften, die eine organische Verbindung zu radikaleren Teilen in den progressiven Bewegungen suchen. Sie sind sich der fatalen Auswirkungen der absoluten Friedenspflicht auf die Gewerkschaften und vor allem auf die Arbeiter:innenklasse bewusst. Sie geraten denn auch da und dort in Konflikt mit ihren obersten Gremien. Ein beredtes Beispiel ist ihre scharfe Massregelung durch die Gewerkschaftsführungen, als das durch linke Zusammenhänge in den Gewerkschaften getragene Referendum gegen den Abbau der Altersvorsorge («Plan Berset») in der Volksabstimmung 2017 einen Sieg errang.

Zudem gibt es immer wieder Ansätze aus radikalisierten Sektoren der Arbeiter:innenklasse, die eine organische Verbindung zu den progressiven sozialen Bewegungen suchen. Ein aktuelles Beispiel ist Workers for Future, eine Gruppe, welche die Klimabewegung mit den Fragen der Arbeitsrealität und den Fragen der Herrschaft über den gesellschaftlichen Produktionsprozess in Zusammenhang bringen will. Auch in der Feministischen Bewegung gibt es Segmente, die sich explizit aufgrund von Erfahrungen am Arbeitsplatz radikalisieren und organisieren und den Bezug zu anderen sozialen Bewegungen suchen. Beispiele hierfür sind die Kinderbetreuer:innen der Trotzphase in Zürich oder die Gruppe «Care Work Unite» des Frauen:streikkollektivs Zürich.

Die Klimajugend sucht radikale Antworten: Besetzung des Bundesplatzes im Herbst 2020 vor dem Bundeshaus in Bern, dem Sitz der Schweizer Regierung.

2. Der Schluss drängt sich auf, dass eine organisierte Sichtbarkeit von politischen und sozialen Forderungen, die die Bewegungen beflügeln können, notwendig wäre. Dies läuft auf die traditionelle Orientierung eines Aufbaus klassenorientierter, revolutionärer Organisationen hinaus, jenseits aller Mechanismen der Klassenzusammenarbeit, wie sie durch die Übernahme von Regierungsverantwortung, Sozialpartnerschaft und dergleichen verkörpert werden. Dies scheint ein Erfordernis der Stunde zu sein, um dem teilweise starken Einfluss der Mittelschichten und damit den Mechanismen der Vereinnahmung der Bewegungen durch die Bourgeoisie etwas entgegensetzen zu können.

Auf diesem Weg lassen sich vorläufig zwar keine Massenparteien aufbauen. Aber mittelfristig könnten schwere politische und soziale Rückschläge zumindest abgemildert werden; die Bewegungen würden nicht spurlos zusammenbrechen und ein politisches Trümmerfeld hinterlassen, wie dies beispielsweise in Italien, in Griechenland, in Spanien, in Portugal, in Venezuela, in Brasilien und andernorts geschehen ist. Diese neoreformistischen Erfahrungen mit linken Regerungen und Breiten Parteien haben der revolutionären Linken und vor allem der Arbeiter:innenklasse einen vernichtenden Schaden zugefügt.

3. Es muss eine internationale revolutionäre Bewegung aufgebaut werden. Interessanterweise gibt es eine Art von sich verdichtendem Auftreten der Aufstände auf globaler Ebene. Eine solche globale Gleichzeitigkeit ist in allen drei erwähnten Wellen erkennbar, insbesondere aber in der seit ca. 2017 andauernden dritten Welle. Auffallend ist, dass diese Synchronisierung des Aufschwungs und Abschwungs spontan ist; keinerlei internationalisierte Organisation spielt dabei eine bemerkbare Rolle. Vielmehr ist es die Gleichzeitigkeit des Problemdrucks und bestimmte lokale Besonderheiten, die jeweils zu einem Ausbruch führen. Der Zusammenbruch seinerseits ist oft eine Konsequenz von brutaler Repression, innerer Zerrissenheit und der Orientierungslosigkeit der Bewegung, der Einbindung wichtiger Teile von dieser in die institutionellen Mechanismen und eine Erschöpfung der radikalisierten Sektoren.

Aus den verebbenden sozialen Bewegungen müssen die Erfahrungen gerettet und diese in einer längeren Perspektive der revolutionären Erhebungen der vergangenen 150 Jahre interpretiert werden, um in der nächsten Welle ausgehend von diesen Erfahrungen praktisch und programmatisch eingreifen zu können: Mit einem Programm, das die entscheidenden Fragen um Eigentum und staatlicher Macht angeht und die Bourgeoisie herausfordert. Die inneren Motive der progressiven Bewegungen nach einer Umwälzung des «Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur», des Niederreissens aller Verhältnisse, welche die Menschen zu geknechteten und ausgebeuteten Wesen machen, können nur so freigelegt und weitergebracht werden. Dafür braucht es politisch-organisatorische Handlungszusammenhänge, die auf Dauer angelegt sind. Es braucht revolutionäre politische Organisationen, die international handlungsfähig sind und eine glaubwürdige Rolle in den radikalisierten Sektoren der progressiven Bewegungen spielen.


Weiterlesen

Behrend, Richard: Die Schweiz und der Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus. Zürich, Leipzig und Stuttgart, 1932.

Callinicos, Alex: Imperialism and Global Political Economy. Cambridge, UK, 2009.

Eberle, Willi (2014): Das «Erfolgsmodell Schweiz». Versuch einer marxistischen Interpretation.

Eberle, Willi (2020): Imperialismus und die «verborgenen Stätten» der Mehrwertproduktion.

Pollux (d.i. Georges Baehler): Trusts in der Schweiz. Die schweizerische Politik im Schlepptau der Hochfinanz. Zürich, 1944.

Smith, John: Imperialism in the Twentieth-First Century. Globalization, Super-Exploitation and Capitalisms Final Crisis. New York, 2016.
Suwandi, Intan: Value Chains. The New Economic Imperialism. New York, 2019.


1 Dieser Text ist eine stark gekürzte und aufdatierte Version des Aufsatzes Eberle (2014). Die polit-ökonomische Grundlage des verwendeten Imperialismusbegriffs werden in Eberle (2020) umrissen. An beiden Orten finden sich weiterführende Literaturhinweise.
2 Immer noch ein Klassiker für die Herausbildung der politischen Hegemonie der Schweizer Banken: Pollux (1944).
3 Siehe dazu beispielsweise Smith 2016 und Suwandi 2019.

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3 Kommentare

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