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Globaler Postfaschismus und der Krieg gegen die Ukraine

Das Regime um Wladimir Putin ist zweifelsohne eine autoritäre Diktatur. Eine gewisse Entkoppelung des Regimes von den russischen Bürger:innen gab es seit Machtantritt Putins. Spätestens seit 2010 hat sich das Regime weiter autoritär verselbstständigt und wurde zunehmend repressiver. Mit dem Beginn des expansionistischen Angriffskrieges gegen die Ukraine aber hat die Diktatur um Putin bisher ungeahnte Ausmasse an Autoritarismus erreicht. Zuweilen wird deswegen der Vergleich zu faschistoiden und faschistischen Regierungen gezogen. So versucht etwa Ilya Budraitskis, russischer Historiker und Aktivist im Exil, den Charakter der Diktatur um Putin durch die Beschreibung als postfaschistisch greifbar zu machen. Dabei stützt er sich auf den Begriff des Postfaschismus, wie ihn Enzo Traverso, italienischer Historiker und Journalist, mitprägte. In einer gemeinsamen Diskussion gehen beide nun der Frage auf den Grund, inwiefern die Diktatur um Putin mit (post-)faschistischen Merkmalen verglichen werden kann und was dies dann konkret bedeutet. (Red.)

von Ilya Budraitskis und Enzo Traverso; aus Posle

Das Gespräch zwischen Ilya Budraitskis und dem Historiker Enzo Traverso über den weltweiten Aufstieg des Postfaschismus, Putins Russland und den Krieg in der Ukraine ist der erste Teil der Serie ‚Ungewöhnlicher Faschismus‚.

Postfaschismus

Der Begriff Postfaschismus wurde vom italienischen Historiker Enzo Traverso in seinem Buch ‘Die neuen Gesichter des Faschismus’ geprägt, um rechtsnationale und rechtsextreme Strömungen, Organisationen oder Personen des 21. Jhdts. vom Neofaschismus zu unterscheiden. Was den Postfaschismus gegenüber dem Neofaschismus (und dem klassischen Faschismus) abhebt, ist gemäss Traverso dessen fliessender und unbeständiger Charakter. Es geht Traverso um eine Art von Zwischencharakter von rechtsnationalen Tendenzen, die einerseits oft einen Ursprung in der faschistischen Tradition haben. Im Gegensatz zum Neofaschismus (oder klassischen Faschismus) verfolgen sie aber nicht das Ziel, die Macht zu übernehmen, um den demokratischen Rechtsstaat abzuschaffen. Eine Folge davon ist, dass postfaschistische Strömungen verschiedene, teils gegensätzliche politische Philosophien in sich vereinen. So wird die neoliberale Ordung zu einem der Hauptfeindbilder stilisiert, gleichzeitig sind Postfaschist:innen bis zu einem Grad auch in der neoliberalen Denk- und Gesellschaftstradition (Individualsimus, westliche Werte, demokratischer Rechtsstaat etc.) beheimatet. 

Faschismus und Postfaschismus

«Der globale Postfaschismus ist eine heterogene Konstellation, in der sich einige gemeinsame Tendenzen finden lassen: Nationalismus, Autoritarismus und eine spezifische Idee der ’nationalen Erneuerung‘.».

Ilya Budraitskis: Vor einigen Jahren hast du das Buch ‚Die neuen Gesichter des Faschismus‘ geschrieben, in dem du den Postfaschismus als eine neue Bedrohung definierst, die dem klassischen Faschismus des 20. Jahrhunderts gleichzeitig ähnelt und sich von ihm unterscheidet. Der Postfaschismus, wie du ihn beschreibst, erwächst aus dem grundlegend neuen Boden des neoliberalen Kapitalismus, in dem Arbeiter:innenbewegungen und Formen der sozialen Solidarität angegriffen wurden. Du betonst, dass der Postfaschismus aus dem Phänomen der sogenannten Post-Politik [nach dem Kalten Krieg kam auf globaler Ebene die Stimmung auf, fortan post-ideologische Politik führen zu wollen; Anm. d. Red.] hervorgegangen sei, als Reaktion auf technokratische Regierungen, die die demokratische Legitimierung ignorieren. Gleichzeitig beschränkt sich deine Analyse hauptsächlich auf die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, wo damals der historische Faschismus noch aus der liberalen Demokratie hervorgegangen war. Lässt sich dieser Ansatz auch auf die Transformation autoritärer Regime wie das in Russland ausweiten, insbesondere nach dem Beginn der Invasion der Ukraine? In Russland präsentierte sich das Regime im ersten Jahrzehnt seines Bestehens Anfang der 2000er Jahre ebenfalls als technokratische post-politische Regierung. Es basierte auf der Entpolitisierung der Massen und dem Mangel an politischer Beteiligung in der russischen Gesellschaft.

Enzo Traverso: Nun, es ist wichtig zu betonen, dass ‚Postfaschismus‘ eine unkonventionelle analytische Kategorie ist. Es handelt sich nicht um ein kanonisches Konzept wie beim Liberalismus, Kommunismus oder Faschismus. Es handelt sich vielmehr um ein Übergangsphänomen, das sich noch nicht eindeutig herauskristallisiert oder definiert hat. Es kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Dennoch ist der Ausgangspunkt dieser Definition, dass der Faschismus transhistorisch [konsistentes Phänomen durch die spezifischen historischen Entwicklungen hindurch; Anm. d. Red.] ist und über die historisch bedingte Erfahrung der 1930er Jahre hinausgeht. Der Faschismus ist durchaus eine Kategorie, die zur Definition von politischen Erfahrungen, Machtsystemen und Regimen über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hinaus nützlich sein kann. Es ist üblich, über den lateinamerikanischen Faschismus während der Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre zu sprechen.

Gleichwohl sollte man, wenn man etwa von Demokratie spricht, bedenken, dass Deutschland, Italien, die Vereinigten Staaten und Argentinien zwar das Etikett der liberalen Demokratie tragen, dies aber nicht bedeutet, dass ihre institutionellen Systeme identisch sind. Es bedeutet auch nicht, dass sie mit der Demokratie des Perikles im antiken Athen übereinstimmen. So ist Faschismus ein Oberbegriff, der eine transhistorische Dimension hat. 

Du sagst zu Recht, dass sich mein Buch über den Postfaschismus hauptsächlich auf die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und einige lateinamerikanische Länder konzentriert. Als ich es schrieb, war Bolsonaro in Brasilien noch nicht an die Macht gekommen. Allerdings habe ich schon auch geschrieben, dass der Postfaschismus als eine globale Kategorie betrachtet werden könne, die tendenziell autoritäre politische Regime wie Putins Russland oder Bolsonaros Brasilien einschliesst. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Kategorie verwendet werden kann, um Xi Jinpings China zu definieren, schlicht weil dieses Regime durch die kommunistische Revolution von 1949 entstanden ist (ich glaube auch nicht, dass wir Stalins Russland als ‘faschistisch’ bezeichnen können). Vielleicht könnte diese Kategorie verwendet werden, um einige Tendenzen zu beschreiben, die Modis Indien oder Erdogans Türkei kennzeichnen und berechtigte Sorgen hervorrufen. Ich würde jedoch nicht vorschlagen, meine Analyse Westeuropas auf andere Kontinente und politische Systeme auszudehnen oder zu übertragen; ich würde vielmehr sagen, dass der westeuropäische Postfaschismus in einer globalen postfaschistischen Tendenz verortet werden kann, die Regime mit völlig unterschiedlichen historischen Verläufen und Vergangenheiten einschliesst. Andernfalls wäre es eine sehr problematische Art und Weise, zum soundsovielten Mal ein eurozentrisches Paradigma des Faschismus zu schaffen, was nicht meinem Ansatz entspricht.

 «Einerseits sind sie keine eigentlichen Faschist:innen, andererseits können sie nicht definiert werden, ohne mit dem Faschismus verglichen zu werden. Sie sind etwas zwischen Faschismus und Demokratie und pendeln je nach den sich ändernden Umständen zwischen diesen beiden Polen hin und her.»

Nach diesen Überlegungen bleibt jedoch immer noch das Problem bestehen, wie der Postfaschismus nun zu definieren sei. Der globale Postfaschismus ist eine heterogene Konstellation, in der sich einige gemeinsame Tendenzen finden lassen: Nationalismus, Autoritarismus und eine spezifische Idee der ‘nationalen Erneuerung’. Im Rahmen dieser Konstellation können die einzelnen Tendenzen in unterschiedlicher Kombination und in unterschiedlichem Ausmass auftreten. So ist beispielsweise Putins Russland viel autoritärer als Melonis Italien. In Italien haben wir eine Regierungschefin, die sich stolz auf die faschistische Vergangenheit (ihre eigene und die ihres Landes) beruft, aber in Italien werden Andersdenkende nicht zensiert, verfolgt oder ins Gefängnis gesteckt wie in Russland. Es gibt keine Italiener:innen, die im Exil leben, weil ihr Leben in Italien bedroht ist. Dies ist ein wesentlicher qualitativer Unterschied. Wir sprechen mit Russland über ein Land, das in einen Krieg verwickelt ist. Auch die Gewalt, die diese verschiedenen postfaschistischen Regime ausüben, ist nicht vergleichbar. Es gibt zudem eine Menge relevanter Unterschiede, die all diese Formen des Postfaschismus vom klassischen Faschismus unterscheiden. Ihre Ideologien und die Art und Weise, wie sie die Massen mobilisieren, sind nicht dieselben… Die utopische Dimension zum Beispiel, die den klassischen Faschismus kennzeichnet, ist im heutigen Faschismus, der sehr konservativ ist, völlig abwesend. Wir könnten noch weitere Bruchstellen nennen.

Ilya: Ich möchte diese Merkmale des Postfaschismus kurz durchgehen. Wenn ich dich nach der Lektüre deines Buches und einiger deiner Interviews richtig verstanden habe, betonst du, dass der Postfaschismus aus der Krise der Demokratie entstanden ist. Demokratie nicht als normativer Begriff, sondern als Wahlpolitik, um genau zu sein. Der Unterschied zwischen dem klassischen Faschismus und dem Postfaschismus ist aber nun, dass Letzterer die Demokratie nicht in Frage stellt. Der klassische Faschismus hatte die Aufgabe, die Demokratie zu stürzen. Der Postfaschismus versucht weiterhin, die Wahlmechanismen zu nutzen. Die Umwandlung in eine offen faschistische Diktatur sollte durch legale Institutionen erfolgen. Mich interessiert hier vor allem dieses Moment des Übergangs. Du schreibst in deinem Buch auch, dass der Postfaschismus als eine Phase der neuen Qualität politischer Regime mit autoritären oder diktatorischen Zügen verstanden werden kann. Wie unterscheidet sich dieser Übergang deiner Meinung nach in den verschiedenen Teilen der Welt? Ich glaube, dass sich in Russland faschistische Tendenzen von oben herab entwickelt haben. Vor zwanzig Jahren wurden bereits Elemente des autoritären Regimes installiert, und seither hat sich Russland in eine Art faschistische Diktatur verwandelt.

Enzo: Ein einfacher historischer Überblick zeigt, dass viele autoritäre Regime mit faschistischen Zügen tatsächlich ohne Massenbewegungen entstanden sind, sondern durch einen Militärputsch eingeführt wurden, z. B. Francos Regime in Spanien oder lateinamerikanische Regime in den 1960er und 1970er Jahren. Im Gegensatz zu den kanonischen Beispielen des faschistischen Italiens und Nazideutschlands wurden sie nicht von einer Massenbewegung unterstützt. Sowohl Mussolini als auch Hitler wurden vom König (in der italienischen Monarchie) bzw. vom Präsidenten (in der Weimarer Republik) im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Befugnisse an die Macht gebracht. Ich denke nicht, dass wir ein verbindliches oder normatives faschistisches Paradigma schaffen können. Es handelt sich um eine grosse Kategorie, die verschiedene Ideologien und Formen der Macht umfasst.

«Wie der Fall Meloni zeigt, handelt es sich dabei natürlich um eine sehr zwiespältige Opposition. Sie gewinnen Wahlen, weil sie gegen den Neoliberalismus sind, aber wenn sie an die Macht kommen, wenden sie neoliberale Politik an.»

Ein enormer Unterschied zwischen dem Postfaschismus und dem klassischen Faschismus ist der enorme Wandel, der im öffentlichen Raum stattgefunden hat. Zur Zeit des klassischen Faschismus hatten die charismatischen Führer einen fast physischen Kontakt mit ihrer Anhänger:innengemeinde. Faschistische Kundgebungen waren geradezu gottesdienstliche Momente, in denen diese emotionale Vereinigung zwischen dem Führer und seinen Anhänger:innen gefeiert wurde. Heute ist diese Verbindung durch die Medien ersetzt worden, die eine völlig andere Art von charismatischer Führung hervorbringen, die gleichzeitig ausgedehnter und allgegenwärtiger, aber auch anfälliger ist. Nichtsdestotrotz können wir die grundlegende Frage nicht umgehen: Was bedeutet Faschismus im 21. Jahrhundert? Alle Beobachter:innen stehen ständig vor dieser Frage: Ist Trump/Putin/Bolsonaro/Le Pen/Meloni/Orban faschistisch? Die einfache Tatsache, dass wir diese Frage stellen, bedeutet, dass es für uns unmöglich ist, all diese Führer:innen oder Regime zu analysieren, ohne sie mit dem klassischen Faschismus zu vergleichen. Einerseits sind sie keine eigentlichen Faschist:innen, andererseits können sie nicht definiert werden, ohne mit dem Faschismus verglichen zu werden. Sie sind etwas zwischen Faschismus und Demokratie und pendeln je nach den sich ändernden Umständen zwischen diesen beiden Polen hin und her. 

Postfaschistische Tendenzen entfalten sich so, wie es ihnen ihr politisch-strukturelles Umfeld erlaubt

«Die klassischen Faschist:innen entwarfen sehr ehrgeizige Gesellschaftsentwürfe: den Mythos vom neuen Menschen, den Mythos vom ‘Tausendjährigen Reich’ und so weiter. [Diese utopische Dimension] fehlt heute, weil der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form als unüberwindbarer und unzerstörbarer Rahmen erscheint. […] Die heutigen postfaschistischen Strömungen sind extrem konservativ. Sie wollen die traditionellen Werte retten. Sie wollen zur traditionellen Idee einer Nation zurückkehren, die als kulturelle, religiöse und ethnisch homogene Gemeinschaft verstanden wird.»

Enzo: Es gibt auch eine widersprüchliche Dynamik. Der russische Nationalismus durchläuft einen Prozess der Radikalisierung, der diese postfaschistischen Tendenzen verstärkt. In Westeuropa ist der italienische Fall sinnbildlich für die entgegengesetzte Tendenz. Bis vor kurzem war Georgia Meloni die einzige politische Führungspersönlichkeit, die sich im italienischen Parlament schamlos zu ihrer faschistischen Identität bekannte. Darin unterschied sie sich von anderen Rechtsextremen in Europa, wie z. B. Marine Le Pen, die sich ausdrücklich von den ideologischen und politischen Modellen ihres Vaters abgewandt hatte, indem sie den Namen ihrer Bewegung änderte (Rassemblement National anstelle von Front National). Marine Le Pen bekannte sich zur Demokratie und bekräftigte ihre Unterstützung für die Institutionen der Französischen Republik usw., während Meloni die Errungenschaften von Mussolinis Italien feierte. Letztere gewann die Wahlen – dank eines günstigen Wahlsystems und der Spaltung der Linksmitte – nicht aufgrund ihrer ideologischen Bezüge, sondern weil sie als einzige und kohärenteste Gegenspielerin von Mario Draghi auftrat, dem Chef einer von der Europäischen Union unterstützten Regierungskoalition.

Seit ihrem Amtsantritt jedoch verfolgt Meloni die gleiche Politik wie ihre Vorgänger:innen und kritisiert die EU-Institutionen nicht mehr. Als Regierungschefin feierte sie den Jahrestag der Befreiung, den Jahrestag des Sieges der Demokratie über den Faschismus, der am 25. April 1945 stattfand. Meloni erinnert mich eher an jene paradoxen Figuren, die in den 1920er Jahren in Deutschland als Vernunftrepublikaner:innen bezeichnet wurden. Nach dem Zusammenbruch von Wilhelms Kaiserreich Ende 1918 hatten sie – aus Vernunft – die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik akzeptiert, aber ihr Herz schlug immer noch für das Kaiserreich. Die italienischen Postfaschist:innen sind ein ähnlicher Fall, ein Jahrhundert später. Sie wollen keine Diktatur errichten oder das Parlament auflösen, aber emotional und kulturell gesehen bleiben sie faschistisch. Ihr Faschismus erfordert viele Anpassungen an einen veränderten historischen Kontext.

Und dann ist da noch der Fall von Trump. Im Jahr 2016 war er eine beunruhigende und undurchschaubare politische Neuerung. Während seiner Präsidentschaft und insbesondere am 6. Januar 2021 erlebten wir eine bedeutende politische Wende, die eine eindeutig faschistische Dynamik erkennen liess. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Republikanische Partei, die eine der Säulen des US-Establishments war, noch als Bestandteil der amerikanischen Demokratie definiert werden kann. Sie ist eine politische Partei, in der sehr starke postfaschistische oder sogar neofaschistische Tendenzen hegemonial geworden sind, eine politische Partei, die den Rechtsstaat und das elementarste Prinzip der Demokratie in Frage stellt: den Wechsel der Macht durch Wahlen.

Ilya: Ich stelle die Hypothese auf, dass in Ländern der Übergang zu einem autoritären Staat komplizierter ist, in denen oppositionelle politische Bewegungen oder verschiedene staatliche Institutionen die Macht des Präsidenten oder des Premierministers einschränken. In Russland hingegen haben alle politischen Institutionen ihre Unabhängigkeit verloren (kein Parlament, kein Gericht, keine ernstzunehmende politische Opposition), und es gibt keine Beschränkungen für die Handlungen des Präsidenten, des einzigen Souveräns. In Ländern wie den USA wird der Präsident in seiner unabhängigen Entscheidungsfindung und der Festlegung seiner Politik durch zahlreiche Hindernisse eingeschränkt, und seine Entscheidungen sind nicht ganz so entscheidend.

Enzo: Ich stimme mit dir da überein. Ich bin weit davon entfernt, die liberale Demokratie und die Marktgesellschaft zu idealisieren, aber es gibt zweifellos einen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten, wo die Demokratie seit zweieinhalb Jahrhunderten existiert, und Russland, wo sie fast nie existiert hat. Um dies zu erklären, müssen wir nicht erst Tocqueville bemühen. In Russland ist die Demokratie das Erbe einiger Jahre Glasnost und Perestroika zum Ende der UdSSR sowie ein Nebenprodukt des Widerstands der Zivilgesellschaft gegen eine oligarchische Macht, die vor drei Jahrzehnten den Übergang zum Kapitalismus vollzogen hat.

Allerdings bleibt eine Trennlinie zwischen der neuen radikalen Rechten und dem klassischen Faschismus bestehen, die ebenfalls berücksichtigt werden sollte: das Verhältnis des Postfaschismus zum Neoliberalismus, wie du zu Beginn unseres Gesprächs sagtest. Mein Buch suggeriert, dass ihre Opposition zum Neoliberalismus einer der Schlüssel zum Verständnis der postfaschistischen Welle in Westeuropa ist. Wie der Fall Meloni zeigt, handelt es sich dabei natürlich um eine sehr zwiespältige Opposition. Sie gewinnen Wahlen, weil sie gegen den Neoliberalismus sind, aber wenn sie an die Macht kommen, wenden sie neoliberale Politik an. Italien ist ein hervorragendes Beispiel. Der Neoliberalismus wird in Westeuropa durch die Europäische Union, die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank usw. verkörpert. Diese Institutionen sind vertrauenswürdige Gesprächspartner für die Finanzeliten, die (auch?) mit Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder Victor Orban einen Kompromiss finden können, ohne ihnen völlig zu vertrauen. Emmanuel Macron, Mario Draghi und Mark Rutte sind viel zuverlässigere und vertrauenswürdigere Führungspersönlichkeiten.

In den USA lag ein Schlüssel zum Verständnis der Wahl von Trump im Jahr 2016 in seiner Opposition zum Establishment. Hilary Clinton verkörperte das Establishment viel mehr als Trump, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass ein mächtiger Teil des amerikanischen Kapitalismus die Republikanische Partei unterstützt. Nichtsdestotrotz gibt es eine offensichtliche Spannung zwischen Trump – manchmal eine Opposition – und den wichtigsten Elementen des Neoliberalismus. Man denke nur an das sehr schlechte Verhältnis zwischen Trump und den multinationalen Unternehmen in Kalifornien, den neuen Technologien usw. Es gibt auch eine fast ‘ontologische’ oder konstitutive Unvereinbarkeit zwischen dem Neoliberalismus, der über den globalen Markt funktioniert, und dem Postfaschismus, der zutiefst nationalistisch ist. Postfaschist:innen fordern staatliche Interventionen und protektionistische Tendenzen, die der Logik des Finanzkapitalismus widersprechen.

Postfaschismus entwirft keine grundlegend neue Gesellschaftsform

«Der Neoliberalismus ist […] auch ein anthropologisches Modell, eine Lebensweise. Es handelt sich um eine Philosophie und einen Lebensstil, der auf Wettbewerb, Individualismus und einer bestimmten Auffassung von menschlichen Beziehungen beruht. Im 21. Jahrhundert wurde dieses anthropologische Paradigma auf globaler Ebene durchgesetzt. Das bedeutet, dass alle postfaschistischen Bewegungen in diesem anthropologischen Hintergrund verwurzelt sind. Dies erklärt, warum es im Vergleich zum klassischen Faschismus so viele bedeutende Veränderungen gibt. [Deswegen] müssen die Bewegungen bestimmte Formen von Individualismus, individuellen Rechten und Freiheiten akzeptieren.»

Ilya: Meine nächste Frage bezieht sich genau darauf, was du gerade über die neoliberale Transformation des heutigen Kapitalismus gesagt hast. Du erwähnst in deinem Buch, dass einer der Unterschiede zwischen dem Postfaschismus und dem klassischen Faschismus das Fehlen eines Zukunftsprojekts sei. Während der klassische Faschismus ein modernistisches Projekt mit einer Vision einer anderen Gesellschaft war (in Opposition zu jeglicher emanzipatorischen sozialistischen Perspektive), hat der Postfaschismus kein in sich schlüssiges und beständiges Projekt, sondern nur einen Blick ohne Horizont. Es gibt eine gewisse Vorstellung davon, dass wir in irgendeine schöne Vergangenheit zurückkehren müssen, ohne eine konkrete Zukunftsvision zu haben. Das erinnert mich an eines der Hauptmerkmale des Neoliberalismus: Es gibt keine Zukunft, keine Alternative. Der kapitalistische Realismus ist vorherrschend, wie Mark Fischer einmal feststellte. Ein weiteres Merkmal ist die zeitliche Erfahrung der postfaschistischen Führer:innen. 

Leute wie Putin und Trump sind ältere Menschen. Der klassische Faschismus war vor allem eine Bewegung der Jugend. Glaubst du, dass dieser Mangel an Zukunft und das rückblickende, nostalgische Element des Postfaschismus irgendwie mit dem neoliberalen Mangel an Zukunftsperspektive zusammenhängt?

«Der italienische Faschismus wollte neue Kolonien erobern; Nazideutschland wollte ganz Kontinentaleuropa erobern. Der heutige Postfaschismus ist zwar sehr fremdenfeindlich und rassistisch, aber seine Fremdenfeindlichkeit und sein Rassismus sind defensiv. Sie sagen: Wir müssen uns gegen die Bedrohung durch die ‚Invasion‘ nicht-weisser und nicht-europäischer Migrant:innen schützen. Wir werden Äthiopien nicht erobern, wir werden uns vor der äthiopischen Einwanderung schützen.»

Enzo: Du sprichst einige wichtige Punkte an. Der klassische Faschismus verfügte über eine starke utopische Dimension. Er wollte eine Alternative sowohl zum Liberalismus als auch zum Kommunismus schaffen, mehr noch er strebte sogar danach, eine neue Zivilisationsform zu schaffen, etwas, das mit einer anderen Vorstellung von der Existenz selbst zusammenhängt. Sie entwarfen sehr ehrgeizige Gesellschaftsentwürfe: den Mythos vom neuen Menschen, den Mythos vom ‘Tausendjährigen Reich’ und so weiter. Diese utopische Dimension war in der Tiefe der europäischen und internationalen Krise des Kapitalismus verwurzelt. Sie fehlt heute, weil der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form als unüberwindbarer und unzerstörbarer Rahmen erscheint. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es eine Alternative zum Kapitalismus, die durch die Russische Revolution geschaffen wurde, und der Kommunismus als utopisches Projekt konnte Millionen von Menschen mobilisieren. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die heutigen postfaschistischen Strömungen sind extrem konservativ. Sie wollen die traditionellen Werte retten. Sie wollen zur traditionellen Idee einer Nation zurückkehren, die als kulturelle, religiöse und ethnisch homogene Gemeinschaft verstanden wird. Sie wollen die christlichen Werte wiederherstellen, auf denen die Geschichte Europas aufgebaut wurde. Sie wollen die nationalen Gemeinschaften gegen die Invasion des Islam, die Einwanderung usw. verteidigen. Sie wollen die nationale Souveränität gegen den Globalismus schützen. Dies erinnert nicht an den faschistischen Utopismus oder an Nazideutschland, sondern vielmehr an den deutschen Kulturpessimismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.

Der Postfaschismus ist reaktionär, und als solcher ist er eine Reaktion auf den Neoliberalismus, der nicht zu nationalen Grenzen und Souveränitäten zurückkehren will. Der neoliberale historische Betrachtungsrahmen ist ‘präsentistisch’, nicht reaktionär. Der Neoliberalismus postuliert eine ewige Gegenwart, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft absorbiert: Unser Leben und unsere Gesellschaft müssen weiterlaufen und können vernichtet werden, wenn sie nicht den zwingenden Regeln der Kapitalentwicklung entsprechen, die wiederum der Zeitlichkeit des Börsenrhythmus folgt. Aber der allgemeine Rahmen des Kapitalismus, der bleibt unveränderlich. Der Kapitalismus wurde sozusagen als ‘naturgegeben’ etabliert, und dies ist wahrscheinlich die grösste Errungenschaft des Neoliberalismus. Der Postfaschismus ist somit eine illusorische Alternative zum Neoliberalismus, ähnlich wie sich der Faschismus selbst oft als ‘antikapitalistisch’ darstellte; der Unterschied ist jedoch, dass die herrschenden Klassen heute nicht diese falsche Alternative wählen. Ihre Institutionen sind nicht so tief verunsichert, dass sie eine solche Alternative akzeptieren würden.

Das Gleiche gilt für seinen Expansionismus. Der italienische Faschismus wollte neue Kolonien erobern; Nazideutschland wollte ganz Kontinentaleuropa erobern. Der heutige Postfaschismus ist zwar sehr fremdenfeindlich und rassistisch, aber seine Fremdenfeindlichkeit und sein Rassismus sind defensiv. Sie sagen: Wir müssen uns gegen die Bedrohung durch die ‚Invasion‘ nicht-weisser und nicht-europäischer Migrant:innen schützen. Wir werden Äthiopien nicht erobern, wir werden uns vor der äthiopischen Einwanderung schützen. Der Vergleich zwischen Putins Aggression gegen die Ukraine und den faschistischen oder nationalsozialistischen Eroberungen in Europa hinkt gerade deswegen, weil Putins Expansionismus das Russische Imperium in Osteuropa wiederherstellen will, indem er ein Land reintegriert, das der russische Nationalismus immer schon als seinen eigenen Lebensraum betrachtet hat, der kulturell zur russischen Geschichte gehört. Zudem, wenn wir einen kontrafaktischen Vergleich anstellen wollen, wäre der Krieg gegen die Ukraine so, als ob der deutsche Einmarsch in Polen im September 1939 innerhalb von zwei Wochen gestoppt worden wäre und die Wehrmacht die Besetzung Warschaus hätte aufgeben müssen.

Ilya: Ich stimme zu, dass Hitler viel erfolgreicher war als Putin.

«Der Vergleich zwischen Putins Aggression gegen die Ukraine und den faschistischen oder nationalsozialistischen Eroberungen in Europa hinkt gerade deswegen, weil Putins Expansionismus das Russische Imperium in Osteuropa wiederherstellen will, indem er ein Land reintegriert, das der russische Nationalismus immer schon als seinen eigenen Lebensraum betrachtet hat, der kulturell zur russischen Geschichte gehört.»

Enzo: Schon die Art der Expansion ist nicht dieselbe. Die Aggression der Nazis gegen Polen war imperialistisch und expansionistisch; die russische Aggression gegen die Ukraine ist revanchistisch und ‘defensiv’, insbesondere wenn man das Ziel Kyivs bedenkt, der NATO beizutreten. Es gibt auch einige relevante demographische Unterschiede. In den 1930er Jahren hatte das nationalsozialistische Deutschland ebenso wie das heutige Russland erhebliche Gebiets- und Bevölkerungsverluste erlitten, nur wuchs seine Bevölkerung dramatisch. In Italien wuchs die Bevölkerung trotz einer strukturellen Abwanderung, die die Wirtschaft des Landes schwächte. Wenn Putin heute also eine illusorische nationalistische Antwort auf den Zusammenbruch von 1990 verkörpert, dann auch deshalb, weil sein defensiver Expansionismus nicht durch eine starke demographische Dynamik gestützt wird. Russland befindet sich im Niedergang und kämpft darum, seinen Status als Supermacht zu erhalten. Natürlich geniesst es einige Trümpfe: Atomwaffen und so weiter. Aber wirtschaftlich und demographisch gesehen ist sein radikalisierter Nationalismus defensiv.

Lass mich aber noch eine letzte Überlegung zum Neoliberalismus anstellen. Der Neoliberalismus ist nicht nur ein Bündel an wirtschaftspolitischen Massnahmen: freier Markt, Deregulierung, globale Wirtschaft. Er ist auch ein anthropologisches Modell, eine Lebensweise. Es handelt sich um eine Philosophie und einen Lebensstil, der auf Wettbewerb, Individualismus und einer bestimmten Auffassung von menschlichen Beziehungen beruht. Im 21. Jahrhundert wurde dieses anthropologische Paradigma auf globaler Ebene durchgesetzt. Das bedeutet, dass alle postfaschistischen Bewegungen in diesem anthropologischen Hintergrund verwurzelt sind. Dies erklärt, warum es im Vergleich zum klassischen Faschismus so viele bedeutende Veränderungen gibt. 

Erstens haben wir starke postfaschistische Bewegungen, die von Frauen geführt werden. Das wäre in den 1930er Jahren unvorstellbar gewesen. Zweitens müssen die Bewegungen bestimmte Formen von Individualismus, individuellen Rechten und Freiheiten akzeptieren. Ihre Islamophobie beispielsweise wird manchmal als Verteidigung westlicher Werte gegen islamischen Obskurantismus [feindselige Haltung gegenüber Aufklärung; Anm. d. Red.] formuliert. Auf diese Weise wendet sich der Postfaschismus zwar gegen den Neoliberalismus, ist aber gleichzeitig in dessen sozialer Struktur verwurzelt.

Das postfaschistische Regime um Wladimir Putin

«Wenn Putin heute also eine illusorische nationalistische Antwort auf den Zusammenbruch von 1990 verkörpert, dann auch deshalb, weil sein defensiver Expansionismus nicht durch eine starke demographische Dynamik gestützt wird. Russland befindet sich im Niedergang und kämpft darum, seinen Status als Supermacht zu erhalten. Natürlich geniesst es einige Trümpfe: Atomwaffen und so weiter. Aber wirtschaftlich und demographisch gesehen ist sein radikalisierter Nationalismus defensiv

Ilya: Du hast erwähnt, dass eines der wichtigsten Gefühle des Postfaschismus die defensive Abwehrhaltung ist. Tatsächlich wurde der gesamte Krieg in Russland von der offiziellen Propaganda als Verteidigung nicht nur gegen die NATO, sondern auch gegen falsche Werte dargestellt, insbesondere gegen die Unterwanderung der LGBT- und Gender-Politik. In diesem Sinne kann man sagen, dass in dieser Art von Regime die Grenzen zwischen internationaler Politik und Innenpolitik verschwimmen. Allerdings können wir auch sehen, dass die neoliberale Denkweise, die du gerade angesprochen hast, alle Erklärungen der internationalen Situation dominiert. Natürlich beschäftigt sich Putin in seiner politischen Vorstellung sehr stark mit der Rolle Russlands in der globalen Arena. Und dennoch erklären Putin und andere russische Beamt:innen, dass die internationalen Beziehungen eine Art Markt sind, wo Wettbewerb herrscht, wo also das gleiche Paradigma des Eigeninteresses die Position der Staaten definiert, wo die multipolare Welt, für welche sie anstelle der amerikanischen Hegemonie werben, der wahre freie Markt gegen [geopolitische; Anm. d. Red.] Monopole ist. Sie sehen die Welt als ein Monopol der USA, das durch einen echten, ehrlichen und fairen Wettbewerb zwischen mehreren starken Akteuren herausgefordert werden sollte. Wie siehst du diese Beziehungen?

Enzo: Ich bin nicht gut gerüstet, um diese Frage zufriedenstellend zu beantworten. Natürlich verdient der hartnäckige und bewundernswerte Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion Unterstützung, sowohl politisch als auch militärisch. Ich bin nicht einverstanden mit den Strömungen der westlichen Linken, die die russische Aggression anprangern und sich gleichzeitig weigern, Waffen nach Kyiv zu schicken. Das scheint mir eine heuchlerische Haltung zu sein. Der ukrainische Widerstand führt einen nationalen Befreiungskrieg, der sehr pluralistisch und heterogen ist. Wie alle Widerstandsbewegungen in Europa während des Zweiten Weltkriegs umfasst er rechte und linke Strömungen, nationalistische und kosmopolitische Empfindungen, autoritäre und demokratische Tendenzen. Zwischen 1943 und 1945 versammelte der italienische Widerstand ein breites Spektrum von Kräften, von den Kommunist:innen (die hegemoniale Tendenz) bis zu den Monarchist:innen (eine kleine Minderheit), und ging durch Sozialdemokrat:innen, Liberale und Katholik:innen. In Frankreich hatte der Widerstand zwei Seelen – De Gaulle und die Kommunist:innen – neben denen es auch kämpfende Katholik:innen, Trotzkist:innen und eine Konstellation von kleinen (aber sehr effektiven) Organisationen antifaschistischer Einwanderer aus Osteuropa, Italien, Spanien, Türkisch-Armenien, usw. gab. Diese Vielfalt ist in einer nationalen Widerstandsbewegung unvermeidlich.  

Dennoch bin ich recht pessimistisch, was den Ausgang dieses Konflikts angeht. Wenn Putin gewinnt, was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist (insbesondere im Falle einer Beteiligung Chinas auf seiner Seite), wird dies tragische Folgen nicht nur für Russland und die Ukraine, sondern auch auf globaler Ebene haben. Faschistische und autoritäre Tendenzen werden in Russland gestärkt werden; ebenso werden postfaschistische Tendenzen in Europa und auf internationaler Ebene zunehmen. Andererseits würde eine wünschenswerte russische Niederlage nicht nur die Behauptung einer freien und unabhängigen Ukraine bedeuten, sondern sehr wahrscheinlich auch eine Ausweitung der NATO und der US-Hegemonie, was weit weniger attraktiv ist.

Der Krieg gegen die Ukraine wird oft als eine Verflechtung von Konflikten dargestellt: eine russische Invasion, die eine inakzeptable Aggression darstellt; ein Selbstverteidigungskrieg der Ukraine, die unterstützt werden will; und eine indirekte militärische Intervention des Westens, die die USA in einen Stellvertreterkrieg der NATO umwandeln wollen. Vor zehn Jahren herrschte in der Ukraine ein Bürgerkrieg, der einige Voraussetzungen für den aktuellen Konflikt schuf. Dies ist eine sehr komplexe Situation, in der die Linke nuanciert vorgehen muss. Während wir in Russland gegen Putin und in der Ukraine gegen die russische Invasion kämpfen müssen, können wir in den USA und den EU-Ländern eine Ausweitung der NATO oder die Erhöhung unserer Militärbudgets nicht unterstützen.

Diese Situation ist nicht völlig neu. Während des Zweiten Weltkriegs kämpften die Widerstandsbewegungen und die alliierten Armeen gemeinsam gegen die Achsenmächte, aber ihre Annäherung war begrenzt, und sie verfolgten nicht dieselben Endziele. Dies wurde in Griechenland deutlich, wo der Zusammenbruch der deutschen Besatzung das Land in einen Bürgerkrieg stürzte, in dem die britische Armee half, den kommunistischen Widerstand zu unterdrücken. Tito und Eisenhower kämpften gemeinsam gegen Hitler, aber ihre Ziele waren nicht die gleichen. Heute befinden wir uns in diesem Strudel widersprüchlicher Tendenzen: Einerseits müssen wir den ukrainischen Widerstand unterstützen, ebenso wie die dissidenten Stimmen in Russland; andererseits müssen wir in der Lage sein zu sagen, dass eine neoliberale Ordnung nicht die einzige Alternative zum Postfaschismus ist. Die Linke sollte in der Lage sein, mit den nicht-westlichen Ländern zu sprechen, die diese Invasion nicht verurteilt haben. Die westliche Linke sollte zeigen, dass es möglich ist, gegen die neoliberale Ordnung zu kämpfen, ohne Freunde Putins zu sein.

Widerstand gegen (post)faschistischen Entwicklungen muss neu gedacht werden

«Natürlich verdient der Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion Unterstützung, sowohl politisch als auch militärisch. Ich bin nicht einverstanden mit den Strömungen der westlichen Linken, die die russische Aggression anprangern und sich gleichzeitig weigern, Waffen nach Kyiv zu schicken.»

Ilya: Meine letzte Frage bezieht sich auf den Antifaschismus. Du schreibst, dass der Antifaschismus als Tradition und Sichtweise in den letzten Jahren verloren gegangen ist, und du glaubst, dass die Wiederherstellung der antifaschistischen Tradition die einzig richtige Antwort auf den Aufstieg des Faschismus sein könnte. Das bedeutet aber auch, dass die antifaschistische Tradition neu erfunden werden muss, sie kann nicht dieselbe Bewegung sein, die sie in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war. Natürlich gibt es eine Menge Schwierigkeiten mit dieser Tradition. So wurde beispielsweise die russische Invasion in der Ukraine von der offiziellen russischen Propaganda ebenfalls als antifaschistisch (gegen die ukrainischen ‘Nazis’) bezeichnet. Natürlich wurde die Idee des Antifaschismus von verschiedenen Seiten abgewertet. Wie kann diese Neuerfindung des Antifaschismus aussehen?

Enzo: Auch auf diese Frage ist es schwierig, zu antworten. Ich habe zwar den Postfaschismus als ein globales Phänomen beschrieben, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir von einem globalen Antifaschismus sprechen können. Das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Natürlich können wir sagen, dass der Faschismus überall und zu jeder Zeit schlecht ist, aber der Antifaschismus hat nicht überall und zu jeder Zeit die gleiche Bedeutung und die gleichen politischen Möglichkeiten. Ich weiss nicht, wie Antifaschismus heute in Russland, Indien oder auf den Philippinen wahrgenommen werden kann. Verschiedene Länder haben unterschiedliche historische Entwicklungen, und Antifaschismus kann nicht überall auf die gleiche Weise verstanden und mobilisiert werden. In Westeuropa steht Antifaschismus für eine spezifische historische Erinnerung. In Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien oder Portugal, also in Ländern, die den Faschismus erlebt haben und ein gemeinsames kollektives Gedächtnis haben, ist es unmöglich, die Demokratie zu verteidigen, ohne sich auf ein antifaschistisches Erbe zu berufen.

In Indien zum Beispiel ist die Beziehung zwischen Unabhängigkeitskampf und Antifaschismus viel komplexer. Während des Zweiten Weltkriegs bedeutete antifaschistisch zu sein, zumindest für eine gewisse Zeit, auf den Kampf für die Unabhängigkeit zu verzichten. 

In Russland bedient sich Putin einer demagogischen Rhetorik, indem er den Einmarsch in die Ukraine als die letzte Etappe des Grossen Vaterländischen Krieges [Zweiter Weltkrieg; Anm. d. Red.] darstellt. Natürlich ist es für russische Demokrat:innen und Dissident:innen von entscheidender Bedeutung, diese verlogene Propaganda zu entmystifizieren und die wahre Bedeutung von Antifaschismus wiederherzustellen. 

In der Ukraine sind die Dinge komplizierter, denn der Kampf gegen die russische Unterdrückung ist älter als der Antifaschismus und war nicht immer antifaschistisch. Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus beinhaltet auch eine faschistische und eine rechte Dimension, die nicht vergessen werden darf. Gleichzeitig ist die Erinnerung an den Antifaschismus auch die Erinnerung an einen ebenso epischen und heroischen wie tragischen Anti-Nazi-Krieg, den die Ukrainer:innen als Teil der UdSSR führten. Antifaschistisch zu sein bedeutet daher, sich auf eine Tradition zu berufen, die in der ukrainischen Geschichte gerade nicht konsensfähig ist. Es bedeutet, eine bestimmte politische Identität innerhalb einer pluralistischen Widerstandsbewegung zu verteidigen. Die Dinge sind unglaublich kompliziert. Grob gesagt, könnte man sagen, dass Antifaschismus eine freie und unabhängige Ukraine bedeutet, die sich nicht gegen ein demokratisches Russland stellt, sondern mit ihm verbündet ist. Leider wird dies nicht morgen der Fall sein.


Übersetzung durch die Redaktion.

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