Rechtsextreme Parteien wie die deutsche Alternative für Deutschland (AfD) oder der französische Rassemblement National (RN) werden immer populärer. In zahlreichen Ländern gelingt es rechtsextremen Parteien, vom verlorengegangenen Vertrauen in die «traditionellen Volksparteien» und dem Unmut der Menschen zu profitieren und sich als vermeintliche «Retter der Nation» zu inszenieren. Um diese Parteien bekämpfen zu können, ist es wichtig, zu verstehen, mit welchen Strategien sie so viele Menschen zu überzeugen vermögen.
von David Ales (BFS Basel); aus antikap
Die Sehnsucht nach nationaler Wiedergeburt
1991 veröffentlichte der britische Historiker Roger Griffin das Buch The Nature of Fascism. Darin definierte er den Faschismus als eine politische Ideologie, dessen mythischer Kern ein populistischer Ultranationalismus ist, der auf die Neugeburt einer mythologischen Volksgemeinschaft abzielt, die so nie existiert hat.[1] Laut Griffin gehen Faschist:innen davon aus, dass die jeweils eigene Nation «krank» ist und unterzugehen droht. Dieser Zustand soll überwunden werden, indem die eigene Nation mit einem radikalen und ultranationalistischen Projekt wiederbelebt und neugestaltet wird. Zentral ist ein Gefühl der ständigen Bedrohung der eigenen Existenz und die Sehnsucht nach einer neuen, heroischen und nationalen Identität, die an vergangene, vermeintlich glorreiche Zeiten anknüpft.
Tatsächlich lässt sich diese Vorstellung historisch bei vielen faschistischen Bewegungen finden. Die nationalsozialistische Propaganda beispielsweise behauptete in den 1920er und 1930er-Jahren unermüdlich, dass das «deutsche Volk» durch den «jüdischen Weltbolschewismus» und das «Versailler Diktat», eine als ungerecht empfundene Nachkriegsordnung, erstickt werde. Der deutsche Faschismus sollte das eigene Volk vor der kommunistischen Bedrohung ausserhalb (Sowjetunion) und innerhalb (KPD, Gewerkschaften) retten. Gegner:innen des Faschismus wurden verfolgt, als «Ungeziefer» oder «Parasiten» entmenschlicht und als «volksschädigend» gebrandmarkt. In der biologistisch-völkischen Weltsicht des deutschen Faschismus galt es, den «deutschen Organismus» von all demjenigen zu befreien, der ihn krank machte und zu zerstören drohte. Leo Trotzki – einer der besten Beobachter und Analytiker des deutschen Faschismus – bezeichnete die nationalsozialistische Bewegung als «epidemische Verzweiflungshysterie der Mittelschichten»[2], deren Anhänger:innen durch Hass, Verzweiflung und die ständige Angst vor dem Untergang getrieben seien.
Identität, Stigmatisierung, Gewaltverherrlichung
Die Rhetorik der NSDAP eines bedrohten «Volkes» erfüllte gleich mehrere Aufgaben. Erstens waren diejenigen, die der faschistischen Propaganda glauben schenkten, bereit, sich vorbehaltlos der Partei, den Institutionen und Gesetzen unterzuordnen. Das Gefühl der ständigen Bedrohung erlaubte es den Anhänger:innen zweitens, sich nicht als Täter:innen, sondern als Opfer zu sehen, die im Sinne der Selbstverteidigung handeln. Der unabdingbare Kampf gegen «volkszersetzende» Elemente diente somit drittens auch der Legitimierung und Normalisierung von Gewalt, Verfolgung, Hass und Antisemitismus.
Die AfD – von rechtskonservativ zu rechtsextrem
Im Februar 2013 gründete eine Gruppe von rund 20 Personen die Partei Alternative für Deutschland (AfD). In ihrer Anfangsphase vereinte die Partei nicht nur rechtsextreme, sondern überwiegend Mitglieder aus dem rechtskonservativ-bürgerlichen Lager. In der Folge bildeten sich verschiedene Gruppierungen innerhalb der AfD. 2015 formierte sich der rechtsextreme «Flügel» (Selbstbezeichnung), eine Gruppierung um Björn Höcke und Hans-Thomas Tillschneider, die alles daransetzte, die Partei auf einen völkisch-nationalistischen Kurs zu bringen. Die «Flügel-Leute» waren äusserst erfolgreich. Die Mehrheit des rechtskonservativen Parteikaders verlies nach und nach die Partei oder knickte programmatisch ein. Mittlerweile gilt Björn Höcke, zusammen mit dem rechtsextremen Publizisten Götz Kubitschek, als unumstrittener Strippenzieher der AfD.

«Sie lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife»
Höcke versteht es ausgezeichnet, den drohenden Niedergang Deutschlands heraufzubeschwören und seine Zuhörer:innen in Panik zu versetzen. In einer Rede von 2017[3] prangert Höcke etwa die «erbärmlichen Apparatschiks» der «Altparteien» an, die daran arbeiteten, Deutschland «abzuschaffen»:
«Unser einst intakter Staat befindet sich in Auflösung, seine Aussengrenzen werden nicht mehr geschützt, er kann die innere Sicherheit nicht mehr garantieren, das Gewaltmonopol erodiert zusehends durch Inkaufnahme rechtsfreier Räume und der allgemeine Rechtsverfall schreitet voran. Unsere einst geachtete Armee ist von einem Instrument der Landesverteidigung zu einer durchgegenderten multikulturalisierten Eingreiftruppe im Dienste der USA verkommen.»
Die deutschen Städte – so Höcke – seien zu «Brutstätten von Kriminalität und Gewalt» und zur «Heimstätte von radikalen Islamisten» geworden. Das deutsche «Volk» sei durch «Geburtenrückgang» sowie «Masseneinwanderung» «erstmals in seiner Existenz tatsächlich elementar bedroht». Höckes Rede gipfelt in der aufschlussreichen Aussage, die Bombardierung Dresdens durch die Alliierten 1945 habe zum Ziel gehabt, Deutschland seiner «kollektiven Identität» zu rauben:
«Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man wollte unsere Wurzeln roden. Und zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das auch fast geschafft.»
Um den Untergang Deutschlands abzuwenden – so Höcke – brauche es eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad» und einen «ehrlichen, vitalen, tief begründeten und selbstbewussten Patriotismus».
Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus bekräftigt Höcke auch 2023, als er seinen Zuhörer:innen mehrere Male mit der wohlbekannten SA-Parole «Alles für Deutschland!» einheizt. Im September 2024 wurde die AfD mit rund 33% der Wählerstimmen stärkste Partei im Bundesland Thüringen. Höcke ist Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag.
Der Bürgerkrieg ist schon da
Noch extremer äussern sich führende Parteikader der französischen Rechtsextermen. Der Gründer und Vorsitzende der 2021 gegründeten rechtsextremen Partei «Reconquête» (Rückeroberung) – Éric Zemmour – schürt nicht nur Angst vor einem aufkommenden Bürgerkrieg, er behauptet sogar, dieser sei schon da. In einem Interview[4] auf dem französischen Sender BFM TV 2021 beschreibt Zemmour Frankreichs Lage wie folgt:
«Ich glaube, dass der Bürgerkrieg […] schon da ist. Wenn jemand im Bataclan mehr als 100 Leute mit einer Kalaschnikow massakriert, heisst das Bürgerkrieg. […] Wenn man einem Lehrer die Kehle durchschneidet und sein Kopf auf der Strasse rollt, heisst das Bürgerkrieg.»
Ins gleiche Rohr bläst Marion Maréchal (Le Pen), die in den vergangenen Jahren ihre langjährige Mitgliedschaft beim Rassemblement National (RN) zugunsten von Zemmours Reconquête aufgegeben hat, nur um einige Jahre später wieder zum RN zurückzukehren. Ebenfalls bezugnehmend auf Attentate mit islamistischem Hintergrund zeichnet sie ein Bild von Frankreich, das auf Grund von Einwanderung und «Islamisierung» einem ständigen «Dschihad» ausgesetzt ist:
«Immigration führt nicht zu einem Anschluss der Zugewanderten, aus dem einfachen Grund, dass der Islamismus sich in Frankreich durch eine Form des Dschihads niedriger Intensität konstituiert und entwickelt.»[5]
Zemmour, Marechal (und Höcke) sind – wie wohl die Mehrheit der europäischen und US-amerikanischen Rechtsextremen – überzeugte Anhänger:innen der Theorie des «Grossen Austausches» (Grand Remplacement). Diese geht davon aus, dass die christlich «einheimische» und weisse Bevölkerungen der europäischen Länder aufgrund der «massenhaften» Immigration aus muslimischen Ländern allmählich verdrängt und ersetzt wird. Wie für rechtsextreme Theorien üblich, werden dabei nicht nur Migrant:innen – in diesem Falle Muslim:innen – als existenzielle Bedrohungen stilisiert, sondern auch die «Eliten» an der Macht als heimliche Strippenzieher ausgemacht. Zemmour beschuldigt Jean-Luc Mélenchon, die wichtigste Figur der parlamentarischen Linken Frankreichs, immer wieder, den «Multikulturalismus» und die Zuwanderung voranzutreiben, weil er damit seine eigene Wählerbasis vergrössere. In der Logik Zemmours entspricht es dem Wunsch des globalisierten Kapitals und der davon profitierenden Eliten, auf Zuwanderung und «Multikulturalismus» zu setzen, weil dies billige Arbeitskräfte ermöglicht und die nationale Identität der Bevölkerung schwäche. Reconquête ist denn auch der Versuch, Arbeiter:innen, Rentner:innen und Teile der «nationalorientierten und patriotischen Bourgeoisie» in einer gemeinsamen Partei zu vereinen, um gegen Globalisierung, «Multikulturalismus» und den «grossen Austausch» vorzugehen.
Obgleich Zemmours Reconquête eine vergleichsweise kleine Partei geblieben ist, darf ihre Strahlkraft nicht nur bis in den RN, sondern in das gesamte bürgerliche Lager und deren Wähler:innenbasis, nicht unterschätzt werden. Den französischen Rechtsextremen ist es gelungen, die Verschwörungstheorie des grossen Austausches und die ständige Angst des Niedergangs der französischen Identität zu einer vermeintlichen Banalität werden zu lassen, die von Millionen Menschen geteilt wird.
Was tun?
Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Theorien und Narrative (sinnstiftende Erzählungen) der extremen Rechten in einem Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Verunsicherung und grosser sozio-ökonomischer Probleme auf einen fruchtbaren Nährboden fallen. Laut einer Erhebung von Conspiracy Watch stimmten 2017 48 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen der Aussage zu, wonach es ein Projekt der politischen, medialen und intellektuellen Eliten gebe, welches «die Ersetzung einer Zivilisation durch eine andere» zum Ziel habe.[6] Auch in Deutschland wird die Angst, durch muslimische Zuwanderung selbst ersetzt zu werden, von vielen geteilt. Laut einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen 25 Prozent der These vom grossen Bevölkerungsaustausch zu.[7]
Auf ideologischer Ebene gehört das ständige Sich-Bedroht-Fühlen zum Kern des faschistischen Bewusstseins. Es führt zu Verzweiflung, einer Opferidentität und unter Umständen zur Bereitschaft, sich gewaltsam gegen diejenigen zu wenden, die für die eigene Situation verantwortlich gemacht werden. Das sind derzeit vor allem Muslim:innen, geflüchtete Menschen, Linke, Feminist:innen und die LGBTQ-Community.
All das bedeutet nicht, dass alle Menschen, die rechtsextremen Ideen (teilweise oder zeitweise) verfallen, überzeugte Faschist:innen sind oder sein werden. Aber die Popularisierung eben dieser Denk- und Bewusstseinsmuster ist äusserst gefährlich und muss uns dazu veranlassen, nach Gegenstrategien zu suchen. Dazu gehört in meinen Augen:
1. Die Solidarität und der gemeinsame Kampf mit all denjenigen Menschen und Gruppen, die von rechter und rechtsextremer Propaganda betroffen sind und für gesellschaftliche Probleme verantwortlich gemacht werden. Hier gilt es glaubwürdig aufzuzeigen, dass die sozio-ökonomischen Probleme und die Verunsicherung der Bevölkerung nicht das Resultat ebendieser Gruppen sind, sondern Folgen der kapitalistischen Politik der letzten Jahrzehnte.
2. Die Ängste der Menschen ernst nehmen. Das bedeutet ausdrücklich nicht – wie dies Sarah Wagenknecht und viele andere tun – sich fremdenfeindlichen, «anti-woken» oder sonst rechten Positionen anzunähern oder diese zu verharmlosen. Eine anbiedernde Haltung an rechte Denkmuster hat noch nie funktioniert, wenn es darum geht, diese zu bekämpfen. Ernst nehmen heisst, zu verstehen, dass diese Ängste existieren und so lange fortbestehen und politisch kanalisiert werden können, solange es keine glaubhafte linke Alternative zu neoliberalen und rechtsextremen Positionen und Gesellschaftsentwürfen gibt. In diesem Sinne wäre die Entstehung einer glaubwürdigen und wahrnehmbaren antikapitalistischen Bewegung das beste Mittel, um gegen rechtes Gedankengut vorzugehen.
3. Eine klassenkämpferische Perspektive formulieren: Auch wenn die radikale Linke derzeit äusserst schwach ist und schlecht auf die aktuelle politische Lage vorbereitet ist, müssen wir alles daransetzen, ein klassenkämpferisches Kollektivbewusstsein zu fördern. Dazu gehört insbesondere, aufzuzeigen, dass die tatsächlichen Gefahren unserer heutigen Zeit – namentlich die Klimakrise, Aufrüstung und Kriege, Armut und Ausgrenzung – globale Probleme sind, auf die es nur eine internationalistische und solidarische Antwort geben kann.
Titelbild: Eric Zemmour lehnt das Konzept der Integration zugewanderter Menschen ab. Stattdessen soll das Prinzip der Assimilation gelten. Dazu gehört auch, Vornamen, die nicht Teil des christlichen Kalenders sind, zu verbieten.
Quellen
[1] „Fascism is a political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism.“ Griffin, Roger: The nature of fascism, London; New York 1993, S. 27
[2] Trotzki: Gesammelte Werke: Schriften über Deutschland I, 1971, S. 308–309.
[3] Die Höckerede im Wortlaut, veröffentlicht vom Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/gemutszustand-eines-total-besiegten-volkes-5488489.html
[4] Éric Zemmour: «Je pense que la guerre civile est déjà là» „https://www.youtube.com/watch?v=7TIzpghKRx0
[5] L’interview de Marion Maréchal sur BFMTV en intégralité. https://www.youtube.com/watch?v=BNqmIQb7paY&t=2820s
[6] C’est un projet politique de remplacement d’une civilisation par une autre organisé délibérément par nos élites politiques, intellectuelles et médiatiques et auquel il convient de mettre fin en renvoyant ces populations d’où elles viennent. https://www.ifop.com/wp-content/uploads/2018/03/3942-1-study_file.pdf
[7] Demokratievertrauen in Krisenzeiten. https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf