Heute jährt sich die Nelkenrevolution zum 50. Mal. Damals stürzte ein linksgerichteter Teil des Militärs, der Movimento das Forças Armadas (MFA), welcher den Kolonialkrieg in den Überseekolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau ablehnte und einen Rückzug aus den Kolonien wollte, die faschistische portugiesische Diktatur. Die offizielle Erzählung aber lässt die Nelkenrevolution etwas wie eine gutartige Revolution von oben erscheinen, wo eine Bewegung der Streitkräfte Demokratisierung – Dekolonialisierung – Desenvolvimento (Entwicklung und Alphabetisierung) übers Land brachte. Tatsächlich schlossen sich Arbeiter:innen aktiv dem MFA an, um die Revolution mit demokratischen und sozialistischen Parolen mitzutragen. Strukturen der Arbeiter:innenselbstorganisation bildeten sich (commissões de trabalhadores), halfen unter anderem, den rechten Rückputsch vom 11. März 1975 abzuwenden, und drängten die Übergangsregierungen auf sozialen Kurs, etwa mit Verstaatlichung von Betrieben. Die Nelkenrevolution bedeutete 1975 vor allem auch das Unabhängigwerden der letzten Überseekolonien einer europäischen Kolonialmacht. Seit Langem erlebt Portugal wieder einen Rechtsruck; die rechtsextreme und antidemokratische Partei CHEGA erreichte in den letzten portugiesischen Parlamentswahlen 18,1%. CHEGA tritt unter anderem für etwas ein, das man im deutschsprachigen Raum als Bruch mit dem angeblichen ‚Schuldkult‘ kennt. Ein selbstkritischer Bezug zur eignen Kolonialvergangenheit wird als Angriff auf den nationalen Stolz ausgegeben. Deswegen ist es umso wichtiger, sich heute der Nelkenrevolution zu erinnern; auch um sich die Frage zu stellen, wo die sozialistischen Ambitionen vor 50 Jahren gescheitert sind. (Red.)
von Paul Stern; aus Sozialistische Zeitung
Agenten der faschistischen Geheimpolizei PIDE ermorden noch vier Menschen, bevor ihre Zentrale von den aufständischen Massen eingenommen wird: Am Morgen des 25. April 1974 besetzt die Bewegung der Streitkräfte (MFA – Movimento das Forças Armadas) verschiedene strategische Punkte in Lissabon und stürzt die 1926 errichtete faschistische Diktatur von António de Oliveira Salazar, dem Führer des Estado Novo. Das Ziel der Bewegung ist die Beendigung der 13 Jahre zuvor begonnenen Kolonialkriege, freie Wahlen und die Einführung einer bürgerlichen Demokratie.
Katalysatoren dieser in Europa einmaligen Aktion waren die Wirtschaftskrise sowie die nicht zu gewinnenden und kostspieligen Kolonialkriege in Guinea, Mosambik, den Kapverdischen Inseln, São Tomé e Príncipe und Angola. Konspirativ formierte sich ein Kreis von Berufsoffizieren, die zielstrebig einen Regimewechsel anstrebten. Durch ihren Rückhalt in der Armee entschlossen sie sich zu einer entschiedenen militärischen Aktion, die sich nach der Besetzung von Rundfunksendern mit entsprechenden Nachrichtensendungen zu einer allgemeinen Volkserhebung entwickelte. Fortschrittliche Kräfte und revolutionäre Organisationen entfalteten parallel dazu zivilgesellschaftliche Aktivitäten.
Das älteste noch bestehende faschistische Regime in Europa fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Die MFA und zivile Kräfte bildeten mit der Junta de Salvação Nacional eine Art Übergangsregierung und General Spínola wurde vorübergehend Präsident der Republik. Die programmatischen drei Ds des MFA – Demokratisieren, Dekolonialisieren, Entwickeln – wurden konkret angegangen. Politische Parteien und Gewerkschaften wurden legalisiert und in den besetzten afrikanischen Gebieten starteten Entkolonialisierungsverhandlungen auf Augenhöhe.
›O povo unido jamais será vencido!‹ (Das vereinte Volk wird niemals besiegt!)
Portugal radikalisierte sich. 245 inländische Konzerne, Banken und Versicherungen wurden verstaatlicht. Arbeiter:innenkontrollen wurden etabliert. Landbesitz wurde verstaatlicht, Großgrundbesitzer enteignet. Verhasste Fabrikbesitzer wurden von Arbeiter:innen vertrieben. Landarbeiter:innen gründeten 550 kollektive Produktionseinheiten (UCP) auf 1,2 Millionen Hektar Gutsherrenland.
Die sozialrevolutionären Prozesse wurden militärisch durch das Comando Operacional do Continente (COPCON) abgesichert. Diese von Otelo Saraiva de Carvalho kommandierte Einheit sollte den Revolutionsprozess unterstützen und konsequent reaktionäre Interventionen abwehren. Wie notwendig das war, zeigte die Niederschlagung des Putsches vom 11. März 1975. Der Putschgeneral Spínola scheiterte bei dem Versuch, revolutionäre Armeeeinheiten zu neutralisieren.
Der Einfluss von Kräften links der starken Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) war beträchtlich. LUAR (Liga da Unidade de Accão Revolucionária), MES (Movimento da Esquerda Socialista), PRP (Partido Revolucionário do Proletariado), LCI (Liga Comunista Internacionalista) und andere Organisationen agierten teils in Aktionseinheit, teils autonom. Ihr Bestreben war, unabhängig von parlamentarischen Akteuren die Spielräume zum Ausbau antikapitalistischer Strukturen auszuweiten. Hierbei war ihre Basis neben Armeeeinheiten besonders das Landproletariat im Süden sowie der Industriegürtel rund um Lissabon.
Wesentlich komplizierter war die Agitation im kleinbäuerlich-katholischen Norden, der sich zur reaktionären Bastion entwickelte.
Diese Handlungsmöglichkeiten der radikalen Linken fanden begeisterte Unterstützung in vielen europäischen Ländern. Es entstanden zahlreiche Portugalkomitees. Solidaritätsbrigaden reisten zu konkreten Einsätzen nach Portugal. Spendensammlungen für basisdemokratische Projekte waren eine nützliche Hilfe. Veranstaltungen und Demonstrationen zur Verteidigung der Revolution waren Teil der linken Gegenöffentlichkeit, während die bürgerliche Presse ständig die »kommunistische Gefahr« beschwor.
Nach schwierigen politischen Verhandlungen fanden am 25. April 1975 – genau ein Jahr nach dem Umsturz – in Portugal die ersten freien Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung statt, die ein bürgerlich-demokratisches System im Lande durchsetzte. Bei dieser Wahl waren die sozialdemokratische PS (Sozialistische Partei) sowie die bürgerliche PPD (heute PSD) die stimmstärksten Parteien.
›O povo é quem mais ordena‹ (Das Volk regiert)
Noch wurden die revolutionären Errungenschaften nicht frontal angegriffen. Das änderte sich im Frühsommer. Die Gegner einer weiteren Stabilisierung revolutionärer Errungenschaften blieben nicht untätig. Die USA schickten ihren späteren CIA-Vizedirektor Frank Carlucci als Botschafter nach Lissabon. Sie unterstützten die faschistische Autonomiebewegung auf den Azoren und bereiteten sich auf ihre Besetzung vor. Provokative NATO-Flottenmanöver vor den Küsten Portugals hatten das Ziel der Einschüchterung.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde von der NATO alles getan, ein auch nur moderates antikapitalistisches Modell in ihrem Machtbereich zu verhindern. »Portugal darf nicht das Kuba Europas werden!« war die Leitschnur ihres Handelns. Die europäischen Sozialdemokraten, besonders die SPD, waren in ihrem Versuch erfolgreich, die sozialdemokratische PS in prokapitalistische Bahnen zu lenken.
Im »heißen Sommer« 1975 rollte die reaktionäre Gegenoffensive. Besonders im konservativen Norden wurden Parteibüros der PCP niedergebrannt, Kommunist:innen ermordet. Die kubanische Botschaft in Lissabon wurde in die Luft gejagt, zahlreiche Attentate verübt. Als logistisches Hinterland fungierte das faschistische spanische Nachbarland.
Die »Strategie der Spannung« hatte Erfolg. Unter dem Vorwand, eine ultralinke Provokation abzuwehren, schalteten am 25. November 1975 konterrevolutionäre Armeeeinheiten mit Unterstützung der Sozialdemokraten revolutionäre Strukturen, wie das COPCON, aus.
1976 wurde die PS bei den ersten Parlamentswahlen stärkste Partei. Zum Präsidenten der Republik wurde Ramalho Eanes gewählt. Die linken Präsidentschaftskandidaten Otelo Saraiva de Carvalho und der PCP-Kandidat erzielten jeweils 16,5 bzw. 7,6 Prozent.
Die immer mehr nach rechts driftende sozialdemokratische Regierung nahm die Landreform zurück. Bei der Rückgabe der Ländereien, verbunden mit der Entschädigung der ehemaligen Großgrundbesitzer, kam es zu zahlreichen militanten Auseinandersetzungen zwischen dem Landproletariat und den Polizeikräften. Das Verfassungsziel Sozialismus stand nur noch auf dem Papier.
Bereits im Dezember 1979 bildeten rechte Parteien eine Regierung, die in Übereinstimmung mit der sozialdemokratischen Opposition die noch verbliebenen sozialistischen Komponenten der Verfassung eliminierten. Der zeitweise einflussreiche Revolutionsrat wurde abgeschafft. Der Kapitalismus hatte gesiegt. Durch den EU-Beitritt 1986 integrierte sich Portugal in die »westliche Wertegemeinschaft«.
In den vergangenen Dekaden wechselten sich sozialdemokratische und bürgerliche Regierungen ab. Ein neues Phänomen ist heute die Etablierung einer starken rechtsextremen Bewegung. Am 10. März 2024 erzielte die rechtsextreme Partei Chega (»Es reicht«) 18 Prozent bei den Parlamentswahlen und forderte die rechte Opposition auf, mit ihr eine konservativ-faschistische Regierung zu bilden. Diese zögert noch. Noch ist unklar, wie lange diese Brandmauer hält. Oder werden die Nelken wieder blühen?
Der Autor war nach dem 25.April 1974 mit einer westdeutschen Solidaritätsbrigade bei einer kollektiven Produktionseinheit an der Algarve.
Pingback:menschenverachtender Ruanda-Deal, parlamentarischer Rassismus, widerständiger 1. Mai