In einer Zeit, wo sich die Zahl imperialistischer Invasionen und kolonisatorischer Kriege verdichtet, geht Simon Pirani dem Wesen und den Ursachen dieser kriegerischen Invasionen näher auf den Grund. Pirani stellt dabei heraus, dass Expansionskriege und ethnische Vertreibungen keine Anomalie des Kapitalismus sind, sondern geradezu eine Konsequenz des Akkumulationsdrangs des profitorientierten Kapitals. Hier sieht Pirani unter anderem eine augenfällige Parallele zur Klimakrise, weil die ständig anwachsende Verwendung von fossilen Energieträgern in genau diesem Mechanismus der profitgetriebenen Wachstumslogik ihren Ursprung hat. Pirani durchleuchtet diese Profitlogik als Triebkraft hinter den imperialistischen Entwicklungen aber auch in weiterer Hinsicht. (Red.)
von Simon Pirani; aus People and Nature
In diesem Beitrag werde ich zunächst die Kriege in Palästina und der Ukraine kommentieren und darlegen, was sie uns meiner Meinung nach über die Imperien des 21. Jahrhunderts sagen. In einem zweiten Schritt werde ich einen Blick auf die Ursachen der Kriege werfen. Schliesslich werde ich über das Verhältnis von Krieg und sozialen Kämpfen in Russland und der Ukraine sprechen.
1. Palästina und die Ukraine
Der erste Impuls für den neuen Krieg im Gazastreifen war der brutale Überfall der Hamas auf Israel, der zu einer schockierenden Zahl von Opfern in der Zivilbevölkerung führte. Der eigentliche Hintergrund ist jedoch die lange Geschichte des israelischen Siedlerkolonialismus: die illegale Besetzung des Gazastreifens seit 1967; die Blockade des Gazastreifens seit der Übernahme der Kontrolle durch die Hamas bei den Wahlen 2007; die sehr hohe Zahl ziviler Opfer infolge dieser Blockade und der nachfolgenden israelischen Militärangriffe.
All dies rechtfertigt nicht die Angriffe der Hamas auf die Zivilbevölkerung, aber es bildet den Hintergrund für die israelische Militäroperation, die einer kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung gleichkommt. Die absichtliche Unterbrechung der Wasser- und Stromversorgung, der Befehl zur Evakuierung des nördlichen Gazastreifens und die schweren Bombenangriffe auf zivile Ziele sind allesamt Kriegsverbrechen.
Instrumentalisierung des kollektiven Gedächtnisses als politisches Propaganda- und Druckmittel
Dieser mörderische Angriff auf die Zivilbevölkerung, der mit nationalistischer Rhetorik gerechtfertigt wird, ist etwas, das Israels Krieg gegen die Palästinenser:innen und Russlands Krieg gegen die Ukraine gemeinsam haben. Das ist es, was imperialistische Grossmächte im 21. Jahrhundert tun: das westliche Imperium, das Israel unterstützt, und das schwächere russische Imperium, das der Kreml wieder zu beleben versucht. Oder wie die ukrainische Wissenschaftlerin Daria Saburova schrieb:
«Das Übel, dem in den letzten Tagen sowohl israelische als auch palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind, hat seine Wurzeln in der anhaltenden Besetzung und Kolonisierung der palästinensischen Gebiete durch Israel. In diesem Sinne weist die Unterdrückung der ukrainischen und der palästinensischen Bevölkerung Ähnlichkeiten auf: Es geht um die Besetzung unserer Länder durch Staaten mit Atomwaffen und überwältigender militärischer Gewalt, die die Resolutionen der UNO und das Völkerrecht verhöhnen und ihre Anliegen über jeden diplomatischen Dialog stellen.»
In diesem Zusammenhang fällt uns im Vereinigten Königreich der unglaubliche Zynismus und die Heuchelei der britischen politischen Klasse auf, von denen viele die russischen Kriegsverbrechen verurteilen, sich aber ausdrücklich weigern, die israelischen Kriegsverbrechen zu verurteilen, die eigentlich schrecklich ähnlich sind.
In den letzten drei Wochen haben wir zudem auch eine neue Welle der öffentlichen Hetze erlebt – in den Medien, in der Regierung und in den grossen politischen Parteien – gegen den palästinensischen Kampf und jeden, der ihn unterstützt.
Der Kern dieses Wahnsinns ist die Instrumentalisierung der nationalen Identität und der Geschichte im Dienste des Militarismus: Damit meine ich 1.) die falschen Behauptungen hochrangiger israelischer Politiker:innen, dass die israelische Politik alle Jüd:innen vertritt und dass Kritik daran gleichbedeutend mit Antisemitismus sei, und 2.) den Verweis auf den Holocaust als Rechtfertigung für Israels Handeln. Durch diese Verdrehung der Geschichte werden die jüdischen Opfer des Holocaust, die oft hilflos einer übermächtigen Militärmaschinerie ausgeliefert waren, mit dem israelischen Staat gleichgesetzt.
Diese westlichen Appelle an die nationale und rassische Spaltung und der Missbrauch des historischen Gedächtnisses erinnern an die Propaganda, mit der der russische Staat seine Angriffe auf die Ukrainer verteidigt. Präsident Putin und andere führende russische Politiker:innen haben seit Langem die Legitimität der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, Sprache und Kultur geleugnet und die Existenz der Ukraine selbst als historischen Unfall abgetan, den Russland nun rückgängig machen will. Die Erzählung des Kremls beschwört aber eben auch die historische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, indem sie die Ukrainer:innen fälschlicherweise mit dem Faschismus gleichsetzt werden – also die Ukrainer:innen, deren Vorfahren in den 1940er Jahren millionenfach im Kampf gegen den Faschismus starben.
Man kann auch einen Vergleich anstellen zwischen den geeinten Bemühungen in Europa und den USA, pro-palästinensische Stimmen, einschliesslich pro-palästinensischer jüdischer Stimmen, zum Schweigen zu bringen, indem man sie fälschlicherweise als antisemitisch disqualifiziert, und zwischen den Anstrengungen des russischen Staates, pro-ukrainische oder auch nur Anti-Kriegs-Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem man sie als Unterstützer:innen des Terrorismus bezeichnet.
Das Ausmass an staatlicher Repression und innerstaatlichem Terror ist in Europa viel, viel geringer als in Russland, aber die Logik der Propaganda ist ähnlich.
Imperialistische Expansion und wachsender Rabbau an der Natur folgen der Rationalität der Profitlogik
Wenn wir von dieser gigantischen Mobilisierung von Lügen auf allen Seiten umgeben sind, ist es wichtiger denn je, dass wir uns nicht darauf beschränken, auf diese Lügen zu reagieren, sondern unser eigenes Verständnis für die erschreckenden Ereignisse, die wir erleben, entwickeln. Dies bringt mich zu zwei grundsätzlichen Überlegungen, die ich ausführen möchte.
Ob durch Israel oder gegen die Ukraine: der Wachstumsdrang des Kapitals drängt Imperien zur Ausdehnung
Trotz der sehr unterschiedlichen unmittelbaren Ursachen der Konflikte in Gaza und in der Ukraine, die im Kontext der Krise des Kapitalismus – eines Gesellschaftssystems, in dessen Zentrum das Kapital steht und in dem Staaten und Regierungen den Interessen des Kapitals dienen – betrachtet werden, sind ihre Ursachen grundsätzlich miteinander verwandt.
Zu den kurzfristigen Ursachen des Krieges in Gaza gehören also die Verschärfung der apartheidähnlichen Massnahmen gegen die Palästinenser:innen durch die Netanjahu-Regierung und die Unterstützung für im Wesentlichen rechtsextreme Gruppen zionistischer Siedler:innen bei der Sabotage von Fortschritten auf dem Weg zum Frieden oder zur palästinensischen Eigenstaatlichkeit, was auf palästinensischer Seite alles die Hamas gestärkt hat. Dahinter steht jedoch eine längerfristige Dynamik: die jahrzehntelange Nutzung Israels durch die westlichen Mächte als Bollwerk für ihre Interessen, die Menschen und Ressourcen im Nahen Osten zu kontrollieren.
Im Falle Russlands gehörten das Wiederaufleben des fremdenfeindlichen Nationalismus in der russischen Regierung und die Angst, die Kontrolle über die Ukraine zu verlieren, zu den kurzfristigen Ursachen des Krieges. Aber es gibt auch hier tiefer liegende Ursachen, die damit zu tun haben, wie sich der russische Staat in der postsowjetischen Zeit entwickelt hat und wie seine Beziehungen zum internationalen Kapital sind.
In diesem Zusammenhang hat der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion viel mit den Bewegungen im globalen Süden gemeinsam, die sich dem Imperialismus widersetzen, ganz gleich, ob dieser Imperialismus die Form militärischer Aktionen oder wirtschaftlicher Unterwerfung annimmt.
Der inhärente Expansions- und Akkumulationszwang von Imperien beschleunigt auch die Zerstörung des Klimas
Mein zweiter Hauptpunkt ist also, dass die Ursachen dieser Kriege und die Ursachen des gefährlichen Klimawandels grundlegend miteinander verbunden sind. Sowohl das westliche als auch das russische Imperium sind staatliche Hüter des Weltwirtschaftssystems, das von Natur aus ständig expandieren muss. Das Kapital akkumuliert wird, beutet Arbeitskraft aus und extrahiert Ressourcen.
Auf der einen Seite führt diese endlose Expansion zu Rivalitäten, die die internationale Politik nicht kontrollieren kann. Sie führt also zu Kriegen. Andererseits steigert diese Expansion den materiellen Output der Wirtschaft unaufhörlich und führt zu einer Reihe ökologischer Krisen, von denen die drohende globale Erwärmung durch Treibhausgasemissionen die schwerwiegendste ist.
2. Die Doppelgefahr von Krieg und Klimawandel
Um diese Argumente zu untermauern, werde ich den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingehender untersuchen. Um seine Ursachen besser zu verstehen, schlage ich dazu vor, einen Blick auf die drei Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 zu werfen, auf die Art und Weise, und darauf wie sich die Beziehungen zwischen Russland und den westlichen Mächten in dieser Zeit verändert haben; aber im gleichen Atemzug auch auf das parallele Scheitern der Klimapolitik.
Die kapitalistische und postsowjetische Russische Föderation setzte den Imperialismus seiner Vorgängerstaatengebilde fort
In den frühen 1990er Jahren wurden Russland, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetstaaten rasch in die kapitalistischen Weltmärkte integriert. Sie erlebten so einen verheerenden wirtschaftlichen Einbruch. Und für die westlichen Mächte war Russland eben nicht nur Zentrum eines zusammenbrechenden Imperiums, sondern gerade auch wichtig als führender Exporteur von Öl, Gas und Metallen für den Weltmarkt. Das westliche Kapital versuchte, Russland in dieser Rolle zu stärken.
In den 1990er Jahren hatten die westlichen Mächte noch befürchtet, dass der russische Staat zusammenbrechen könnte. Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Boris Jelzin als Präsident ablöste, begrüssten diese Mächte ihn also als jemanden, der den Staat wieder funktionsfähig machen konnte. Von Anfang an schwebte aber Putin und seinen Kolleg:innn auch eine Art Wiederbelebung des russischen Imperiums vor, das im 18. und 19. Jahrhundert errichtet worden war, und das in gewisser Hinsicht auch im 20. Jahrhundert in Gestalt der Sowjetunion reproduziert worden war.
Putins erste Amtshandlung war denn auch die Zerschlagung der Separatistenbewegung in der südlichen Republik Tschetschenien. Die tschetschenischen Separatist:innen hatten 1996 die russische Armee besiegt; im zweiten Tschetschenienkrieg 1999 reagierte Putin darauf mit einer Taktik der verbrannten Erde gegen die Zivilbevölkerung, wie sie heute auch in der Ukraine angewendet wird.
Die westlichen Mächte unterstützten diese Aktion damals als Teil des so genannten „Kriegs gegen den Terror“, den sie selbst in Afghanistan und im Irak führten.
Die Russische Föderation verstärkte die imperialistische Kontrolle nach aussen und die autoritäre Kontrolle nach innen
Darüber hinaus hat Putin den Staat gestärkt und zentralisiert. Er begann einen Angriff auf demokratische Rechte und unabhängige Medien, der bis heute anhält. Er wandte sich gegen die so genannten „Oligarch:innen“, die politisch einflussreichen Geschäftsleute, welche die Kontrolle über die Öl-, Gas- und Metallunternehmen übernommen hatten, und zwang sie zur Zahlung einiger Steuern. Einige Vermögenswerte wurden auch wieder in Staatseigentum überführt, um die Kontrolle darüber an Putins frühere Kolleg:innen aus den Sicherheitsdiensten zu übergeben.
Dem Westen ist jeder Potentat billig, der das Interesse des Kapitals im ehemaligen Sojwetraum durchsetzte
Während der ersten beiden Amtszeiten Putins, von 2000 bis 2008, stiegen die Ölpreise stetig an und die russische Wirtschaft boomte. Das Absinken des Lebensstandards der Menschen in den 1990er Jahren wurde so rückgängig gemacht.
Das russische Kapital blühte auf, nicht weil es industrielle oder technologische Kapazitäten entwickelt hatte, sondern dank der enormen Einnahmen aus dem Export von Öl, Gas und Metallen. Die Einnahmen aus diesen Exporten wurden zumeist nicht in Russland investiert, sondern re-exportiert, z. B. auf den Londoner Immobilienmarkt oder als Bargeld in Offshore-Zonen. Es war und bleibt eben eine parasitäre und keine entwicklungsfördernde Form des Kapitalismus.
Und doch in den frühen 2000er Jahren sahen die westlichen Mächte in Putin aber vor allem einen Gendarmen, der die Interessen des Kapitals im ehemaligen sowjetischen Raum schützen sollte. Und Russland wurde in die so genannte „G7 plus eins“ der stärksten kapitalistischen Mächte der Welt aufgenommen.
Zu dieser Zeit dehnte sich die NATO nach Osteuropa aus: 2004 wurden sieben osteuropäische Staaten aufgenommen. Damals gab es sogar Diskussionen über einen NATO-Beitritt Russlands, die jedoch im Sande verliefen.
Im Jahr 2007, auf dem Höhepunkt des Ölbooms, prangerte Putin in einer Rede in München die von den USA dominierte „unipolare Welt“ an. Manche sahen darin ein Zeichen dafür, dass Russland zusammen mit den anderen BRICS-Staaten ein Gegengewicht zum westlichen Imperialismus bilden könnte. Doch im Westen löste dies kaum Furore aus. Im Gegenteil, die westlichen Mächte liessen es zu, dass Putin seine imperiale Macht im ehemaligen sowjetischen Raum nach eigenem Gutdünken ausüben konnte. Bei seinem Einmarsch in Georgien im Jahr 2008 drückten sie ein Auge zu.
Wendepunkt in den Ost-West-Beziehungen: Russland wurde nicht der östliche Vorposten des westlichen Imperialismus, sondern imperialistischer Konkurrent
Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/ 09 aber war ein wichtiger Wendepunkt. Das russische Kapital wurde tief erschüttert. Der Lebensstandard im gesamten ehemaligen sowjetischen Raum stagnierte und begann wieder zu sinken. In den Jahren 2011/ 12 kam es in Russland folglich zu grossen Protestbewegungen, die das Putin-Regime nur mit Mühe in den Griff bekam.
Diese soziale Instabilität kulminierte 2013/ 14 im sogenannten Maidan-Aufstand in der Ukraine, dem Sturz von Präsident Janukowitsch und der militärischen Intervention Russlands in der Ukraine.
Zu diesem Zeitpunkt griffen die westlichen Mächte ein, um ihren russischen Gendarmen des stabilen Kapitalismus und zuverlässigen Exports aus Russland zu disziplinieren. Dabei ging es ihnen weniger um Russlands Unterstützung für die faschistoiden Separatist:innen in der Ostukraine als vielmehr um die Annexion der Krim, die eindeutig gegen das Völkerrecht verstiess. Gegen Russland wurden Sanktionen verhängt – aber nur begrenzt.
Diese Massnahmen hielten den Kreml allerdings nicht davon ab, 2015/ 16 in Syrien zu intervenieren, um den Krieg des Assad-Regimes gegen seine eigene Bevölkerung zu unterstützen. Während die Propaganda der westlichen Mächte also vorgab, es gäbe keine „Einflusssphären“ für konkurrierende imperiale Armeen, zeigte Syrien, wie klar diese Einflusszonen bereits definiert waren. Putins Regime und seine Söldner:innen erhielten in Syrien freie Hand, während die Westmächte ihre eigenen imperialen Interventionen in Afghanistan und Libyen durchführten.
Erst im Februar 2022 gaben die Westmächte infolge der russischen Invasion in der Ukraine ihre Politik der begrenzten Zusammenarbeit mit der russischen Regierung auf. Dies war ein einschneidender Wendepunkt.
Drahtseilakt zwischen den Imperien: Modus vivendi zwischen inter-imperialistischen Konfrontation und Profitlogik
Die Politik der westlichen Mächte besteht jedoch auch jetzt weiterhin nur darin, Russland einzudämmen und zu kontrollieren. Aber immer so, dass insbesondere die Ölexporte Russland weiterhin auf die Weltmärkte fliessen können.
Die gegen russisches Öl verhängten Sanktionen haben die Fähigkeit der Regierung, ihren Angriff auf die Ukraine zu finanzieren, nicht wesentlich beeinträchtigt.
Im Jahr 2022 stiegen die Weltölpreise nach der Invasion sprunghaft an. auch die Einnahmen Russlands aus dem Ölverkauf schossen in die Höhe. Ende 2022 einigten sich die westlichen Länder auf eine Preisobergrenze für russisches Öl von 60 $/Barrel, die jedoch nicht wirksam überwacht wird.
Russisches Öl wird an China, Indien und andere Länder verkauft, die es raffinieren und die Ölprodukte an westliche Länder verkaufen; eine Flotte von „Schatten“-Tankern wird eingesetzt, um die Sanktionen zu umgehen.
Das Ergebnis ist, dass Russlands Gesamtexporterlöse sowohl im letzten als auch in diesem Jahr weit über dem Durchschnitt lagen, die Steuereinnahmen daraus gestiegen sind und der russische Fiskus für das nächste Jahr sogar mehr als je zuvor für das Militär ausgeben will, nämlich mehr als 100 Milliarden Dollar.
Während die westlichen Mächte bestrebt sind, Russlands Rolle als Rohstoffexporteur zu erhalten, sind sie eben auch gerne bereit, seine militärische Macht zu untergraben, und zwar in einer Weise, wie sie es vor Februar 2022 nicht getan haben. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass Aserbaidschan – in dem Bewusstsein, dass Russland nicht eingreifen kann, solange seine Armee in der Ukraine gebunden ist – ermutigt wurde, mit Unterstützung der Türkei den Streit mit Armenien um Berg-Karabach durch ethnische Säuberung der armenischen Bevölkerung zu „lösen“.
Die Doppelgefahr des Imperialismus und der klimafeindlichen Art zu wirtschaften
Dabei besteht zwischen dieser Dynamik, die zum Krieg in der Ukraine führte, und der Dynamik, die uns in die Klimakrise geführt hat, ein wesentlicher Zusammenhang.
Beginnen wir wieder in den frühen 1990er Jahren. Der internationale Vertrag über den Klimawandel wurde 1992 in Rio unterzeichnet. Die Wissenschaftler:innen waren bereits zu dem Schluss gekommen, dass der Treibhauseffekt für die Menschheit gefährlich ist und dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe die Hauptursache ist: 1992 war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Beweise so eindeutig waren, dass sie von allen Regierungen der Welt akzeptiert wurden.
Der Vertrag sah Massnahmen zur Verhinderung einer gefährlichen globalen Erwärmung vor, die jedoch nicht ergriffen wurden. Die USA und andere Mächte wehrten sich gegen den Grundsatz, dass die Nationen verbindliche Ziele zur Reduzierung ihrer Emissionen festlegen sollten. Es wurde der Mythos erfunden, dass Marktmechanismen genutzt werden könnten, um die notwendigen Veränderungen herbeizuführen, obwohl der einzige Mechanismus, der eine gewisse Wirkung hätte erzielen können, nämlich eine globale Kohlenstoffsteuer, abgelehnt wurde. Dieser Mythos bildete die Grundlage für das Kyoto-Protokoll von 1997, das den so genannten Emissionshandel vorsah.
Das Ergebnis war, dass die Treibhausgasemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe in den drei Jahrzehnten seit der Unterzeichnung des Rio-Abkommens kontinuierlich angestiegen sind. Die Geschwindigkeit, mit der die Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, ist heute dabei um mehr als 60 % höher als im Jahr 1992.
Dies ist ein katastrophales Versagen der stärksten Regierungen der Welt und des nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Systems der internationalen Governance. Die Menschen im globalen Süden, die von den extremen Wetterbedingungen betroffen sind, zahlen bereits einen schrecklichen Preis, und die Gesellschaft als Ganzes wird noch einen noch höheren Preis zahlen müssen.
Stärkung des System Putin und Förderung fossiler Energieträger: Symptome des ungehemmten Kapitals in der postsowjetischen Ära
Nur was war der politische Hintergrund für dieses Scheitern? Der Vertrag von Rio wurde kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterzeichnet. Die Illusionen des Kapitals über seine eigene Macht wurden noch verstärkt. In den „Roaring Nineties“ wurde die Globalisierung durch die elektronische Technologie und die Ausweitung der Offshore-Finanzzonen beschleunigt. Der Neoliberalismus führte einen Krieg gegen die Regulierung der Wirtschaft.
Sowohl die westlich-russischen Beziehungen als auch der Umgang der westlichen Mächte mit dem Klimawandel wurden von diesem Boom geprägt, der sich nach der kurzen Unterbrechung durch die asiatische Finanzkrise von 1998, der über das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts anhielt.
In dieser Welt war Russland für die westlichen Mächte als Quelle für Öl, Gas und Kohle von Bedeutung. Im Wirtschaftschaos der 1990er Jahre gingen diese Ströme zurück, doch während der ersten beiden Amtszeiten Putins, zwischen 2000 und 2008, strömten diese fossilen Brennstoffe in Rekordmengen auf die Weltmärkte. Putin war ein Garant für diese Ströme; die politischen Spannungen mit ihm wurden als ein Preis angesehen, den es zu zahlen galt. Diese Kalkulation änderte sich erst im Februar 2022.
Priorisierung des fossilen Wachstums als Folge des akkumulationsgetriebenen Kapitals
Während die westlichen Mächte ihre eigenen Kriege führten und Putin erlaubten, die seinen zu führen, schürten sie auch die Krise der übermässigen Treibhausgasemissionen. Sie sorgten für die unwirksame Kombination aus freiwilligen Massnahmen und Marktmechanismen, die vorgeschlagen wurden, um die globale Erwärmung in den Griff zu bekommen, während die Klimawissenschaftler:innen mit jedem weiteren Bericht verzweifelter Alarm schlugen.
Sie sorgten dafür, dass weiterhin Subventionen in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar an die Industrie für fossile Brennstoffe geflossen sind. Sie sorgten für die Verzerrung des Konzepts „Netto-Null“, um so zu tun, als ob das Emissionsproblem in Zukunft durch fantastische technische Lösungen gelöst werden könnte, bei denen riesige Mengen an Treibhausgasen mit unbewiesenen Technologien aus der Atmosphäre gesaugt werden.
Ein von den Regierungen verbreiteter Irrglaube ist, dass die durch den Klimawandel verursachten Schäden noch nicht real sind, sondern dass es sich um potenzielle Schäden in der Zukunft handelt. Doch in den letzten Jahren sind Millionen von Menschen, vor allem im globalen Süden, extremen Wetterereignissen zum Opfer gefallen, die Meteorolog:innen zufolge durch den Klimawandel viel wahrscheinlicher geworden sind: die Menschen, die vertrieben wurden durch die Überschwemmungen und Dürren im südlichen Afrika in den Jahren 2019 und 2020, die Überschwemmungen in Pakistan im vergangenen Jahr und die extreme Hitze in Indien in diesem Jahr.
Die falschen Diskurse über den Klimawandel erinnern mich an den Berg von Lügen über Kriege. Wenn die Politiker:innen der imperialen Mächte die Wahrheit auf den Kopf stellen und den palästinensischen Opfern israelischer Gewalt erzählen, dass sie versuchen, ihnen zu helfen, können wir Anklänge an ihre Rhetorik über den Klimawandel hören, die weitere Jahrzehnte der mit fossilen Brennstoffen betriebenen wirtschaftlichen Expansion ermöglicht hat.
Diese politische Elite erleichtert die Prozesse der Kapitalakkumulation und der ständigen wirtschaftlichen Expansion, die den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts kennzeichnen und den Imperialismus stützen. Man schaue sich nur mal die Reaktion der führenden Regierungen der Welt auf die beiden Krisen an, die das Wirtschaftswachstum in den letzten zwei Jahrzehnten unterbrochen haben – die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 und die Covid-19-Pandemie.
Beide Male wurde das Wachstum der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Treibhausgasemissionen vorübergehend gestoppt. Doch in beiden Fällen wurden rasch Hunderte von Milliarden Dollar mobilisiert, um die Expansion wieder zu beschleunigen.
Sind Staaten und Regierungen sowie internationale Regierungsstrukturen wie die UNO nicht willens oder nicht in der Lage, das monströse Chaos der kapitalistischen Expansion zu kontrollieren? Zweifellos gibt es eine komplizierte Kombination. Sicher ist nur, dass sie es nicht tun.
Aus diesen Gründen argumentiere ich dafür, dass die Ursachen von Kriegen und der Klimakrise zusammenhängen.
3. Russland und die Ukraine
Ich möchte nun darlegen, dass die Ursachen von Kriegen nicht nur in den Spannungen zwischen imperialen Mächten und anderen Nationen liegen, sondern auch in den Spannungen zwischen Staaten und Gesellschaften. Was die Zivilgesellschaft tut, ist hier entscheidend: Klassenkämpfe, Bewegungen für Demokratie, für Frauenrechte, für ökologische Fragen und so weiter. Letztlich ist der Krieg nämlich ein Mittel der sozialen Kontrolle. Er ist mit Formen der staatlichen Unterdrückung sozialer Bewegungen verbunden und geht mit ihnen einher. Um dies zu untermauern, möchte ich drei Punkte zu Russlands Krieg gegen die Ukraine betrachten.
Das russische Regime möchte Zivilbevölkerungen in seiner Einflusssphäre kontrollierbar halten
Der erste Punkt betrifft die sozialen Bewegungen. Ich habe oben bereits die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/ 09 erwähnt, die sozialen Verwerfungen in der gesamten ehemaligen Sowjetunion verursachte, sowie die Unzufriedenheit und die sozialen Bewegungen, die darauf folgten, in Russland selbst wie auch in der Ukraine. In der Ukraine gipfelten diese 2014 in dem chaotischen und politisch heterogenen Maidan-Aufstand, der die Regierung Janukowitsch stürzte.
Die Ereignisse in der Ostukraine zu dieser Zeit verdienen an dieser Stelle aber auch einen eigenen Hinweis. Die Partei der Regionen, deren Vorsitzender Janukowitsch war und die die grösste Partei im Parlament darstellte, war von den Industriekapitalist:innen der Ostukraine gegründet und finanziert worden.
Diese Partei war bestrebt, die Spaltung zwischen den östlichen Gebieten, in denen es einen hohen Anteil an russischsprachigen Menschen gibt, und der Zentral- und Westukraine zu verschärfen. Unterstützt wurden sie dabei nicht nur durch den kruden Nationalismus einiger Politiker:innen in Kyiv, sondern auch durch den Kreml, der in Janukowitsch einen Verbündeten sah.
In der Ostukraine gab es eine gewisse gesellschaftliche Unterstützung für die regionale Autonomie, die von der Partei der Regionen noch verstärkt wurde. Aber nur die bewaffneten Milizen, die 2014 die sogenannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk bildeten, befürworteten eine eigentliche nationale Abspaltung.
Die militärische Offensive Russlands in der Ukraine begann 2014, mit Unterstützung für diese Republiken. Denn der Kreml sah darin ein Mittel, um den ukrainischen Nationalstaat zu untergraben, der sich aus der russischen Umlaufbahn in Richtung Europäische Union bewegte.
Die Auswirkungen der militärischen Intervention auf die lokale Bevölkerung waren verheerend: Die Wirtschaft wurde zerstört; viele der grossen Kohlebergwerke, Verarbeitungsbetriebe und Stahlwerke wurden geschlossen, und Tausende von Arbeitsplätzen gingen verloren. Die Bevölkerung der Region schrumpfte um die Hälfte, und Millionen von Menschen wurden entweder in die Ukraine oder nach Russland vertrieben.
Doch warum zog sich dieser Konflikt nicht nur in die Länge, sondern mündete im vergangenen Jahr [2022; Anm. Red ] in einer offenen russischen Invasion? Auch hier muss der soziale Wandel im gesamten ehemaligen sowjetischen Raum berücksichtigt werden.
Im Jahr 2020 kam es zu einer grossen nationalen Revolte gegen die Wahlfälschung in Belorus und in den Jahren 2020 und 2021 zu einem Aufschwung der Proteste in Russland selbst. Im Januar 2022 erschütterten Arbeitskämpfe und Strassenunruhen die Regierung von Kasachstan.
Auf politischer Ebene wird Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, darauf zurückzuführen sein, dass es ihm nicht gelungen ist, Präsident Zelenskyj in Fragen der ukrainischen Souveränität zum Einlenken zu bewegen. Zelenskyj, der 2019 gewählt worden war und den Frieden als zentralen Punkt in sein Programm aufgenommen hatte, weigerte sich, Territorium abzutreten, um Frieden zu erreichen. Dieses Scheitern der Diplomatie fiel jedoch mit den von mir erwähnten sozialen Bewegungen zusammen, die den Kreml in Zugzwang brachten.
Nicht nur das Bestreben, die Zivilgesellschaft zu kontrollieren, war eine Ursache für die Invasion, sondern auch der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die russische Armee war ein wesentlicher Grund für ihr Scheitern.
Krieg als Ventil gegen innere Spannungen: Expansion nach aussen schweisst zusammen nach innen
Der zweite Punkt ist, dass Staaten in Krisenzeiten auf den Weg des Autoritarismus und der Förderung nationalistischer, fremdenfeindlicher und faschistischer Ideologien getrieben werden. Die russische Elite hat mit ihren offenen Aufrufen zur Vernichtung der Ukraine ein anschauliches Beispiel dafür geliefert. Dies sind politische und ideologische Instrumente der sozialen Kontrolle; sie werden eingesetzt, um Teile der Bevölkerung hinter dem Regime zu mobilisieren oder sich zumindest die Duldung der Bevölkerung zu sichern.
Der Staat als inter-imperialistischer Machtapparat
Und drittens überschneidet sich der Einsatz dieser ideologischen Instrumente mit den Funktionen des Staates im Bereich der wirtschaftlichen Verwaltung. So opferte die Regierung Putin 2014 und auch 2022 eine pragmatischere Verwaltung der Wirtschaft zugunsten von Politik und Ideologie. Im Jahr 2014 betrachtete der Kreml die westlichen Sanktionen, die daraus resultierende mangelnde Kreditvergabe an russische Unternehmen und die wirtschaftliche Stagnation halt als Preis, der für die militärische Intervention in der Ukraine zu zahlen war.
Im Jahr 2022 wurde dies noch übertroffen. Nicht nur die russische Wirtschaft war mit den Sanktionen gegen Ölexporte und Finanztransaktionen konfrontiert, sondern der Kreml beschloss auch selbst, den über Jahrzehnte aufgebauten russischen Gashandel mit Europa durch das staatliche Gasunternehmen Gazprom zu zerstören. Die Wirtschaft wurde geopfert und den Erfordernissen der militärischen Expansion untergeordnet.
Konklusion
Erstens: Die Kriege Israels gegen die Palästinenser:innen und Russlands gegen die Ukraine, die beide mit mörderischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung geführt werden, sind keine Anomalien, sondern sind charakteristisch für den Imperialismus des 21. Jahrhunderts. Die Allianz der westlichen Mächte, die man als Imperium bezeichnen kann, unterstützt Israel; sie sorgt auch für die wirtschaftliche Unterwerfung des globalen Südens. Russland ist, wenn auch geschwächt, ein Imperium, das seine Elite wieder zu beleben versucht.
Zweitens sind die Ursachen dieser Kriege und des Klimawandels beide in der Krise des Kapitals verwurzelt, das von Natur aus ständig akkumulieren und die wirtschaftliche Expansion vorantreiben muss. Die kapitalistischen Staaten und ihre internationalen Institutionen haben jahrzehntelang eine mit fossilen Brennstoffen betriebene Wirtschaftsexpansion angeführt, die die Krise der exzessiven Treibhausgasemissionen und die damit verbundenen Bedrohungen für die Menschheit hervorgebracht hat.
Drittens kann nichts von alledem nur mit Blick auf die Staaten, ihre Rivalitäten und ihre Beziehungen zum Kapital verstanden werden. Die Gesellschaft spielt eine Rolle. Im Fall der Ukraine war der Einmarsch Russlands vor allem eine Reaktion auf soziale Bewegungen, die der Kreml fürchtete und nicht kontrollieren konnte. Auch die ukrainische Gesellschaft hat eine zentrale Rolle beim Widerstand gegen die Invasion gespielt.
Viertens und letztens: Meiner Ansicht können Widerstand gegen das Imperium, gegen Krieg und die Bewältigung des gefährlichen Klimawandels nur von einer Zivilgesellschaft geleistet werden, die unabhängig von kapitalistischen Staaten und gegen kapitalistische Eliten sowie die mit ihnen verbundenen politischen Eliten handelt.
Übersetzt durch Redaktion der BFS