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Lohnentwicklung in der Schweiz: Ein Triumph der Unternehmen

Nie seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Reallöhne in der Schweiz so lange ununterbrochen gesunken. Die Unternehmen überwälzen die Preissteigerungen auf die lohnabhängigen Konsument:innen und schützen damit ihre Profite, um sich weiter Rekorddividenden auszuzahlen. Das ist die real existierende Umverteilung von unten nach oben.

von Agostino Soldini (Gewerkschafter VPOD)

Seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen

Die Reallöhne in der Schweiz sind rückläufig. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) sind die Reallöhne zwischen 2020 und 2023 um 3,1% gesunken (-0,8% im Jahr 2021; -1,9% im Jahr 2022; -0,4% im Jahr 2023). Drei Jahre in Folge sanken also die Reallöhne – das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben!

Die Beträge, um die es dabei geht, sind alles andere als unbedeutend. So liegt die jährliche Kaufkraft eines Lohnabhängigen mit Medianlohn “heute 2860 Franken niedriger als noch 2020” (NZZ, 25. Juli 2023). Doch in Wirklichkeit ist der Rückgang sogar noch gravierender. Der Landesindex der Konsumentenpreise (LIK), der zur Messung der Inflation herangezogen wird, unterschätzt nämlich die tatsächliche Entwicklung der Lebenshaltungskosten erheblich. Man braucht sich nur daran zu erinnern, dass die Krankenkassenprämien, die nicht im LIK eingerechnet sind, innerhalb von 13 Monaten – zwischen Dezember 2022 und Januar 2024 – im Landesdurchschnitt um fast 15% gestiegen sind.

Keine Aufholjagd in Sicht

Im öffentlichen Sektor ist die Situation auch nicht viel besser als in der Privatwirtschaft, wie das Beispiel des Kantons Waadt zeigt. In der Veröffentlichung des Waadter Amts für Statistik heisst es, dass “im Zeitraum 2020-2022 […] im öffentlichen Sektor der Reallohn um 4,3% gesunken ist” (Numerus, 4. Juni 2024). Bis auf wenige Ausnahmen haben sich andere Kantonen ähnlich entwickelt.

Aber es kommt noch schlimmer: Es ist nämlich kein Entwicklungstrend absehbar, dass die in den letzten Jahren erlittenen Lohnverluste wieder aufgeholt würden. So stiegen die Nominallöhne in der Schweiz im ersten Quartal 2024 nur um 0,6%, was wiederum weit unter dem Anstieg des LIK, also der Inflation, liegt.

Zehnmal weniger als in Deutschland

Im Gegensatz dazu haben “die Deutschen […] die höchsten Lohnerhöhungen seit 16 Jahren erhalten” (24 heures, 1. Juni 2024). Und das aus gutem Grund: “Seit den 1990er Jahren gab es in Deutschland nicht mehr so viele Streiks, vor allem im Transportwesen und im öffentlichen Dienst” (ebd.). Mit dem Ergebnis, dass die Nominallöhne um 6,4% (Reallöhne: 3,8%) gestiegen sind, also zehnmal so stark wie in der Schweiz (0,6%). Im Bereich “Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung” betrug der Anstieg dabei 9,1% und im Bereich “Erziehung und Unterricht” 8%.

Dieser grosse Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Denn die Lohnentwicklung hängt letztlich vom Kräfteverhältnis zwischen den Lohnabhängigen und den Unternehmen ab. Zwar spielen die Arbeitslosenquote, das Vorhandensein und der Umfang einer “industriellen Reservearmee” usw. durchaus eine Rolle. Entscheidend aber ist die Fähigkeit der Lohnabhängigen zur Selbstorganisation und kollektiven Mobilisierung. In gerade in dieser Hinsicht gibt es zwischen den beiden Ländern einen deutlichen Unterschied. Anders ausgedrückt, in der Schweiz zahlen wir den Preis für einen jahrzehntelangen Arbeitsfrieden.

Die Aktionär:innen fressen sich voll

Die sinkenden Reallöhne sind das Ergebnis davon, dass die Unternehmen einen immer grösseren Teil des Reichtums für sich beanspruchen wollen, der letztlich von niemand anderem als den Lohnabhängigen erwirtschaftet wurde. Dies zeigt sich in den Rekorddividenden (der Anteil der Unternehmensgewinne, der an die Aktionär:innen ausgeschüttet wird): 2024 werden 64 Milliarden Franken für die im Swiss Performance Index (SPI) gelisteten Unternehmen ausgeschüttet, was einem Anstieg von 2,2% gegenüber dem Vorjahr entspricht und auf einen Anstieg von 6,3% zwischen 2022 und 2023 folgt (NZZ, 19. April 2024). Hinzu kommen die Milliarden, die aufgrund von Aktienrückkaufprogrammen eingenommen werden – ein weiteres Mittel zur Vergütung von Aktionär:innen.

Entgegen des Mythos, der von Unternehmen gerne bemüht wird, liegt dies auch nicht an der sogenannten “Lohn-Preis-Spirale”. Dies bestätigt auch die Tageszeitung der Bahnhofstrasse: “Anders als in den USA oder im Euro-Raum konnten in der Schweiz jüngst keine Anzeichen für eine solche Spirale beobachtet werden. Dafür gibt es viele Gründe, etwa eine generelle Lohnzurückhaltung, eine meist dezentral in einzelnen Betrieben stattfindende Lohnfestsetzung, eine Konsenskultur zwischen Sozialpartnern und ein steter Lohndruck aufgrund hoher Zuwanderung. Entsprechend sind die Löhne in den vergangenen drei Jahren real stets gesunken.” (NZZ, 23. Februar 2024)

In Wirklichkeit ist eine ganz andere Logik am Werk, wenn die Preise in die Höhe getrieben werden: “Im Lichte ihrer jüngsten Ergebnisse zeigen die Unternehmen heute ihre Fähigkeit, ihre Gewinne vor der Inflation zu schützen, indem sie die gestiegenen Kosten ganz oder teilweise an ihre Kunden weitergeben. Dies ermöglicht es ihnen, Rekorddividenden auszuschütten und beispiellose Aktienrückkäufe zu planen.” (Patrick Botteron, Direktor des Private Banking Onshore der Banque Cantonale Vaudoise, 24 heures, 22. Mai 2023). Man muss also vielmehr von einer Preis-Gewinn-Spirale sprechen oder schlicht von einer Umverteilung von unten nach oben.

Darüber hinaus haben Unternehmen in den letzten Jahren ein Steuergeschenk nach dem anderen erhalten: Steuerbefreiung für Dividenden, Einführung von Vermögenssteuerbremsen, Senkung der Gewinnsteuer etc. Es ist wirklich Zeit für einen Kurswechsel.

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