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Die Schweiz und die «Friedenskonferenz»

Die Schweiz hält am 15. und 16. Juni 2024 auf dem Bürgenstock in der Nähe von Luzern eine internationale Konferenz für einen Friedensprozess in der Ukraine ab. Die Schweizer Regierung spielt als Gastgeberin der Friedenskonferenz eine äusserst widersprüchlich Rolle. Während das jahrzehntelange Hofieren von russischen Oligarchen die Kriegskassen des Kremls füllte, spielt sich die Schweiz als «neutrale» Vermittlerin auf.

von H. Baumann (BFS Zürich)

Über Jahrzehnte wurde die russische Kriegsmaschine mit Geldern und Gütern aus der Schweiz unterstützt. So liefen etwa 60 Prozent des russischen Rohstoffhandels v. a. über Unternehmen in den Kantonen Genf und Zug. Auch aktuell geht die Unterstützung – wenn auch reduziert – weiter. Von der Schweizer Wirtschaft hätte Putin nicht so massiv profitieren können, wenn die Politik nicht mitgemacht hätte. Viele bürgerliche Politiker:innen hiessen russische Unternehmen gerne in der Schweiz willkommen. Vor allem russische Rohstoffhändler konnten und können hier darauf vertrauen, dass ihnen die Verwaltung nicht nur sehr niedrige Steuersätze bietet, sondern sich auch an anderer Stelle so entgegenkommend wie möglich verhält. (1)

Die Schweiz hat nicht nur jahrzehntelang russischen Oligarchen Steuererleichterungen gewährt, sondern sich nach Kriegsbeginn auch geweigert, die Vermögenswerte dieser Oligarchen vollumfänglich zu beschlagnahmen. Von den in der Schweiz vorhandenen Oligarchen-Milliarden ist wohl nur ein Bruchteil sanktioniert. Erst im Frühjahr diesen Jahres hat der Nationalrat, vor allem auf Druck der FDP, beschlossen, dass die Schweiz der G7-Arbeitsgruppe REPO (Russian Elites, Proxies and Oligarchs) nicht beitreten wird.

Auch durch den Verkauf von Dual-Use-Produkten trägt die Schweiz zur Aufrüstung der russischen Kriegsmaschinerie bei. Trotz Sanktionen gehen die Exporte von Schweizer Chips und Präzisionsgeräten nach Russland weiter. Wie Zolldaten zeigen, nehmen die Exporte nun den Weg über Länder wie China und die Türkei. (2)

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führt innerhalb der Schweiz (erneut) zu heftigen Diskussionen über die Neutralität. Einmal mehr erweist sich die Flexibilität dieses Konzepts als ausgesprochen funktional für die heimischen Kapitalinteressen. Schon Max Frisch wusste: In der Schweiz herrscht «das Recht auf Geschäfte mit dem Krieg».

Flexible Neutralität

«Niemand weiß genau, was Neutralität eigentlich ist. Jeder und jede in der Schweiz und anderswo interpretiert diesen Begriff auf eigene Weise.» So zitierte die Zeitschrift Le Monde Diplomatique im Juni 2023 Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Zala ergänzte, dass man seit den 1920er Jahren zwischen dem sehr eng gefassten Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik unterscheide. Dies verschaffe der Schweiz einen beträchtlichen Manövrierraum, so dass sie im Wesentlichen machen könne, was sie will. Beispielsweise kann sie die Neutralität, je nach Kontext, mit allen möglichen Adjektiven ausstatten; als ewige, als bewaffnete, als differenzielle oder vollständige, als strikte oder kooperative.

Während SVP-Nationalrat und Verleger der rechtsliberalen Weltwoche Roger Köppel Anfang 2022 für einen «integralen Neutralitätsbegriff» warb, versuchte Bundesrat Ignazio Cassis die «kooperative Neutralität» zu lancieren. Nach der umfassenden militärischen Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine, verband die Regierung ihre «neutrale» Positionierung offensiv mit der Ablehnung von Wirtschaftssanktionen. Erst der wachsende Druck aus dem In- und Ausland zwang den Bundesrat nach Tagen des Zögerns und Zauderns zum Einlenken; am 28. Februar 2022 übernahm die Schweiz die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland. Obwohl das sowohl neutralitätspolitisch als auch -rechtlich völlig in Ordnung war, berichtete die New York Times in den «Breaking News», die Schweiz habe nun mit ihrer 500-jährigen «tief verwurzelten Tradition der Neutralität» gebrochen. Das russische Aussenministerium erklärte fast gleichlautend, die Schweiz habe bedauerlicherweise ihren neutralen Status aufgegeben und sei nun ein «feindlicher Staat». Im Inland liess Christoph Blocher in der NZZ verlauten: «Wer bei wirtschaftlichen Sanktionen mitmacht, ist eine Kriegspartei». (3)

Diese «Zeitenwende»-Statements lenken davon ab, dass die Sanktionen in der Schweiz nur sehr zaghaft umgesetzt wurden und werden. Obwohl sich derzeit, wie die Financial Times berichtet, Dubai zum «neuen Genf» des Ölhandels entwickelt (Recherchen von Public Eye bestätigen dies), bleibt die Vertretung russischer Interessen in den Bereichen Vermögensverwaltung und Rohstoffgeschäfte in der Schweiz intakt. (4)

An zwei Beispielen lässt sich dies illustrieren:

1. Im Herbst 2023 berichtete SRF, es bestehe der Verdacht, dass Schweizer Unternehmen Umgehungsgeschäfte betreiben. Seit Kriegsbeginn liefern Schweizer Firmen viel mehr Produkte in Russlands Nachbarländer: Usbekistan: plus 24 Prozent. Kasachstan: plus 39 Prozent. Armenien: plus 170 Prozent. Im Jahr 2022 waren diese Steigerungen vor allem auf Pharma-Exporte zurückzuführen, 2023 kamen zusätzlich Uhren, Präzisionsinstrumente, Bijouterie und Maschinen dazu. Was diese Länder interessant macht: In unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze sind neue (russische) Firmen entstanden. Da Kasachstan, Kirgistan, Belarus und Armenien Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion sind, gibt es keine Zollgrenzen zwischen diesen Ländern und Russland. Das macht sie zu besonders attraktiven Schleusen, wenn man in die russische Wirtschaft gelangen will. Da auch die Lieferungen aus besagten Ländern nach Russland seit Kriegsbeginn steigen, liegt es nahe, dass hier Sanktionen umgangen werden. (5)

2. Ein aktuelles Beispiel zeigt, wie löchrig und unzureichend die Schweizer Sanktionsbestimmungen sind. Eine Zuger Firma soll in den Handel mit aus der Ukraine geraubtem Getreide involviert sein. Dies unterstreicht einmal mehr auch die problematische Rolle des Schweizer Rohstoffhandelsplatzes: Da die zentralen Transithandelsgeschäfte (6) von Schweizer Unternehmen nicht erfasst werden, bieten die Sanktionsauflagen aktuell keine Handhabe gegen den Handel mit geplünderten Rohstoffen aus der Ukraine. Darüber hinaus stehen all jene Unternehmen sowie Individuen, die nachweislich an der unrechtmässigen Aneignung von Rohstoffen und/oder Infrastruktur sowie der Ausfuhr von geplünderten Rohstoffen aus der Ukraine beteiligt waren oder sind, nach wie vor nicht auf der Schweizer Sanktionsliste.

Von dieser anhaltenden, wenig neutralen Unterstützung des Aggressors wurde auf politischer Bühne abgelenkt, indem die Schweizer Neutralität auf die Frage von Waffen- und Munitionslieferungen reduziert wurde. Grosses Unverständnis löste im Herbst 2022 die Weigerung des Bundesrates aus, eine Bewilligung für den Re-Export von Luftabwehr-Munition und die Lieferung von 96 in Italien eingemotteten Leopard-Panzern via Deutschland an die Ukraine zu erteilen. Exekutive und Administration verschanzten sich hinter einer engen Auslegung der Haager Abkommen von 1907. Im Parlament suchte die Sozialdemokratie zusammen mit dem Freisinn vergeblich nach einem gesetzlichen Weg, um diese Blockierung zu überwinden.

Die Schweiz als “neutrale” Vermittlerin?

Wie Anfang Juni bekannt wurde, hat die Schweiz bereits einen Entwurf für den Gipfelbeschluss auf dem Bürgenstock vorbereitet: ein gemeinsames Kommuniqué über einen Friedensplan. Sollte dieses Kommuniqué angenommen werden, könnte die im Herbst 2023 von Zelenskyj vorgelegte «Friedensformel» weiter entwertet und die russische Position gestärkt werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich die offizielle Schweiz mit der «Friedenskonferenz» auf dem Bürgenstock einmal mehr in ihrer zwielichtigen Rolle als «neutrale» Vermittlerin präsentieren will.

So funktioniert die «Schweizer Neutralität» weiterhin als «moralischer Feuerlöscher» für die schweizerische Politik, welche im marktliberalen Verständnis natürlich nicht dafür zuständig ist, was geschäftstüchtige Unternehmer entlang ihrer globalen Wertschöpfungsketten so alles treiben. Die Neutralität fungiert auch als effizientes Ablenkungsmanöver, das Informationen über den oft verheerenden Impact des wirtschaftlichen Erfolgsmodells Schweiz im Ausland hinter einer nationalmythologischen Nebelwand verschwinden lässt. Neutralität heisst Problemexport plus Gewinnimport. Das schafft inländisch eine biedermännische Atmosphäre, in der es sich um so besser leben lässt, je weniger die Folgen des eigenen Tuns in die gesicherte Heimat hereinbrechen. Das Ausblenden hat System, das Wegsehen ist profitorientiert, die Verdrängung integraler Teil des nationalen Geschäftsmodells.


(1) Siehe ausführlich FAZ: Ein Grüezi für die Oligarchen, 9. September 2023, Nr. 210, S. 3.

(2) Dies geht aus einer Recherche von SRF hervor.

(3) Die Sanktionen gegen Russland wurden (und werden) von der SVP nicht abgelehnt, weil sie die Falschen treffen oder ihre Wirkung verfehlen, sondern weil sie ihren wirtschaftspolitischen Interessen zuwiderlaufen. 2022 hat Christoph Blocher zusammen mit «Pro Schweiz» die sogenannte «Neutralitätsinitiative» lanciert. Die Initiative fordert, dass die Neutralität in der Bundesverfassung verankert werden soll. Im Artikel 54 soll festgehalten werden, dass die Schweiz keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten darf, es sei denn, die Schweiz würde direkt militärisch angegriffen. Untersagt würden der Schweiz auch «nichtmilitärische Zwangsmassnahmen» gegen Krieg führende Staaten. Damit gemeint sind etwa Sanktionen, wie sie die Schweiz aktuell gegen Russland mitträgt. Gegen die Initiative wendet sich z. B. das Manifest Neutralität 21.

(4) Darüber hinaus sind einige Schweizer Unternehmen weiterhin auch direkt in Russland tätig.

(5) Auch Rohstoff-Handelsfirmen sollen die Russland-Sanktionen umgangen haben – via Tochterfirmen im Ausland. Das Seco hat die Bundesanwaltschaft eingeschaltet (SRF).

(6) Bei diesen Geschäften ist zwar ein Schweizer Unternehmen der Händler, die Ware betritt aber nicht Schweizer Boden.

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