Die Forderung nach «Netto-Null-Treibhausgasemissionen» bildet den gemeinsamen Nenner zwischen der Klimabewegung und voranpreschenden Teilen von Finanzbranche, Konzernen und Staaten. Die generelle Haltung in der Klimapolitik hat sich damit weg von der Leugnung bzw. Relativierung der Klimaerhitzung bewegt und eine bedeutende Hürde genommen. Belässt man es aber allein bei dieser radikal anmutenden Forderung, kann dies ineffektive bis imperiale Massnahmen zur Folge haben. Wir tun gut daran, uns rasch auf diese neue Situation einzustellen.
von Emil Spotter (BFS Zürich); aus antikap
Der Begriff «Netto-Null» erlebt Hochkonjunktur. Spätestens seitdem die Schulstreiks für das Klima Ende 2018 weltweit um sich greifen, ist die Forderung in aller Munde. Sie erlaubt, endlich ein greifbareres Ziel in der Klimapolitik zu benennen und Parteien hinsichtlich ihres ökologischen Programms zu vergleichen. Für den Klimastreik Schweiz bspw. war «Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2030» eine der drei Forderungen, auf die sich die Bewegung zu Beginn verständigen konnte. Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit lassen sich drei Punkte beobachten.
1. Die Mehrheit der politischen Parteien verpflichtet sich längerfristig zur «Nett- Null».
Nach jahrzehntelanger Ignoranz oder gar Leugnung sehen sich etablierte Parteien nun gezwungen, sich zu substanzielleren Zielen zu verpflichten. Sie haben begonnen, sich selbst darin zu überbieten, wie rasch sie die Wirtschaft CO2-neutral gestalten wollen. Das soll nicht heissen, dass eine Mehrheit der Politiker:innen plötzlich bereit ist, die drastischen Schritte zu unternehmen, die notwendig wären, um das Pariser Abkommen einzuhalten und die globale Erhitzung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Vielmehr sind die etablierten Parteien angesichts der Tatsache, dass der Klimawandel nun eines der wichtigsten politischen Themen ist, aufgefordert, ein detaillierteres ökologisches Programm auszuarbeiten, sei es nun radikal oder nicht. Sie müssen ihre Position verdeutlichen und erklären, welche Massnahmen (nicht) ergriffen werden können bzw. sollen und wie sich diese auf Produktivität, Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit usw. auswirken würden.
2. Zentrale Konzerne des fossilen Kapitalismus verpflichten sich bereits zu «Netto-Null».
Schnell wachsende Teile der Finanzindustrie – zusammen mit den zentralen Konzernen der fossilen Infrastruktur – haben sich wegbewegt von Leugnung und treiben ihre eigenen Vorschläge voran. Das mag in der Öffentlichkeit nicht so sichtbar sein, doch die «Netto-Null»-Ziele vieler Unternehmen sind tatsächlich ehrgeiziger als die von Staaten und vielen politischen Parteien: Der Rückversicherer Swiss Re und die Investmentbank Goldman Sachs wollen bis 2030, der Autohersteller Daimler bis 2039, der Energiekonzern RWE bis 2040, der Vermögensverwalter BlackRock und der Ölkonzern Shell beide bis 2050 CO2-neutral werden – um nur einige der weltweit grössten Konzerne zu nennen. Während es den Grünen Parteien noch an ausreichender politischer Macht fehlt, um ihre Ziele auf nationalstaatlicher Ebene durchzusetzen, können private Unternehmen selbst entscheiden. Auf diese Weise können sie den Wunsch ihrer Investor:innen und Kund:innen nach «nachhaltigen Finanzen» erfüllen und drohende staatliche Eingriffe abwenden.
3. Staaten und internationale Organisationen tun sich schwer mit «Netto-Null»-Zielen.
Verglichen mit Parteien und Konzernen haben sich die eigentlichen Unterzeichnenden des Pariser Klimaabkommens – Nationalstaaten – nur wenig bewegt. Norwegen möchte bereits 2030 CO2-neutral sein, Schweden und Deutschland bis 2045, Grossbritannien bis 2050 und China bis 2060. Die meisten anderen Staaten haben sich diesbezüglich aber noch keine Verpflichtungen auferlegt oder sind – wie die USA – erst daran, solche Ziele zu verabschieden. Auch auf der offiziellen internationalen Ebene hat «Netto-Null-CO2» noch wenig Spuren hinterlassen. Der ehemalige US-Aussenminister, John Kerry, hat zwar eine Koalition namens «World War Zero» ins Leben gerufen und die UNO hat die Kampagne «Race to Zero» gestartet, aber weder im wegweisenden Pariser Klimaabkommen von 2015 noch in den Abschlusserklärungen der bisherigen Weltklimakonferenzen figuriert «Netto-Null» prominent als Ziel.
Zusammenfassend lässt sich ohne Übertreibung sagen: Der Ruf nach «Netto-Null-Emissionen» erklingt auf der ganzen Welt. Die Forderung strukturiert massgeblich die gegenwärtige Klimapolitik und geriert sich als Zauberformel gegen die Klimaerhitzung.
«Netto-Null» als politischer Konsens
Diese drei Beobachtungen zeigen, dass die Forderung nach «Netto-Null» zu einem politischen Konsens geworden ist. Damit wurde eine historische Schwelle überschritten und viele Akteur:innen erkennen nun auf die eine oder andere Weise den sich anbahnenden ökologischen Zusammenbruch an. Die «netto Null»-Ziele implizieren Marktregime, die nicht nur von der unsichtbaren Hand Adam Smiths regiert werden, sondern auch von einem Mechanismus zur Neutralisierung von Treibhausgasemissionen. Unabhängig davon, ob es in Richtung Grüner Keynesianismus, Ökomodernismus, Laissez-faire-Kapitalismus oder zentrale Planung geht – im Zentrum jeder dieser Variation steht die Überzeugung, dass Treibhausgase als lokalisierbare und bepreisbare Äquivalente behandelt und auf «Netto-Null» reduziert werden sollen.
Es muss uns nicht überraschen, dass «Netto-Null» zum politischen Konsens werden konnte. Diese Forderung verbindet den Wunsch nach radikalem Handeln mit der Aussicht, weiterhin warenförmig und wachstumsorientiert produzieren zu können. Solange ein Ausgleichsmechanismus für die Neutralisierung der anfallenden Emissionen sorgt, kann weiterhin so viel – oder sogar noch mehr – produziert und konsumiert werden, so das Versprechen. Ausserdem meint man mit den Emissionen die Klimakrise bereits genügend an der Wurzel zu packen. Die komplexen und vielschichtigen Prozesse der Umweltzerstörung und Naturbeherrschung, von denen die gegenwärtige Pandemie nur ein Beispiel ist, lassen sich angenehm auf den Parameter «Treibhausgasemissionen» reduzieren. Um den drohenden Biodiversitätskollaps braucht man sich damit nicht zu kümmern.
Um allerdings «Netto-Null» tatsächlich zu erreichen, sind ein umfassendes Handels- und Zertifizierungssystem sowie eine unglaubliche Menge an Negativemissionen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen der Zukunft auszugleichen. Sehen wir uns zunächst das Handels- und Zertifizierungssystem an.
Die Mär vom «Marktversagen»
Der Bericht des Ökonomen Nicolas Stern von 2006, eine der vielbeachtesten Studien zur Ökonomie des Klimawandels, bezeichnet die Klimaerhitzung als «das grösste Marktversagen, das die Welt je gesehen hat». Wird der Klimawandel als Marktversagen verstanden, ist die «richtige» Bepreisung von CO2-Emissionen nur folgerichtig. Ziel ist dabei aber nicht, wie angenommen werden könnte, den Preis solcher «externer Kosten» der Naturzerstörung korrekt zu bestimmen. Vielmehr soll der niedrigste Preis gesucht werden, der genügend schmerzhaft ist, um eine Verhaltensänderung der Marktteilnehmenden zu bewirken. Können oder wollen Unternehmen jedoch die zusätzlichen Kosten für die Kompensation von CO2-Emissionen tragen, weil sie bspw. Luxusgüter herstellen, müssen sie in keinster Weise ihre Produktion umstellen – es genügt, ausreichend Negativemissionen aufzukaufen. Warum es völlig fehlgeht, die Natur wie eine Ansammlung von Waren und den Klimawandel als ein «Marktversagen» zu behandeln, argumentiert der Artikel «Die Finanzialisierung der Natur im ‹grünen› Kapitalismus» weiter oben in dieser Ausgabe.
Das erste Emissionshandelssystem implementierte die EU bereits 2005 und erreichte damit eine Bepreisung von emittiertem CO2. Es wurde dafür bekannt, viel zu viele und viel zu billige Emissionszertifikate auszustellen oder gar kostenlos abzugeben. Weil sich bspw. der deutsche Energiekonzern RWE bereits früh massenhaft mit solchen Zertifikaten eindeckte, kann er diese jetzt gewinnbringend verkaufen und seine Verluste im Kohlegeschäft auffangen. Weitere Staaten haben dem Beispiel der EU seither Folge geleistet und unzählige Ratingagenturen schiessen wie Pilze aus dem Boden, um Negativemissionen nach uneinheitlichen Standards zu zertifizieren. Im Vorfeld des Pariser Klimaabkommens haben ironischerweise deshalb gerade die sechs grössten Ölkonzerne (BG, BP, Eni, Shell, Statoil und Total) in einem offenen Brief an die Vereinten Nationen darauf gedrängt, dieses Vorgehen international zu koordinieren. Sie fordern, fossile Energien auf nationaler Ebene weiter zu verteuern und anschliessend Kosten und Handel von CO2-Emissionen in einem globalen System zu definieren.
Jenseits der Märkte einzelner Weltregionen wird sich aber wohl kaum ein Emissionshandelssystem durchsetzen. Bereits im Kyoto-Protokoll von 1997 wurde den unterzeichnenden Staaten erlaubt, Emissionsreduzierungen sowie Negativemissionen zu zertifizieren und untereinander mit «Reduktionseinheiten» bzw. «Kompensationseinheiten» zu handeln. Begründet wurde dieses marktbasierte Vorgehen damit, im Namen globaler Gerechtigkeit einen «kooperativen Geist» zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fördern zu wollen. Doch dieser zwischenstaatliche Emissionshandel hat nie wirklich Fahrt aufgenommen, da er die historische Schuld des Globalen Nordens, über Jahrhunderte hinweg praktisch alleine fossile Energien verbrannt zu haben, völlig übergeht. Länder im Globalen Süden lehnen einen internationalen Emissionshandel zu Recht als Verwischung dieser historischen Schuld ab, während Länder des Globalen Nordens keine Entschädigungsforderungen ermuntern möchten.
Eklatanter Mangel an Negativemissionen
Die Nachfrage nach Negativemissionen wird in den kommenden Jahren massiv zunehmen, da voraussichtlich noch mehr fossile Energien aufgewendet werden, gleichzeitig aber «Netto-Null» angestrebt wird. Dabei gibt es aber viel zu wenig zertifizierte Projekte, die die weiterhin steigenden Emissionen kompensieren könnten. Dieser krasse Widerspruch wird sich in verschiedenen Formen manifestieren.
Der Druck wird massiv zunehmen, die Ansprüche zu senken, was und zu welchen Bedingungen als Negativemission gilt. Das bedeutet, dass Standards weich und schlecht nachprüfbar gehalten werden; Korruption und Fälschungen werden sich lohnen. Die bisherigen Erfahrungen im Neoliberalismus, wonach Kontroll- und Aufsichtsfunktionen an zahlreiche spezialisierte und teure Büros und Agenturen im privaten Sektor ausgelagert werden, können diese Dynamik nur befeuern. Weiter werden schon jetzt Forstprojekten Negativwirkungen (rückwirkend) zugesprochen, die auch ohne das Ziel, Negativemissionen zu verkaufen, umgesetzt worden wären. Analog der Steuervermeidung werden auch die Kompensationsmechanismen nur so vor Buchhaltungstricks strotzen. Denkbar sind bspw. «Super-Polluters», die Emissionen anderer Firmen auf ihrem Konto verbuchen und dann insolvent gehen.
Kompensationsprojekte benötigen Land, bspw. für Aufforstungsprojekte. Der Druck steigt, um Kompensationen vermehrt im Ausland durchführen zu dürfen. Das dafür benötigte Land lässt sich im Globalen Süden am billigsten akquirieren, womit sich Landnahmen im imperialistischen Stil massiv intensivieren werden. Eindeutig werden Kleinbäuer:innen die primär Leidtragenden dieser Entwicklung sein, da sie sich gegen gross angelegte Enteignungen selten wehren können. Damit wird Hunderttausenden bis Millionen von Menschen die Lebensgrundlage entzogen; Hungersnöte und Vertreibungen werden die Folgen sein. Einmal mehr werden die negativen Konsequenzen der Produktionsweise in den kapitalistischen Zentren auf die Peripherie abgeschoben.
Rasche Neuausrichtung
Führt man sich vor Augen, wie vielschichtig und kompliziert die Gründe, Mechanismen und Auswirkungen des Klimawandels sind, kann es nur sonderlich wirken, einen geosphärischen Indikator (CO2) herauszugreifen und seine Neutralisierung als radikal hinzustellen. Indem Einheiten von CO2 als lokalisierbar, quantifizierbar, bepreisbar und tauschbar behandelt werden, wird behauptet, die «externen Kosten» der Produktion einbezogen zu haben. In Anbetracht des Umfangs und des Ausmasses ökologischer Krisen – Artensterben, Abfälle, Versauerung der Meere, Pandemien, Überfischung, Monokulturen usw. – ist es ein gefährlicher Ansatz, radikale Klimapolitik mit der Forderung nach «Netto-Null-Emissionen» zu verwechseln.
Darüber hinaus muss klar werden, dass mit «Netto-Null» noch kein Endpunkt benannt ist, sondern lediglich die Zeit bis 2050 gemeint sein kann. Das Pariser Klimaabkommen legt fest, dass Emissionen danach nicht bloss auf «Netto-Null», sondern insgesamt negativ ausfallen müssen. Davon ist im politischen Diskurs aber noch nirgendwo die Rede. Der Ökosozialist Andreas Malm argumentiert überzeugend, dass der kapitalistische Emissionshandel es nicht schaffen wird, für negative Emissionen zu sorgen. Selbst wenn in den kommenden Jahrzehnten die entsprechende Technologie im notwendig riesigen Stil umgesetzt werden würde, kann ihr Endprodukt – der Atmosphäre entzogenes CO2 – nicht einfach sicher gelagert werden. Der Kapitallogik entsprechend würde es als Ware behandelt und verkauft werden müssen, womit es andere Emissionen neutralisieren, aber nicht für sich negativ bleiben würde.
«Netto-Null» kann auch äusserst reaktionär und imperial umgesetzt werden, wie dieser Artikel zu zeigen versucht hat. Ohne Überwindung von kapitalistischen Marktstrukturen wird sich die Forderung nicht erreichen lassen. Sollte sich «Netto-Null» weiter als Minimalkonsens durchsetzen, kann von einem politischen Sieg keine Rede sein. Eine rasche Neuausrichtung klimagerechter Politik auf die veränderten Mehrheitsverhältnisse ist notwendig. Denn der Handel mit zertifizierten Negativemissionen reicht für keine ökosoziale Welt aus.