Die Abstimmung in der Schweiz zum Frontex-Referendum liegt nun bereits drei Monate hinter uns. Mit dem zynischen Ergebnis, dass wir der europäischen Behörde Frontex, die sich Agentur für Grenz- und Küstenschutz schimpft, fortan satte 61 statt 24 Million Franken jährlich in den Rachen schieben werden. Guy Zurkinden, Redakteur der Westschweizer VPOD-Zeitung Services Publics, zeigt folgend, was besagte Agentur tatsächlich vom Schutz menschlichen Lebens hält und wie die Schweizer Regierung während des Referendums sehenden Auges die Werbetrommel für die rassistische Abschottung Europas rührte. (Red.)
von Guy Zurkinden; aus alencontre.org
Die Veröffentlichung eines Berichts bestätigt die aktive Beteiligung der EU-Küstenwache an illegalen Abschiebungen von Migrant:innen. Alles deutet zudem darauf hin, dass auch der Bundesrat darüber Bescheid wusste, diese Informationen jedoch während der Volksabstimmung über die Finanzierung von Frontex zurückhielt. Am 15. Mai 2022 bekundeten Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) und SVP-Bundesrat Ueli Maurer gemeinsam ihre Zufriedenheit über das Abstimmungsergebnis. Die Aufstockung der Finanzierung der europäischen Küstenwache Frontex, für die sie sich mit allen Mitteln eingesetzt hatten, wurde von 71,5% der Wähler:innen angenommen. Zuvor hatten Karin Keller-Sutter und Ueli Maurer die gesamte Kampagne hindurch die Menschenrechtsverletzungen heruntergespielt, die von Frontex begangen und vom Migrant Solidarity Network, dem Initiator des Referendums, angeprangert worden waren.
Der «bittere Ernst» von Frontex
Noch zu Beginn der Kampagne sprach das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, das von der FDP-Politikerin Karin Keller-Sutter geführt wird, einem ehemaligen Vorstandsmitglied des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, von „angeblichen Menschenrechtsverletzungen“. Karin Keller-Sutter machte sich hier allerdings die Argumentation des Frontex-Direktors Fabrice Leggeri zu eigen, der jegliche Verantwortung für „Pushbacks“ – die von zahlreichen NGOs angeprangerten illegalen Rückschiebungen von Migrant:innen – leugnete [1]. Ende April musste Fabrice Leggeri jedoch aufgrund wiederholter Skandale und eines verheerenden Berichts des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) über sein Management seinen Rücktritt von Frontex bekannt geben. Durch den Rücktritt von Fabrice Leggeri sowie die Veröffentlichung mehrerer Untersuchungen zum Thema „Pushbacks“ durch europäische Leitmedien unter Druck geraten, sah sich das Gespann Keller-Sutter/Maurer schliesslich gezwungen, seinen Kurs zu korrigieren. Ueli Maurer beteuerte dabei jedoch, dass solche Fälle „die Ausnahme und nicht die Regel“[2] darstellen würden. Und Karin Keller-Sutter behauptete ihrerseits, dass solche Rechtswidrigkeiten nicht von Frontex, sondern von bestimmten Staaten begangen würden, und bekräftigte ihre volle Unterstützung für die Agentur [3]. Und was Marco Benz anbelangt, einem der beiden Schweizer Mitglieder des Frontex-Verwaltungsrats, so betonte dieser, dass „Frontex den Schutz der Grundrechte sehr ernst nimmt“[4].
Der Agentur Frontex steht das Wasser bis zum Hals
Ende Juli veröffentlichten mehrere Tageszeitungen, die sich zur Plattform für investigativen Journalismus names Lighthouse reports zusammengeschlossen hatten, Auszüge aus dem Bericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF). Der bis dahin geheim gehaltene Bericht befasste sich unter anderem mit der Komplizenschaft von Frontex bei der illegalen Zurückweisung von Migrant:innen an den Grenzen der Europäischen Union (EU). Der Bericht bestätigte den umfassenden Einsatz der illegalen „Pushback“-Technik durch die griechischen Behörden, um Migrant:innen davon abzuschrecken, europäischen Boden zu betreten [5].
Nach Angaben der Ermittler:innen der OLAF aber waren diese Vorkommnisse „weithin bekannt und wurden sogar innerhalb von Frontex angeprangert“. Dabei sollen mindestens sechs griechische Schiffe, die von der Agentur mitfinanziert wurden, zwischen April und Dezember 2020 sogar in mehr als ein Dutzend Zurückweisungen verwickelt gewesen sein. Selbst innerhalb der Agentur schlugen mehrere Stimmen – darunter die des „Kontrollturms“, des Frontex-Lagezentrums – die Einleitung einer internen Untersuchung der Angelegenheit vor. Und wie lautete die Antwort der Führungsebene darauf? Ein „offizielles Verbot interner Untersuchungen“, das auf den festen Willen zurückzuführen ist, Griechenland „aufgrund des internationalen Kontextes zu decken“. 2020 beschloss die Agentur sogar, die eigenen Flugzeuge aus den griechischen Gewässern abzuziehen, um ja nicht Zeuge der von der griechischen Küstenwache verübten „Pushbacks“ zu werden. Aus den Augen, aus dem Sinn!
Und die Agentur positioniert sich nicht unweit der extremen Rechten
So bestätigt der OLAF-Bericht, dass „Frontex in den letzten Jahren weder Gesetze noch Grundrechte und schon gar nicht Transparenz eingehalten hat. Und dass die Struktur der Organisation folglich so angelegt ist, dass sie solch drastische Vergehen ermöglicht – denn sie unterliegt keiner demokratischen Kontrolle.“[6] „Verfechter:innen einer harten Linie beim Schutz der Aussengrenzen der Europäischen Union“ haben die Frontex-Agentur „in eine Lüge verstrickt: Es gebe nämlich gar keine Zurückweisungen von Migrant:innen in der Ägäis. Sie seien eine Erfindung von NGOs, die ‚von den Türken unterstützt‘ würden. Eine Position, die derjenigen nahekommt, die von der griechischen Regierung, aber auch von der extremen Rechten in Europa vertreten wird“, konstatiert Le Monde [7].
Die Lügen von „Bundesbern“
Doch was wussten eigentlich die Bundesbehörden von diesen erschütternden Vorkommnissen, als sie energisch eine Kampagne führten, um Frontex schönzureden? Die Eidgenössische Zollverwaltung, die dem Finanzdepartement von Ueli Maurer untersteht, antwortete auf eine diesbezügliche Nachfrage der WOZ schlicht, dass die Schweizer Vertreter im Frontex-Verwaltungsrat – darunter auch Marco Benz – den OLAF-Bericht bereits am 7. März 2022 zur Kenntnis genommen hätten. Der SVP-Finanzminister hatte also sehr wahrscheinlich zur gleichen Zeit Kenntnis von den verheerenden Ergebnissen der Untersuchung genommen. Es würde auch überraschen, wenn der Karin Keller-Sutter nichts davon gewusst hätte.
Alles deutet also darauf hin, dass der Bundesrat der Bevölkerung während des Abstimmungskampfes bewusst entscheidende Informationen vorenthalten hat, während er gleichzeitig vorsätzlich einen wahrheitswidrige Diskurs über Frontex führte, um den Erfolg bei der Abstimmung sicherzustellen.
Heute kennen wir ja die Wahrheit. Nur ist die Abstimmung nun vorüber, ebenso wie das Medieninteresse am Thema. Die Bilanz: Ab 2027 wird die Schweiz mit 61 Millionen Franken pro Jahr (gegenüber den heutigen 24 Millionen) eine Agentur finanzieren, die Männer, Frauen und Kinder vor der Ägäis zurückdrängt. Dabei werden die grundlegendsten Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, missachtet.
[1] Siehe die Beschreibung von Sophie Malka auf asile.ch.
[2] NZZ, 3. Mai 2022.
[3] Ebd.
[4] Wochenzeitung, 3. August 2022.
[5] Le Monde, 28. Juli 2022.
[6] Wochenzeitung, 3. August 2022.
[7] Le Monde, 28. Juli 2022.
Übersetzung durch die Redaktion. Das Titelbild stammt von Tasos Anastasiou.