Die nächste Runde der Krankenkassenprämien ist eingeläutet. Die Versicherungen geben für 2017 Erhöhungen von 4 % bis 5 % bekannt, womit die Mehrheit der Haushalte mit einer neuen Kerbe in ihrer Kaufkraft konfrontiert ist. Sogleich wimmelt es von Vorschlägen für die „Versüssung“ der bitteren Pille – von den Versicherungsträgern bis hin zum Preisüberwacher. Alles wird durchgekaut, oder fast … mit Ausnahme nämlich eines – einfachen – Vorschlags, der ein Grundprinzip der Sozialversicherungen aufgreift: die Finanzierung durch Lohnbeiträge, gemäss dem AHV-Modell. Man finde den Fehler.
von Benoit Blanc (BFS/MPS)
Die auf die Löhne erhobenen Beiträge, die zur Hälfte auf dem Lohnzettel der Angestellten abgezogen werden und zur Hälfte direkt von den Arbeitgeber*innen eingezahlt werden, sind seit der Entwicklung der Sozialversicherungen einer ihrer wesentlichen Finanzierungsmechanismen. In der Schweiz werden die AHV, die Invalidenversicherung, die Unfallversicherung und die Mutterschaftsversicherung gemäss diesem Mechanismus finanziert. In der Mehrheit der Nachbarländer wird die Krankenversicherung ebenfalls so finanziert, mit Ausnahme der Länder, in denen das Gesundheitssystem im Wesentlichen aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wird. Die Finanzierung durch Lohnbeiträge ist ein einfacher Mechanismus, der eine breite Abstützung garantiert und zumindest eine regressive Finanzierung verhindert – wie sie bei der MwSt. oder der Kopfprämien erfolgt, wo die Menschen mit den niedrigsten Einkommen verhältnismässig mehr zahlen als jene mit den höchsten Einkommen. Kurz, die Finanzierung durch Lohnbeiträge ist wirklich das „gesetzliche Minimum“ in Sachen Sozialversicherungen.
Doppelter Vergleich
Was würde passieren, wenn die Krankenversicherung durch Lohnbeiträge à la AHV finanziert würde? Anhand der veröffentlichten offiziellen Daten kann man die aktuelle Finanzierung mittels Kopfprämien mit einer „AHV-artigen“ Finanzierung vergleichen und folgende zwei Fragen beantworten:
1) Wie hoch müsste der Beitragssatz der „AHV“-Lohnbeiträge sein, um 1. die Gesundheitsausgaben zu finanzieren, die von der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) abgedeckt werden und 2. die OKP-Leistungen und alle direkt von den Haushalten finanzierten Gesundheitsausgaben (Franchise, Selbstbehalt, Zahnpflegekosten, nicht gedeckte Ausgaben für die Pflege zuhause oder die Spitex) zu decken? Die Berechnung erfolgt unter der Annahme, dass die anderen Finanzierungswege (öffentliche Körperschaften, andere Sozialversicherungen, Zusatzleistungen, Privatversicherungen) gleich bleiben. Die „AHV-Erträge“ aus den Lohnbeiträgen sind die Grundlage für die Abschätzung der Erträge aus einem 1%igen Beitrag auf die beitragspflichtigen Einkommen.
2) Wie hoch wäre der Betrag der „AHV“-Beiträge im Vergleich zu den aktuellen Prämien für eine Einzelperson oder für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 18 Jahren? Als Richtlohn der Berechnung dient der durchschnittliche Bruttolohn (1996: 5.000 Fr., 2014: 6.500 Fr.) für eine Einzelperson und für eine Familie ein Lohn, der dem 1,5-maligen Durchschnittslohn (1996: 7.500 Fr., 2014: 10.000 Fr.) entspricht.
Die Ergebnisse sind als Grössenordnungen zu sehen. Zahlreiche Fragen – wie z. B. die Beiträge pensionierter Personen zur Finanzierung der Krankenversicherung in einem auf Lohnbeiträgen beruhenden System – werden nicht angesprochen. Unten werden einige Resultate präsentiert.
2 = 0,4 … klar!
Zwischen 1996 (Jahr des Inkrafttretens des Krankenversicherungsgesetzes KVG) und 2014 sind die durch die obligatorische Krankenversicherung (OKP) finanzierten Gesundheitsleistungen von 11,7 auf 26 Milliarden Franken gestiegen (Nominalbeträge). Das entspricht einem Anstieg von 122 % (siehe Tabelle 1). Dies ist die berühmte Verdoppelung der Gesundheitsausgaben, die ständig als Rechtfertigung für den endlosen Anstieg der Krankenversicherungsprämien benutzt wird.
Wären diese Ausgaben durch AHV-artige Lohnbeiträge finanziert worden, dann wäre der Beitragssatz im selben Zeitraum von 2,65 % (5,3 % mit dem Arbeitgeberanteil) auf 3,65 % (7,3 % mit dem Arbeitgeberanteil) gestiegen[1]. Zwei Punkte stechen sofort ins Auge:
1) Das entspricht einer Erhöhung von weniger als 40 % des Beitragssatzes; liegt also deutlich unter der Verdoppelung;
2) Der für die Finanzierung der Krankenversicherung notwendige Beitragssatz liegt unter jenem der AHV (4,2 % – 8,4 % mit dem Arbeitgeberanteil), der von den Lohnabhängigen keineswegs als unerträglich empfunden wird.
Durch welches Wunder wird ein Faktor 2 (Verdoppelung der von der Versicherung rückvergüteten Leistungen) zu einem Faktor 0,4 (Erhöhung der für deren Finanzierung notwendigen Lohnbeiträge)?
Ganz einfach: durch das Wachstum der Wirtschaftstätigkeit und der Lohnsumme, die in diesen fast 20 Jahren erfolgte. Zwischen 1996 und 2014 ist der Nominalwert von 1 % AHV-Beiträgen um etwa 60 % gestiegen. Dies resultiert aus der Zunahme der erwerbstätigen Bevölkerung, dem allgemeinen (eher begrenzten) Lohnanstieg und dem (viel stärkeren) Anstieg der sehr hohen Löhne. Genau dieser Mechanismus erklärt auch, dass die Finanzierung der AHV seit mehreren Jahrzehnten mit einem unveränderten Beitragssatz gesichert wird, obwohl die Anzahl der pensionierten Menschen deutlich gestiegen ist – was alle dramatisierenden diesbezüglichen Prognosen widerlegt.
Die Tabelle 1 illustriert eine weitere bemerkenswerte Tatsache: Im Jahr 2014 hätte ein Lohnbeitrag von 6,1 % (12,1 % mit dem Arbeitgeberanteil) genügt, um alle durch die Krankenversicherung und die Haushalte finanzierten Gesundheitsausgaben abzudecken. Zum Vergleich: Staatsrat Pierre-Yves Maillard positioniert sich als Speerspitze des sozialen Fortschritts, indem er es wagt, die Belastung, die allein durch die Krankenkassenprämien entsteht, auf 10 % des Haushaltseinkommens zu begrenzen.
1 > 2+2 … natürlich
Wie sieht es aus, wenn man die Beträge (in Franken) der derzeitigen Krankenversicherungsprämien mit den Lohnbeiträgen vergleicht, die sie ersetzen könnten? Die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlichten Daten ermöglichen es, die Entwicklung der Prämien für eine Standardversicherung zu verfolgen, d. h. für eine Versicherung mit minimaler Franchise (dzt. 300 Fr. pro Jahr) und ohne Alternativmodell (Hausarztmodell etc.). Der Grossteil der Versicherten hat zwar heute eine höhere Franchise oder alternative Versicherungsmodelle. Es wird aber keine allgemeine Durchschnittsprämie veröffentlicht (Ist es angesichts der zahlreichen möglichen Kombinationsmöglichkeiten möglich, sie zu berechnen?). Ausserdem behalten oft Personen mit einem niedrigen Einkommen und bedeutenden Gesundheitskosten, insbesondere ältere Menschen, eine Standardversicherung, da sie die anderen Optionen nicht riskieren können. Und sie sind es auch, die am meisten von den Prämienerhöhungen betroffen sind. Es macht daher Sinn, sie als Referenz heranzuziehen.
Im Jahr 2014 lag die durchschnittliche KVG-Prämie für einen Erwachsenen bei 428 Franken. Das ist 2,5-mal mehr als die durchschnittliche Prämie im Jahr 1996, die bei 173 Franken lag (siehe Tabelle 2). Das ist also „die Prämienexplosion“!
Zum Vergleich: Ein*e Lohnabhängige*r mit einem Durchschnittslohn (6.500 Fr. pro Monat) hätte im Jahr 2014 für die Krankenversicherung mittels des „AHV“-Lohnbeitrags etwa 237 Franken pro Monat gezahlt. Das heisst 190 Franken weniger als im derzeitigen System. Dieser Unterschied ist im Laufe der Jahre ständig grösser geworden: Im Jahr 1996 lag der Unterschied zwischen der Durchschnittsprämie und dem Lohnbeitrag, den eine Einzelperson mit Durchschnittseinkommen hätte zahlen müssen, bei nur 42 Fr. …
Auf noch viel grössere Unterschiede stösst man, wenn man eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 18 Jahren heranzieht. Mit einem AHV-artigen Beitragssystem hätte diese Familie im Jahr 2014 für eine Krankenversicherung 365 Fr. Beitrag pro Monat zahlen müssen. Das ist weniger als die Durchschnittsprämie einer Einzelperson im derzeitigen Kopfprämiensystem und dreimal weniger als der durchschnittliche Betrag, der heute von einer vierköpfigen Familie gezahlt wird! Mit 600 Franken Lohnbeiträgen pro Monat wären die gesamten Gesundheitsausgaben dieser Familie abgedeckt, während beim derzeitigen System zusätzlich 400 Franken notwendig sind, um rein die von der Krankenversicherung abgedeckten Leistungen zu übernehmen!
Diese wenigen Daten zeigen, dass der Hauptgrund für die Explosion der Belastung der Haushalte durch die Gesundheitsausgaben, insbesondere die Krankenversicherungsprämien, nicht – wie man es uns ständig herunterleiert – die Explosion der Gesundheitsausgaben ist (ganz unabhängig im Übrigen von der Analyse dieser Ausgaben), sondern ihre völlig asoziale Finanzierung.
Und der „Realismus“?
Angesichts dieser paar Zahlen stellt sich die Frage, warum eine Finanzierung der Krankenversicherung gemäss dem AHV-Modell völlig vom Radar der sogenannten Linken und der Gewerkschaftsorganisationen verschwunden ist. Weil das nicht „realistisch“ ist, wird uns an den Kopf geworfen …
- Wenn die Rechte genauso „realistisch“ wäre wie die sogenannte Linke, warum versucht sie dann noch einmal das Rentenalter der Frauen zu erhöhen und den Umwandlungssatz für die 2. Säule zu senken – beides Vorschläge, die in den letzten Jahren in Volksabstimmungen abgelehnt wurden? Weil sie viel realistischer ist in Bezug darauf, was es heisst, wirklich die Interessen derjenigen zu verteidigen, die sie vertritt, als dies bei der sogenannten Linke der Fall ist, die ihren betrüblichen Handlungsverzicht hinter dem Argument des „Realismus“ versteckt …
- Wohin hat uns der „Realismus“ der Strateg*innen der sogenannten Linken geführt? Die Grundprinzipien der Sozialversicherungen gehen vergessen und werden nach und nach aus den Köpfen der Bevölkerung gelöscht. Es konnte keine einzige Minireform – wie z. B. die Einheitskasse – durchgesetzt werden. Der Höhepunkt der „realistischen“ Kühnheit ist heute das – noch längst nicht gewonnene! – Projekt der kantonalen Krankenkassen (dort wo die kantonalen Behörden solche haben möchten, d. h. in nicht besonders vielen Kantonen), deren Prämien sich nicht enorm von den derzeitigen unterscheiden würden, begleitet von einer Plafonierung dieser Prämien auf 10 % der Einkommen in der „realistischen“ Avantgarde der Schweiz, dem Kanton Waadt …, während mit AHV-artigen Beiträgen ein Drittel davon zur Finanzierung der Krankenversicherung genügen würde.
Die Wahlmöglichkeiten in diesem Bereich haben in der Tat nichts mit – vorgegaukeltem – Realismus zu tun. Vielmehr geht es um die Rechte und Pflichte derjenigen, die man bereit ist zu verteidigen – oder nicht. Und um die Vorstellungen, die man von einem Minimum an sozialer Sicherheit hat. Darum – und um nichts Anderes – geht es. Gestern wie heute.
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[1] Im Jahr 2014 haben der Bund und die Kantone 4 Milliarden Franken Prämienverbilligungen für Versicherte in sogenannten bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen ausgezahlt, was einer Erhebung eines Beitrags von 1,1 % auf die AHV-pflichtigen Einkommen entspricht. In der Annahme, dass diese öffentliche Finanzierung bestehen bleibt, könnte der notwendige Lohnbeitrag also entsprechend reduziert werden und der Lohnbeitrag auf etwa 3,1 % sinken.
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