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«Es war die Regierung, die uns mit leeren Versprechungen in den Streik getrieben hat.»

Am 25. Mai 2021 hat die Generalversammlung der Beschäftigten des Unispitals CHUV (Centre Hospitalier Universitaire Vaudois) beschlossen, am 23. Juni 2021 für einen Tag die Arbeit niederzulegen. Die Pandemie offenbarte den Widerspruch zwischen der enormen gesellschaftlichen Wichtigkeit des Gesundheitswesens und den unhaltbaren Arbeitsbedingungen, mit denen die Beschäftigten konfrontiert sind. Ein streikender Arzt erzählt uns von den Ursachen und den Bewegründen der Streikbewegung. (Red.)

Interview von Philipp Gebhardt mit A. Veillon*

Philipp Gebhardt: Hallo, du arbeitest als Arzt am CHUV. Deine Kolleg:innen und du werden am 23. Juni 2021 in den Streik treten. Deine Abteilung war mittendrin im Kampf gegen die Pandemie. Wie hast du das letzte Arbeitsjahr erlebt?

A. Veillon: Als die erste Welle von Covid-19 ankam, haben wir in kurzer Zeit das gesamte Krankenhaus verändert. In weniger als zwei Wochen wurde die Krankenhausroutine umgestellt. Unser Urlaub wurde schnell gestrichen. Wir mussten das ganze Krankenhaus umorganisieren, Konsultationen und nicht lebenswichtige Operationen absagen sowie „Covid-19“-Betten freimachen. Dies im Wissen, dass das Schutzmaterial knapp werden könnte (FFP2-Masken und Plastikmäntel). Wir hatten es mit einem unbekannten Virus zu tun, das wiederum unbekannte Beschwerden und Symptome verursachte. Und dies alles, ohne dass es angeordnete und nachweislich effektive Behandlungen gab.

In den Wochen der ersten Welle war es im Krankenhaus wie in einem Kriegsgebiet. Wir wussten nicht, ob und wann wir krank werden würden. Regelmässig zogen die Abteilungen, die die Covid-19-Patient:innen betreuten (Intensivstation und Innere Medizin) weitere Ärzt:innen aus anderen Fachbereichen hinzu. Viele Kolleg:innen gingen an die Covid-19-Front, andere blieben zurück, um sich um andere Patient:innen zu kümmern. Angesichts der Kranken, die sich mit Covid-19 ansteckten, und dem ständigen Bedarf an Pflegekräften auf der Covid-19-Station war es klar, dass wir stark unterbesetzt waren. Wir waren aber immer zur Stelle angesichts der Pandemie. Allerdings erfuhren wir frühestens abends um 17 Uhr, ob wir am nächsten Tag an die Covid-Front „mobilisiert“ würden. Nachtschichten wurden teils kaum 24 Stunden im Voraus angekündigt. Dies war eine schwere Belastung für alle, insbesondere für die Kolleg:innen mit Familien.

Was waren eure Erwartungen und Hoffnungen nach der ersten Welle?

Nach der ersten Welle und dem Applaus hofften wir auf Veränderungen im Krankenhaus, damit nicht alles beim Alten bleibt. Von den zusätzlichen finanziellen Mitteln erhofften wir uns einen Covid-19-Bonus und vor allem ein verbindliches Versprechen, uns in der wahrscheinlichen zweiten Welle besser entgegenzukommen und unsere Überstunden abzubauen. Wir waren müde. Die Gewerkschaften, die Personalkommission und die Verbände der Pflegekräfte organisierten eine Personalversammlung. Wir haben den Vorschlag eines Treffens mit der Waadtländer Regierung (Staatsrat) und der Vorsteherin des Gesundheitsdepartements (Rebeca Ruiz, SP) unterstützt, um die Anstellung von mehr Personal, eine Gehaltserhöhung und einen Covid-19-Bonus für alle zu fordern.

Die Treffen wurden dann vom Staatsrat abgesagt oder verschoben. Eine zweite Versammlung stimmte daher für eine Demonstration nach Feierabend mit einem möglichen Streik als weiterführende Massnahme. Die Gewerkschaften – allen voran der VPOD – wollten einen Streik, aber die Personalkommission und die Pflegeverbände (Schweizer Berufsverband der Pflegefachpersonen SBK Waadt, Verband Schweizer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO) waren gegen einen Streik. Um die Bewegung nicht zu spalten, haben wir vorerst nur die Demonstration am 28. Oktober 2020 unterstützt.

Und dann?

Dann kam die zweite Welle und wir konnten uns nicht mehr treffen, um über einen Streik zu diskutieren. Der Staatsrat sagte zwar, dass er sich unsere Forderungen anhöre, handelte aber nicht. Über Ecken erfuhren wir von der Möglichkeit eines Covid-19-Bonus, der allerdings niedriger war, als die von uns geforderten 1500 Franken. Zudem sollten die medizinischen Institutionen entscheiden, wer den Covid-19-Bonus erhalten würde und wer nicht. Nachdem alle Pflegenden und Ärzt:innen gemeinsam gegen die Pandemie gekämpft haben, wollten sie uns nun separat belohnen und uns spalten. Die versprochenen personellen Verstärkungen sollten darüber hinaus nur Abgänge ersetzen und die Personalkapazitäten nicht erhöhen.

Nach all diesen Enttäuschungen trafen wir uns dann am Ende der 2. Welle erneut und stimmten einstimmig für einen Streik, da es offensichtlich unmöglich war, vom Staatsrat gehört zu werden. Wut beherrschte die Versammlung. Man hatte das Gefühl, von einem Staatsrat an der Nase herumgeführt zu werden, der nur Zeit gewinnen wollte. Es war die Waadtländer Regierung, die uns mit ihrer leeren Rhetorik und den falschen Versprechungen in den Streik getrieben hat.

Was sind eure Forderungen?

Wir wollen eine generelle Gehaltserhöhung mit Löhnen, die der ausserordentlichen Hingabe der Pflegekräfte entsprechen. Je nach Situation kann ein Krankenhauslohn nicht ausreichen, vor allem, wenn man selber Kinder hat. Denn die unregelmässigen Arbeitszeiten erfordern eine Kinderbetreuung, welche die Kitas normalerweise nicht anbieten. Und das wird dann teuer.

Wir fordern zudem ein massives Engagement, um den chronischen Personalmangel endlich zu beenden. Einige Abteilungen arbeiten mit einem Mangel von 20% bis manchmal 30% ihres geplanten Personals. Dies aufgrund von Abwesenheiten, Krankheitsausfällen, Burn-out und so weiter… Nicht nur für unsere eigene Gesundheit, sondern auch für die Gesundheit der Bevölkerung müssen wir zahlreicher sein.

Die Hierarchien zwischen den Beschäftigten in einem Spital sind bekanntlich gross. Inwiefern schafft ihr es, diese in der aktuellen Bewegung zu überwinden?

Diese Hierarchien spalten uns furchtbar. Leider kommunizieren die Pflegeverbände nicht über den Streik an ihre Mitglieder, weil sie die Kampfmassnahme ablehnen. Da die Ärzt:innenschaft fast nicht gewerkschaftlich organisiert ist, sind nur wenige Ärzt:innen über die Streikbewegung informiert. Die am schlechtesten bezahlten Berufe (z.B. das Putzpersonal) trauen sich oftmals nicht zu streiken, weil sie sich einen Lohnausfall nicht leisten können.

Die aktuelle Bewegung konnte allerdings durch Mitarbeiter:innen mit unterschiedlichem Hintergrund aufgebaut werden, weil wir alle die Nase voll hatten. Aber leider werden die gewerkschaftlich schlecht organisierten Bereiche nicht streiken. Diese Trennung zwischen verschiedenen Gruppen, bei der jede Gruppe ihr eigenes Outfit und ihre eigene Farbe auf dem Abzeichen hat, bleibt das Hauptproblem.

Wir haben aber grosse Hoffnung, dass bei der Demonstration am Abend viel mehr Kolleg:innen anwesend sein werden als während des Streiks.

Einen Streik im Pflegebereich zu organisieren ist unter anderen deshalb so schwierig, weil ja Patient:innen und deren Leben direkt von eurer Arbeit abhängen. Wie geht ihr damit um?

Die Streikenden mussten sich vorher anmelden, um eine Minimalversorgung einzurichten. Damit werden instabile Patient:innen und jene mit dringenden Problemen versorgt. Die Grundversorgung bleibt also bestehen, jedoch ist es möglich, dass viele Aktivitäten, die keine Notfälle sind, verschoben und abgesagt werden. Für das Krankenhaus sind dies diejenigen Aktivitäten, die das meiste Geld einbringen. Das erhöht den Druck auf die Spitalleitung und die Regierung.

Demo „Gesundheit vor Profit“ am Samstag, 26. Juni 2021 um 14 Uhr in Zürich

Wie sehen deine Streikaktivitäten als Arzt konkret aus?

Streikerfahrungen sind bei den Ärzt:innen sehr gering. Ausserdem ist es schwierig, als Arzt:in nur eine Minimalversorgung zu leisten. Die Form des sogenannten «Bleistiftstreiks» ermöglicht es den Ärzt:innen allerdings zu arbeiten, und sich trotzdem am Streik zu beteiligen. Denn bei einem «Bleistiftstreik» werden die Patient:innen versorgt, ohne dass die medizinischen Leistungen abgerechnet werden und somit ohne dass das Krankenhaus Geld verdient. Es ist quasi ein Einnahmestreik.

Wie könnte es nach dem Streik weitergehen?

Das wird von der Mobilisierung am 23. Juni abhängen. Ich bezweifle, dass der Staatsrat auf die Forderungen eingehen wird. Eventuell können wir darauf hoffen, einen Covid-19-Bonus für alle zu bekommen. Zu einer massenhaften Anstellung von neuem Personal und einer markanten Verbesserung der Arbeits- und Rahmenbedingungen wird es jedoch angesichts der aktuellen neoliberalen Dynamik nicht kommen. Weitere Kämpfe werden notwendig sein und es wird wichtig sein, alle Berufsgruppen des Krankenhauses miteinzubeziehen – ebenso wie die Bevölkerung. Es ist zwar schwierig, die erkrankten Patient:innen um Unterstützung zu bitten. Aber wir brauchen die Unterstützung der gesamten Gesellschaft. Das Gesundheitswesen geht uns alle an. Denn jede Person kann eine zukünftige Patientin sein. Wir müssen uns besser vernetzen und den Kampf fortsetzen.

Danke für das Interview und viel Erfolg!

*A. Veillon ist Mitglied des VSAO, Sympathisant des VPOD und Aktivist der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) in Lausanne.

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