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G20 Proteste und die Grenzen der „Demokratie“

Als Aktivist der Bewegung für den Sozialismus habe ich mir selten Illusionen über die bürgerliche Demokratie gemacht. Politische Rechte – seine Meinung zu äussern, zu demonstrieren, sich gemeinsam für politische Anliegen zu organisieren – werden laufend in Frage gestellt und müssen von uns Linken verteidigt und immer wieder erkämpft werden. Wie schlimm es um die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien heute schon steht, zeigt zum Beispiel der folgende Bericht.

von BFS Basel

Die Ausgangslage

Mittwoch, 5. Juli um 13:00 in Basel, Badischer Bahnhof: Gemeinsam mit rund 250 Aktivist*innen versammle ich mich am Bahnhofsgebäude, um den Sonderzug nach Hamburg zu nehmen. Nachdem Gipfeltreffen wie G8, G20 oder auch die Treffen der WTO (Welthandelsorganisation) auf Grund massiver Proteste jahrelang ausserhalb von Städten und gut abgeschirmt stattfanden, versucht Deutschland den diesjährigen G20-Gipfel wieder in einem urbanen Zentrum durchzuführen. Rund 20‘000 Polizist*innen sollen dafür sorgen, dass unliebsame Kundgebungen gar nicht erst zustande kommen und die selbstgerechte Inszenierung der Herrschenden ungestört stattfinden kann. Es geht um mehr als nur Symbolpolitik: Können sich die Regierungschefs der G20 in einer Stadt treffen, ohne dass ihre Politik auch von der Strasse in Frage gestellt wird? Wie reagiert die Gesellschaft insgesamt darauf, wenn elementare demokratische Rechte eingeschränkt oder ganz verwehrt werden? Wie hoch ist die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber der neoliberalen, rassistischen und repressiven Politik der G20? Und wie mobilisierungsfähig ist die systemkritische Linke?

Die Kontrollen

Kein Wunder sind Behörden und Sicherheitskräfte nervös. Das zeigt sich schon am Badischen Bahnhof, wo ein absurd überdimensioniertes Polizeiaufgebot auf uns wartet. Stundenlang müssen wir vor und im Bahnhof ausharren, jede und jeder wird minutiös kontrolliert, Körperkontrollen werden durchgeführt, unser Gepäck auseinandergenommen. Überall Polizist*innen und Grenzwache aus Deutschland und der Schweiz.

Drei schikanöse Stunden später, 16:15: Der Zug nach Hamburg hätte längst abfahren sollen, doch noch immer finden Kontrollen statt. Ich bin soeben kontrolliert worden und werde angehalten noch zu warten. Meine Identitätskarte musste ich abgeben. Nach etwa 20 Minuten kommt ein Polizist auf mich zu: Ich solle entweder von meiner Reise nach Hamburg absehen oder aber zum Verhör mitkommen. Ich entscheide ich mich fürs Verhör. Gemeinsam mit rund 30 Leuten treffe ich in einer kleineren Halle ein, wo es wieder warten heisst.

Das Verhör

Eine Stunde später werde ich in einen improvisierten Verhörsraum geführt. Ein deutscher Polizist hat eine Akte über mich vor sich liegen, die er offensichtlich von den Schweizer Behörden erhalten hat. „Gegen sie wurde 2010 Anzeige erhoben, weil ihnen vorgeworfen wird, an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen zu haben. Im Rahmen dieser Demonstration kam es zu Sachbeschädigung und Landfriedensbruch. Wir müssen also davon ausgehen, dass sie sich an Demonstrationen gewalttätig verhalten. Möchten Sie sich dazu äussern?“ Ich erkläre dem Polizisten, dass das besagte Strafverfahren gegen mich eingestellt worden sei, dass ich weder Landfriedensbruch noch Sachbeschädigung begangen habe und es nicht rechtsstaatlich sei, Menschen ohne jegliche Vorstrafen unter Generalverdacht zu stellen. Der Polizist notiert meine Äusserungen und lässt mich wissen, dass das Ganze jetzt nach Stuttgart gehe, wo dann entschieden werde.

Ich frage mich: Hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt das Recht, vermeintliche Informationen und Anschuldigungen über mich an deutsche Behörden weiterzuleiten? Auch dann, wenn keine Verurteilung stattgefunden hat? Unschuldsvermutung? Persönlichkeitsschutz? Ich werde in die Halle zurückgebracht. Warten. Um uns herum genervte oder gelangweilte Polizist*innen, viel zu Viele… Einige ärgern sich darüber, dass sie seit 12 Stunden im Einsatz stehen und noch nichts gegessen haben. Die meisten sitzen einfach nur rum.

Der Zug fährt ab

Gegen 18:15 schliesslich sieht sich der Sonderzug nach Hamburg gezwungen, ohne uns loszufahren. Noch immer sind rund 10 Leute in der Halle und warten auf das Urteil irgendeiner Kommission in Stuttgart. Bisher wurde Niemandem von den Angehörten erlaubt, den Zug zu besteigen. Schliesslich erhalte ich vom Polizisten, der mich zuvor verhört hatte, ein Dokument: „Anordnung der Einreiseverweigerung“ gemäss § 6 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Zur Begründung: „Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet würde eine gegenwärtige, schwerwiegende Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft begründen oder die öffentliche Gesundheit gefährden.“ Ich schaue den Polizisten ungläubig an. „Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten sie hinfahren können, aber das entscheiden nicht wir“, meint er.

Wieder zuhause suche ich die Unterlagen der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt von 2010. Schliesslich sollte dort vermerkt sein, warum ich – obwohl wie gesagt nie verurteilt – für die Gesellschaft und die öffentliche Gesundheit so gefährlich sein soll. In den Akten steht vermerkt: „Dem Beschuldigten wird vorgeworfen (…), an einer öffentlichen Zusammenrottung von mindestens 20 vermummten Personen teilgenommen zu haben, die am Gitterzaun neben dem Eingangstor zum Ausschaffungsgefängnis Bässlergut Transparente u. a. mit der Aufschrift „LIBERTE“ und „FREEDOM“ aufhängten, durch lautstarkes Skandieren von Parolen auf sich aufmerksam machten, einzelne Schilder vor dem Gefängnistor mit wasserfesten Stiften verschmierten sowie Steine und Rauchpetarden über den Gitterzaun in den Innenhof des Bässlerguts warfen. Einer dieser Steine landete auf dem Dach eines Dienstwagens und verursachte eine Delle im Fahrzeugdach.“ Des Weiteren wird eindeutig festgehalten, dass ich am besagten Tag lediglich in der Nähe, also nicht am Kundgebungsort selbst, von der Polizei gesehen und verhaftet worden sei und dass keinerlei Beweise (!) gegen mich vorliegen.

Die Bedeutung

Es ist schon eine Schweinerei, einem Menschen zu verbieten, gegen ein politisches Ereignis zu demonstrieren, selbst wenn er sich mit anderen „zusammengerottet“ hat, sich vermummt, ein Schild bemalt oder eine Delle an einem Fahrzeug verursacht hat. Doch in meinem Fall sind dies lediglich haltlose Unterstellungen. Zur Begründung erwähnt die Balser Staatsanwaltschaft Art. 261 der Strafprozessordnung: „Erkennungsdienstliche Unterlagen über die beschuldigte Person dürfen ausserhalb des Aktendossiers während folgender Dauer aufbewahrt werden, sofern ein hinreichender Tatverdacht auf ein neues Delikt besteht, auch verwendet werden: (…) im Falle eines Freispruchs aus anderen Gründen, der Einstellung oder Nichtanhandnahme eines Verfahrens: bis zu Rechtskraft des Entscheids. Ist in einem Fall von Absatz 1 Buchstabe b aufgrund bestimmter Tatsachen zu erwarten, dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen über die beschuldigte Person der Aufklärung künftiger Straftaten dienen könnte, so dürfen sie mit Zustimmung der Verfahrensleitung während höchstens 10 Jahren seit Rechtskraft des Entscheides aufbewahrt und verwendet werden.“

Im Klartext: Egal ob einer beschuldigten Person irgend etwas nachgewiesen werden kann oder nicht, dürfen alle (unbewiesenen oder frei erfundenen) „Informationen“ über dieselbe fichiert und offenbar auch an ausländische Behörden weitergegeben werden.

Ich lebe in Basel, einer beschaulichen und gemütlichen Stadt in einem der wohlhabendsten und politisch stabilsten Länder der Welt. Die systemkritische Linke stellt heute keine ernstzunehmende Bedrohung für die herrschende Ordnung dar. Ich frage mich: Wie werden die Behörden, die Politik und der Justiz- und Polizeiapparat reagieren, wenn sich die Verhältnisse ändern? Wenn der Widerstand gegen den Kapitalismus breiter und entschlossener wird? Welche Mittel werden sie dann gegen uns ergreifen? Wenn in Zeiten grosser politischer Stabilität Unschuldige als „schwerwiegende Gefährdung“ identifiziert und ihrer politischen Rechte beraubt werden, dann sollten wir mit Blick auf unsere „demokratischen Institutionen“ besorgt sein. Aber natürlich gilt die Unschuldsvermutung.

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1 Kommentar

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