In Nicaragua finden derzeit die grössten Proteste seit der sandinistischen Revolution von 1979 statt. Ironischerweise richten sie sich gegen Präsident Daniel Ortega, damals wie heute Chef der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Wie konnte es dazu kommen? Am Anfang des Aufstands standen Proteste gegen Rentenkürzungen, welche vom Internationalen Währungsfonds gefordert wurden. Unterdessen hat die Regierung die Reform zwar zurückgezogen, doch die Protestbewegung fordert jetzt Ortegas Rücktritt. Die Reaktion der Regierung und Schlägertrupps der FSLN waren das gewalttätigste, was sich Ortega seit seiner Wiederwahl 2006 geleistet hat. Bis heute gab es über 90 Todesopfer und über 850 grossteils schwer Verletzte. Letzte Woche wurde bei einer Grossdemonstration mutmasslich ein Kind von einem Scharfschützen erschossen, während es die Hand der Mutter hielt. Um zu erörtern, wer hier eigentlich genau gegen Ortega protestiert, haben wir mit Franziska Scherrer gesprochen. Franziska ist in Europa aufgewachsen, lebt aber seit den 1980er Jahren in Nicaragua. Sie hat seither verschiedene soziale Projekte in Nicaragua mitaufgebaut. Gestern erschien bereits eine Einführung zur Lage in Nicaragua. Hier folgt das Interview.
Mit Franziska Scherrer* sprach Theo Vanzetti.
Theo Vanzetti: Liebe Franziska, du hast die Proteste in Managua von Anfang an miterlebt. Wie präsentiert sich die Lage rund einen Monat nach Beginn des Aufstands? Ortega hat die Rentenreform zurückgezogen. Danach gingen die Proteste aber weiter. Weshalb? Was wird nun gefordert?
Franziska Scherrer: Am Anfang dauerte es immerhin über vier Tage, bis Ortega sich endlich öffentlich äusserte und das Dekret der Rentenreform zurückzog. In dieser Zeit hat seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo die demonstrierenden Studenten als “kleine vergiftete Minigruppen” bezeichnet und es gab schon drei Tote, viele Verletze und Festnahmen. Dadurch waren viele Leute sehr sauer. So begannen viele weitere Menschen auch zu demonstrieren. In den ersten Wochen töteten die Demopolizei und die FSLN-Schlägertrupps viele Demonstrierende. Sie benutzten nicht nur Gummischrot und Tränengas, sondern auch scharfe Munition. Dadurch wurden es erst recht immer mehr Demonstrierende. Es gab fast täglich Tote, Verletzte und Verschwundene.
Bei seinem TV-Auftritt am vierten Tag des Aufstands zeigte sich Ortega mit den Maquila-Chefs [Maquilas sind exportorientierte Grossraumfabriken, Anm. v. T.V.]. Diese forderten von ihm die sofortige Einstellung der Angriffe durch die Polizei und die Wiederherstellung der Ordnung. Die Maquila-Chefs waren verängstigt, weil während eines Aufstands die bereits kalkulierte Produktion und die Verträge nicht hätten eingehalten werden können. Und ich glaube, sie waren schon erstaunt über dieses Verhalten der Ortega-Regierung und ahnten wohl, dass da nichts Gutes kommen wird. Für die Studierenden, die zuerst nur gegen die Rentenreform demonstriert hatten, war es wie eine Ohrfeige, dass sich Ortega bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach Beginn der Proteste mit Unternehmern und nicht mit Demonstrierenden traf. Ganz schnell kamen auch die Forderungen nach einer wirklichen Demokratie ans Tageslicht. Und am fünften Tag rief der Unternehmerverband unter anderem zu einer Demo auf, die so gut besucht wurde wie seit den 80er-Jahren nicht mehr. Sicher eine halbe Million Leute gingen auf die Strassen, forderten den Rücktritt der Regierung und Gerechtigkeit für die Toten. Die katholische Kirche hat kurz drauf auch zu einer Riesendemo aufgerufen.
Du hast mir gesagt, am Anfang seien keine Parteien präsent gewesen. Es sei ein spontaner Aufruhr gewesen. Dieser wurde zu Beginn vor allem durch die Polizei niedergeknüppelt. Später sind immer mehr FSLN-Schlägertrupps aufgetaucht. Wieso war das so?
Richtig, zuerst sind die sogenannten „Antimotines“ [Demopolizei, Anm. v. T.V.] und die „normale“ Polizei gegen die demonstrierenden Studenten vorgegangen, wobei sie eben auch mit scharfer Munition schossen, also nicht nur mit Gummischrot. Etwas später forderten dann alle möglichen Organisationen und die Kirche, dass die Polizei die Angriffe stoppen und in den Kasernen bleiben soll. Auch wurde ein Ende der Angriffe durch die inzwischen aktiven FSLN-Schlägertrupps gefordert. Die Regierung hat die Polizei zurückgepfiffen, während sie die inoffiziellen Schlägertrupps angeblich nicht kennt und ihnen so auch keine Befehle erteilen kann. Das stimmt aber alles nicht. Es gibt Beweise, dass die Schlägertrupps im Auftrag der Regierung handeln. Manche Ortega-Anhänger*innen – ich kenne selbst solche – sagen nach all den schrecklichen Dingen heute noch, dass sie Ortega bis zum Ende verteidigen würden. Und natürlich haben sie Waffen. Denn alle haben Waffen zu Hause. Es gibt auch solche, die auf den Motorrädern durch die Quartiere fahren und wild auf Häuser schiessen. Dabei werden manchmal Unschuldige getötet. Auch kommen sie in die Quartiere, um dort gegen Bezahlung Schläger zu finden. Sie müssen über eine gut funktionierende Kommunikationsstruktur verfügen, dass sie so kurzfristig agieren können.
Inzwischen haben aber schon über 200 Polizisten versucht, ihren Posten zu verlassen. Einigen ist es gelungen, andere wurden eingesperrt. Die Chefin der Nationalpolizei, Aminta Granera – ja, eine Frau – wurde angeblich zum Rücktritt gezwungen und nach Miami abgeschoben, weil sie mit dem Vorgehen nicht einverstanden war.[1]
Wir alle fragen uns bis heute: Wieso musste die Regierung die demonstrierenden Studierenden bei der UCA [Die Universidad Centroamericana ist eine Privatuni in Managua, Anm. v. T.V.] am 19. April sofort mit den „Antimotines“ angreifen? Das war völlig unnötig, denn die Studierenden waren dort völlig friedlich.
Der Aktivist Tomas Andino Mencía aus Honduras schreibt, es sei eine klassische Strategie dieser sogenannt progressiven Regierungen in Lateinamerika, Proteste mit dem Verweis zu diffamieren, es handle sich nur um imperialistische Agent*innen, welche von den USA gesteuert werden. Die FSLN-Regierung manipuliere laut Mencía die antiimperialistischen Gefühle des Volkes, welches aufgrund der Revolution tiefen Respekt vor den Sandinist*innen hat. Doch im Gegensatz zu Venezuela, wo wirklich weite Teile der Opposition von rechten, pro-imperialistischen Kräften getragen würden, sei es in Nicaragua völlig anders. Hier sei es vor allem die progressive Student*innen-Jugend.Wie erlebst du das vor Ort? Meinst du es gibt Instrumentalisierungsversuche?
Also hierzulande sind die demonstrierenden Menschen bisher noch selbstbestimmt, das heisst, die meisten Demos sind spontan entstanden. Sicherlich wird es aber Einflüsse von Seiten einiger Parteien geben, die diese Regierung loswerden wollen. Bisher halten sich aber alle mit Propaganda für ihre Partei oder Gruppe zurück, wobei es ja auch wenige oppositionelle Organisationen gibt. Das wird dann erst wieder ein Thema, wenn es um Wahlen geht. Im nationalen Dialog [Verhandlungsgremium welches im Zuge der Proteste installiert wurde, Anm. v. T.V.] sitzen ja auch Leute aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Aber den Bären, dass die Demonstrierenden hier alle von der CIA oder den Imperialisten gesteuert würden, kann man den Nicaraguanern heute nicht mehr aufbinden. Es gibt zu viele unabhängige Menschen, die eine Veränderung im Staat wollen. Dafür spricht auch die grosse Zahl der Nichtwähler*innen in den letzten Jahren. Wären heute Wahlen, würde wahrscheinlich eine Mehrheit die FSLN nicht mehr wählen. Deshalb hat Ortega auch kein Interesse an vorgezogenen Wahlen.
Wieso haben die Student*innen so eine starke Rolle? Schliesslich ging es am Anfang der Proteste ja um die Rentenreform. Wie sind die Student*innen organisiert? Gibt es zum Beispiel Student*innengewerkschaften?
Ich glaube, dass dieses Rentendekret nur der Tropfen war, der das Fass zum überlaufen brachte. Natürlich haben die jungen Demonstrierenden Grosseltern, welche sich empörten, als sie von den Kürzungen hörten. Aber ich weiss auch, dass viele Menschen hier in Nicaragua mit der Regierung seit längerer Zeit nicht mehr zufrieden sind. Die Studierenden haben offizielle Organisationen in den Universitäten, die aber mindestens seit 2007 von der FSLN kontrolliert werden. Das heisst, die Studierendenvertreter*innen sind zu 100% Anhänger*innen der Regierung, die ihnen sagt, wo’s durchgeht. Natürlich gibt es auch in den Studierendenorganisationen Wahlen, aber die sind nicht transparent. Denn die Organisationen sind in den Händen der Juventud Sandinista [Sandinistische Jugend, Jugendorganisation der FSLN, Anm. v. T.V.]. Die Vertreter*innen haben ihre Posten oft schon jahrelang inne und werden dafür bezahlt. Wie unter Ortega üblich, werden diese treuen Anhänger*innen mit Studienplätzen, Häusern, Arbeitsplätzen, Geld und so weiter belohnt.
Junge Menschen haben die revolutionären 1980er Jahre nicht mitbekommen. Deshalb haben sie einen völlig anderen Bezug zur FSLN als ältere Generationen. Was bringt die Jugend auf die Strasse?
Man sollte eine Sache nicht unterschätzen. Diese jungen Menschen, welche heute demonstrieren, haben Eltern und Grosseltern, die natürlich alle von der Revolution erzählen. Und manchmal gibt es auch ein oder zwei Familienmitglieder, die in dieser Zeit umgekommen sind, das heisst, sie fehlen in der Familie und die Geschichte ist dadurch sehr präsent.
Immer lauter werden auch Vergleiche zwischen Ortega und dem alten Diktator Somoza. Bei aller Kritik an Ortega, ist dieser Vergleich mit dem faschistoiden Schlächter Somoza nicht lächerlich? Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um einen Versuch der Rechten, die Proteste zu instrumentalisieren.
An den grossen Demos hörte man immer wieder den Slogan “Daniel y Somoza, son la misma cosa.” („Daniel Ortega und Somoza, das ist dieselbe Sache.“). Der Vergleich war also ziemlich präsent. Danach haben viele ältere Leute dazu Stellung genommen und aus ihrer Sicht diesen Slogan als richtig beurteilt. Es gab sogar Leute, die sagten, dass Ortega schlimmer sei. Ich will und kann das nicht beurteilen, aber 76 Tote in einem Monat sind doch recht beeindruckend, oder? Ich glaube, dass Somoza nur schlimmer war, was Folter betrifft.
Mittlerweile haben das Centro Nicaragüense de Derechos Humanos (Nicaraguanisches Zentrum der Menschenrechte, CENIDH) und die Comisión Interamericana de Derechos Humanos (Interamerikanische Menschenrechtskommission, CIDH) Ortegas Regierung Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Dass diese geschahen, ist unweigerlich belegt. Doch wie unparteiisch sind diese Organe? Schliesslich ist das CIDH teil der Organisation Amerikanischer Staaten, ein Organ, welches die USA kontrollieren.
Es ist ein bisschen schwierig für mich diese Suggestivfrage zu beantworten. Aber warum soll eine Menschenrechtsorganisation aus den USA anders sein als eine von sonst wo? Ausserdem ist die hiesige Menschenrechtsorganisation, das CENIDH, auf dasselbe Ergebnis gekommen. Inzwischen war übrigens auch Amnesty International in Nicaragua und hat die Befunde der Interamerikanischen Menschenrechtskommision (CIDH) bestätigt. Wir können hier vor Ort ja alles sehr einfach überprüfen. Wir haben die Menschenrechtsberichte und das, was wir selbst erleben.
*Name geändert
[1]Aminta Granera ist ehemalige Guerillakämpferin und in der Bevölkerung sehr beliebt. Manche sind der Meinung, dass sie die nicaraguanische Polizei zu einem positiven Vorbild im von Gewalt geprägten mittelamerikanischen Raum ausbauen konnte. Schon vor rund zwei Jahren übernahm Francisco Díaz, ein enger Verwandter von Vizepräsidentin Rosario Murillo de facto ihre Funktion [Anm. v. T.V.].