In diesem Interview mit Cinzia Arruzza geht es um ihr zusammen mit Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya veröffentlichtes „Manifest für einen Feminismus der 99%“ und wieso es vor allem am heutigen 8. März, dem Frauen*kampftag, und am 14. Juni mit dem Frauen*streik wichtig ist, diese Forderungen wieder lautstark auf die Strassen zu tragen. Wir haben bereits im Januar mit einem Interview mit Tithi Bhattacharya das Manifest vorgestellt; nun folgt eine Fortsetzung davon. (Red.)
Interview mit Cinzia Arruzza; aus SoZ
Die italienische Feministin Cinzia Arruzza lehrt Philosophie an der New School of Social Research in New York und ist Autorin von Feminismus und Marxismus (Neuer ISP Verlag, 2016). Zusammen mit Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya veröffentlichte sie kürzlich das Manifesto for a Feminism for the 99% (Verso, 2019). Das folgende Interview mit Arruzza führte Josefina L. Martínez für das spanische Internetmagazin ctx – Revista Contexto im August 2018.
Sie haben zusammen mit anderen ein «Manifest für einen Feminismus für die 99 Prozent» verfasst. Was sind Ziel und Hauptthese des Manifests?
Der Feminismus für die 99 Prozent ist die antikapitalistische Alternative zu dem liberalen Feminismus, der in den vergangenen Jahrzehnten infolge des geringen Grads an Kämpfen und Mobilisierungen in der Welt hegemonial geworden ist. Unter liberalem Feminismus verstehen wir einen Feminismus, der sich auf Freiheiten und auf formale Gleichheit konzentriert, ein Feminismus, der die Ungleichheit der Geschlechter beseitigen will, aber mit Mitteln, die nur den Frauen der Elite zugänglich sind. Wir denken dabei etwa an den Typ von Feminismus, der von Frauen wie Hillary Clinton verkörpert wird. Aber auch an den Feminismus, der in Europa zu einem Verbündeten von Regierungen bei der Durchsetzung ihrer islamophoben Politik im Namen von «Frauenrechten» geworden ist. Dieser Feminismus erstrebt Geschlechtergleichheit innerhalb einer spezifischen Klasse – der privilegierten – und lässt die große Mehrheit der Frauen außen vor. Der Feminismus der 99 Prozent ist eine Alternative zum liberalen Feminismus, denn er ist offen antikapitalistisch und antirassistisch: Er trennt nicht die formale Gleichheit und Emanzipation von der Notwendigkeit, die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Beziehungen in ihrer Gesamtheit zu verändern und die Ausbeutung der Arbeit, die Ausplünderung der Natur, Rassismus, Krieg und Imperialismus zu überwinden. Schließlich positioniert er sich unmittelbar als Teil des Transfeminismus, verteidigt die Rechte und Bedürfnisse von Sexarbeiterinnen und -arbeitern und ist bestrebt, gesellschaftliche und politische Allianzen mit allen Bewegungen zu bilden, die für eine bessere Welt für die 99 Prozent kämpfen.
Glauben Sie, dass die neue Frauenbewegung, die sich gerade in der ganzen Welt entwickelt, eine Wiederkehr des Klassenkampfs ankündigt?
Das ist meine Hoffnung, darauf setze ich. Diese neue feministische Welle ist die einzige existierende transnationale Mobilisierung, die Millionen Frauen und Männer aus der ganzen Welt zusammenbringt. In einigen Ländern ist es schon schwierig, zwischen Klassenkampf und der feministischen Bewegung eine klare Trennlinie zu ziehen, vor allem in Argentinien natürlich, aber auch in Spanien und Italien. Diejenigen, die aufrichtig an einer Wiederbelebung des Klassenkampfs interessiert sind, sollten ein für allemal die spalterische und abwertende Haltung gegenüber dieser feministischen Welle aufgeben: Hört auf zu glauben, dass feministische Mobilisierungen eine Antithese zum Klassenkampf oder bestenfalls eine äußerliche Ergänzung sind. Die neue feministische Welle sollte vielmehr als ein Prozess von Radikalisierung und Politisierung betrachtet werden, in der die Subjektivität der Arbeiterinnen – die oftmals jung, prekär beschäftigt, schlecht oder gar nicht bezahlt sind, ausgebeutet und am Arbeitsplatz sexuell belästigt werden – als eine kämpferische und potenziell antikapitalistische Subjektivität entsteht.
Es scheint, dass in den aktuellen und zukünftigen Kämpfen der Arbeiterklasse die Frauen eine führende Rolle spielen werden. Ist das jetzt schon so?
Es gibt ein interessantes Phänomen: Wir erleben eine bedeutende Zunahme von Streiks und Mobilisierungen am Arbeitsplatz im Bereich der sozialen Reproduktion. Zum Beispiel die Streiks des Lehrpersonals in den USA – wilde Streiks, die die Dynamik der Arbeiterbewegung deutlich verändern –, oder die Streiks der Angestellten im Gesundheitswesen in Indien… In diesen Streiks bilden Arbeiterinnen die Mehrheit und spielen eine Schlüsselrolle. Obwohl es keine explizite Verbindung zwischen diesen Streiks und dem internationalen Frauenstreik der letzten Jahre gibt, glaube ich, dass die feministische Bewegung eine Rolle bei der Ermächtigung dieser Frauen spielt, indem sie demonstriert, dass Rebellion möglich und nötig ist.
Bei den feministischen Mobilisierungen in Spanien und Argentinien hören wir immer häufiger: «Patriarchat und Kapital – eine kriminelle Allianz». Gibt es erneut eine Debatte über das Verhältnis zwischen Frauenunterdrückung und Kapitalismus?
Der Grund für solche Parolen ist, dass wir über strukturelle Fragen und die Komplexität sozialer Beziehungen neu nachdenken, während in den letzten Jahrzehnten der größte Teil des Feminismus mit der sog. «linguistischen Wende» beschäftigt war und sich insbesondere auf Fragen von Sprache, Kultur und Machtverhältnissen zwischen Individuen konzentriert hat. Es ist ein sehr positives Zeichen, dass junge Feministinnen daran interessiert sind, die strukturelle Verbindung zwischen Frauenunterdrückung und Kapitalismus, die Wurzel unserer aktuellen Situation, zu begreifen.
In verschiedenen Beiträgen bekämpfen Sie die These von der «dualen Unterdrückung», wonach Kapitalismus und Patriarchat autonome Systeme sind. Warum ist diese Theorie falsch, und was sind die praktischen Konsequenzen für die Frauenbewegung?
Es gibt verschiedene Versionen der Theorie von der «dualen Unterdrückung», sie haben je verschiedene politische Konsequenzen. Die klassischste Version, beeinflusst vom französischen materialistischen Feminismus, endet – in der einen oder anderen Weise – mit der Konzeptualisierung ethnischer und Geschlechterunterdrückung als Systeme ausbeuterischer Beziehungen. Deshalb begreifen sie Geschlecht als Klasse. Meine Einwände sind zweierlei. Erstens müssen wir, wenn wir Geschlecht als Klasse begreifen, sexuelle und Geschlechterunterdrückung als Klassenantagonismen interpretieren, die grundsätzlich Möglichkeiten gemeinsamer Bündnisse und Kämpfe zwischen Männern und Frauen ausschließen. Einfach ausgedrückt: Ich würde kein Bündnis mit meinem Arbeitgeber eingehen. Und zweitens, wenn Geschlecht, Ethnie und Klasse drei autonome Systeme sind und sich überschneiden oder kombinieren, ist überhaupt nicht klar, warum sie dies tun. Tatsächlich treten in einigen Fällen traditionelle Formen der Geschlechterunterdrückung in unmittelbaren Konflikt mit kapitalistischen Interessen.
Im Gegensatz zu den «dualen» Theorien verteidigen Sie das Konzept der «gesellschaftlichen Reproduktion» und reklamieren es für eine marxistische feministische Theorie.
So wie ich das Verhältnis zwischen Geschlecht und Klasse interpretiere – zusammen mit Autorinnen wie Nancy Fraser, Tithi Bhattacharya und anderen –, basiert es auf dem Begriff der gesellschaftlichen Reproduktion. Kurz gesagt, bezieht es sich auf die Aktivitäten und die Arbeit im Zusammenhang mit der biologischen, täglichen und Generationen umfassenden Reproduktion der Arbeitskraft. Eine Arbeitskraft zu reproduzieren bedeutet die Reproduktion von Menschen, von Leben. Das ist nicht beschränkt auf die Bedürfnisse bloßer Subsistenz oder des Überlebens. Es erfordert auch die Befriedigung komplexerer Bedürfnisse und die Reproduktion von Fertigkeiten, die dazu beitragen, die Arbeitskraft in die spezielle Ware zu verwandeln, die auf dem kapitalistischen Markt verkauft werden kann. Wir sprechen deshalb über die Sozialisation von Kindern, von Bildung und Erziehung, aber auch von Gesundheit und sozialen Dienstleistungen. Die Arbeitskraft in diesem Typ von Aktivität ist im doppelten Sinne stark feminisiert: Die große Mehrheit der Arbeitenden (lohnabhängig wie nichtlohnabhängig) sind Frauen, und sie gehören zu den am meisten Ausgebeuteten.
Und wie verbinden sich Unterdrückung und Ausbeutung mit der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion?
Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was gesellschaftliche Reproduktion mit Frauenunterdrückung (und zum Teil ethnischer Unterdrückung) zu tun hat, ist, dass gesellschaftliche Reproduktion im Kapitalismus notwendigerweise der Produktion als eine Funktion des Profits untergeordnet ist. Das Paradoxe ist, dass der Kapitalismus die gesellschaftliche Reproduktion benötigt, aber die Kosten dafür nicht bezahlen will – vor allem weil alle Aktivitäten der gesellschaftlichen Reproduktion eine niedrige Technologie aufweisen und arbeitsintensiv sind, was bedeutet, dass sie kostspielig sind. Die Art und Weise, mit der es die Kapitalisten (und die Staaten) schaffen, diese Kosten so niedrig wie möglich zu halten, variiert, aber wir können einige gemeinsame Merkmale feststellen: die Zunahme schlecht bezahlter Arbeit von Migrantinnen im privaten Sektor (bspw. bei der Betreuung von Kindern und alten Menschen); die Kürzungen bei den Sozialausgaben und sozialen Dienstleistungen, die Frauen zwingen, diese Arbeit unentgeltlich zu Hause zu leisten; die Kommerzialisierung der profitabelsten Aspekte von Arbeiten gesellschaftlicher Reproduktion in Restaurants, Wäschereien usw., wobei einmal mehr billige migrantische Arbeit verwendet wird.
Klassenausbeutung und Unterdrückung von Geschlecht und Ethnie bilden im Kapitalismus also eine komplexe Totalität.
Es gibt noch weit mehr über diese Prozesse zu sagen. Die Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion erklärt nicht alles, aber sie liefert uns Werkzeuge, sodass wir erkennen können, wie augenscheinlich miteinander unverbundene Phänomene sich in einen Kontext gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsverhältnisse fügen, die Menschen bedrücken, ihre verfügbaren Optionen drastisch verringern und unser Leben organisieren und beschränken.