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Intersektionalität: Warum feministische Kämpfe so sein müssen (Teil 2)

Die Manifeste für den kommenden Frauenstreik umfassen vielfältige Forderungen. Neben Themen wie Lohngleichheit, sexueller Gewalt und Care-Arbeit werden auch Verbindungen zu Kämpfen gegen Rassismus, die Klimakrise, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und LGBTIQ+ hergestellt. Damit wird anerkannt, dass verschiedene Formen der Unterdrückung miteinander verwoben sind und sich gegenseitig stützen. Der folgende Text beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken von Unterdrückungsmechanismen und plädiert dafür, verschiedene emanzipatorische Bewegungen in Praxis und Theorie zu verbinden. Gestern erschien an dieser Stelle Teil 1 dieses Artikels. Hier folgt der zweite Teil.

von Mitgliedern der BFS und BFS Jugend Basel und Zürich

Die soziale Reproduktion im Kapitalismus

So wie die Unterordnung von People of Colour braucht der Kapitalismus für sein Funktionieren die Unterdrückung von Frauen. Denn auch wenn patriar­chale Strukturen schon vor dem Aufkommen des Ka­pitalismus existierten, so hat der Kapitalismus neue, unver­wechselbare Formen des Sexismus etabliert. Der wichtigste Schritt bestand darin, Arbeit oder Aktivitäten aufgrund des Geschlechts einzuteilen: Den Frauen wurde die Reprodukti­on, also die (Wieder­-)Herstellung von Menschen aufgebürdet, während den Männern die Herstellung von Gütern für den Verkauf und damit Gewinnerzielung zugewiesen wurde. Die «Frauenarbeit» wurde der «Männerarbeit» untergeordnet. Dies zeigt sich dadurch, dass für diese Art der Arbeit so wenig wie möglich, und das heisst meistens gar nichts bezahlt wird.

Die (Wieder­-)Herstellung von Menschen wird auch als so­ziale Reproduktion bezeichnet. Dazu gehört das Erschaffen und Erhalten von Leben im biologischen Sinne (also das Ge­bären und Ernähren von Kindern) aber auch die Wiederher­stellung der menschlichen Arbeitskraft. Das beinhaltet, Men­schen mit den «richtigen» Einstellungen und Fähigkeiten zu erziehen. «Richtig und falsch» richtet sich natürlich nach den Bedürfnissen der herrschenden Klasse. So wird von den Müt­tern und Schulen der Arbeiter*innenklasse erwartet, dass sie ihre Kinder auf das Leben als ordentliche Arbeiter*innen vor­bereiten: sie sollen sich gehorsam und respektvoll gegenüber den Chefs verhalten und ausserdem bereit sein, ihre Ausbeu­tungssituation so zu akzeptieren, wie sie ist.

Diese Erziehung in die kapitalistische Gesellschaft hinein enthält auch die Dimensionen der Geschlechterbinarität (6) und Heteronormativität (7). So werden Mütter, Lehrer*innen und Ärzte*innen und andere ermutigt, dafür zu sorgen, dass Kin­der ausschließlich als cis- (8) ­Mädchen oder cis­-Jungen und zu­dem heterosexuell erzogen werden. Menschen, die sich nicht dem Diktat der Heteronormativität und Geschlechterbinarität unterordnen wollen oder könnten, werden mit gewaltvoller Diskriminierung bestraft. Als Beispiele dafür sind Genitalope­rationen bei Inter­-Menschen, Aberkennung der Identität von Trans­-Menschen oder Konversionstherapien von Homosexuel­len zu nennen.

Es ist unerlässlich, die Wichtigkeit der sozialen Reproduk­tion für den Kapitalismus zu verstehen, denn sie ist zentral für dessen Funktionieren. Wird dieser Form der Arbeit genü­gend Rechnung getragen, so verändert sich auch das Ver­ständnis des Klassenbegriffs. Es handelt sich nicht nur um die Lohnabhängigen, aus denen die Kapitalist*innen direkt Profit ziehen, sondern auch um all jene, welche die nötige (gratis-)­ Arbeit leisten, damit Menschen überhaupt Lohnarbeit verrich­ten können. Somit muss das altmodische Bild über Bord ge­worfen werden, nachdem das Proletariat vorwiegend aus Mi­nen­ und Fabrikarbeitern besteht. Denn auch all jene, die auf dem Feld, in Privathaushalten, in Büros, Hotels, Restaurants, Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen, im öffentlichen Sektor und in der Zivilgesellschaft arbeiten sowie Prakti­kant*innen, Arbeitslose und all jene, die für ihre Arbeit kei­nen Lohn erhalten, sind Teil der globalen Arbeiter*innenklas­se. Es geht also nicht nur um weisse Männer, denn die globa­le Arbeiter*innenklasse besteht natürlich zum Grossteil aus Migrant*innen, People of Colour, Frauen, sowohl cis­ als auch trans­ und Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, mit oder ohne Behinderungen. Dies sind allesamt Bevölkerungs­gruppen, deren Bedürfnisse und Wünsche vom Kapitalismus mit Füssen getreten werden.

Klimazerstörung und Kapitalismus gehören zusammen

Nebst der Gratisarbeit von Frauen und dem globalen Rassismus ist das kapitalistische System ebenso auf die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen ange­wiesen, was unweigerlich die Zerstörung der Natur mit sich bringt. Schaut man in die Geschichte, so zeigt sich, dass der Kapitalismus im Wesentlichen ein fossiles Wirt­schaftssystem ist. Ohne die Förderung von Öl, Gas und Kohle hätte sich die kapitalistische Wirtschaft nicht durch­setzen können und ein derart explosives Wachstum wäre nicht möglich gewesen. Fossile Brennstoffe sind effizient, günstig – und zerstörerisch. Im Rahmen des kapitalisti­schen Systems wird eine Abkehr von fossilen Brennstoffen deshalb nicht passieren. Denn wirklicher Umweltschutz wirft keinen Profit ab. Von den klimaschädlichen Praktiken des globalen Wirtschaftssystems ist im Moment noch vor­wiegend der globale Süden betroffen. Das oben erwähnte Landgrabbing ist nur ein Beispiel für die Verknüpfung von (neo­-) kolonialen und umwelt-zerstörerischen Praktiken im Kapitalismus. Weitere Beispiele sind der Export von Abfall in Länder wie Nigeria oder China oder die Tatsache, dass Regionen im globalen Süden viel härter von den schlimmer werdenden Naturkatastrophen betroffen sein werden. Da­bei leiden Frauen über-proportional unter den Folgen der Klimakrise. Im globalen Süden stellen sie die überwiegen­ de Mehrheit der ländlichen Arbeitskräfte dar und tragen bei der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Unterkunft die Hauptverantwortung. Deshalb ist es nicht überraschend, dass mittlerweile der Grossteil der Klimage­ flüchteten Frauen sind und Frauen auch die Speerspitze in Kämpfen gegen umweltzerstörerische Unternehmen sind.


Mitglieder der APWLD (Asia Pacific Forum on Women, Law and Development) demonstrierten 2018 am Klimagipfel in Polen für Klimagerechtigkeit.

Ebenso wie die Frauenarbeit rund um die soziale Re­produktion wird die Natur kostenlos ausgebeutet. Beides wird als «natürliche», nie versiegende Ressource angesehen und unaufhörlich ausgepresst und zerstört. Ebenso wie die bereits ausgeführte, sich ständig wiederholende Aneignung der weiblichen Arbeitskraft eine Voraussetzung für das funktionierten des Kapitalismus ist, ist es die Zerstörung der Natur.

Wenn wir unser Verständnis von Arbeit und somit auch unser Verständnis der Arbeiter*innenklasse ändern, hat das Auswirkungen darauf, wie wir Klassenkampf verstehen. Der Kampf der Arbeiter*innenklasse wird insofern erwei­tert, dass der Fokus nicht mehr nur auf gewerkschaftlich geführten Kämpfen für bessere Arbeits­ und Lohnbedingun­gen liegt. Ebenso wichtig werden die Kämpfe für die Be­freiung der Frauen, gegen Rassismus und Fremdenfeind­lichkeit, gegen Krieg und Kolonialismus. Klassenkämpfe umfassen somit auch Kämpfe um die soziale Reproduktion, für allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung und kos­tenlose Bildung, für Umweltgerechtigkeit und den Zugang zu sauberer Energie sowie für bezahlbares Wohnen und kostenlose öffentliche Verkehrsmittel.

Von der Intersektionalität zum Verbinden von Kämpfen

Die aus der Tradition des Black Feminism geborene Theorie der Intersektionalität lehrt uns, dass Unter­drückungssysteme miteinander verwoben sind, sich gegen­seitig stützen und sich in einzelnen Personen überlagern. Meist sind damit die Unterdrückungssysteme des Kapitalis­mus, des Hetero­-Patriarchats, des Rassismus sowie auch manchmal die Unterdrückung aufgrund körperlicher Fähig­keiten oder Alter gemeint. Intersektionale Methoden er­kennen, dass Women of Colour mit anderen Lebensrealitä­ten konfrontiert sind als weisse Frauen, aber auch als Men of Colour.

Damit wird klar, dass die Rhetorik, die von einer globa­len Schwesternschaft spricht, kontra­produktiv ist, weil sie den falschen Eindruck einer homogenen Gruppe der Frau­en vermittelt. Die Realität ist, dass, obwohl alle Frauen un­ter sexistischer Unterdrückung in der kapitalistischen Ge­sellschaft leiden, andere Unterdrückungssysteme die Le­bensrealität mitbeeinflussen.

Daraus schliessen wir, dass wir unseren Aktivismus re­flektieren müssen, zuhören und Unterschiede eingestehen müssen, uns gegenseitig Unterdrückungserfahrungen nicht absprechen und uns davor hüten sollen, diese zu priorisie­ren. Wir müssen lernen, unsere Bewegungen inklusiver zu gestalten, Formen der dominanten Normativität (cis­-hete­ro, weiss, männlich) aufzubrechen sowie Verallgemeine­rungen zu vermeiden. Jedoch dürfen wir unseren Aktivis­mus nicht darauf beschränken, nur unsere Umgangsformen miteinander zu verändern und alltägliche Diskriminierun­gen zu vermeiden. Unsere Kämpfe müssen die Strukturen hinter diesen diskriminierenden Umgangsformen sichtbar machen und angreifen: Die Art, wie auf der Welt Geld und Arbeit verteilt wird, welche Leute bereitwillig Gewalt aus­gesetzt werden und welche davor beschützt bleiben. Dies kann nur erreicht werden, indem sich unsere feministi­schen Bewegungen antikapitalistischen, ökologischen, anti­rassistischen, antiimperialistischen und LGBTQ+ Bewe­gungen anschliessen. Diese Kämpfe sollen sich theoretisch und praktisch verbinden.

Optimalerweise führt dies dazu, dass wir voneinander lernen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Durch den Austausch mit Menschen, die in anderen sozialen Kämpfen aktiv sind als wir, können wir unser Wis­sen über die eigene Unterdrückungssituation vertiefen. Wir lernen, was sie verursacht, wer von ihr profitiert und wem ein Befreiungskampf allenfalls schadet. Es soll dazu füh­ren, dass wir unsere Ziele neu formulieren und unseren Sinn für das Mögliche erweitern. Das Verbinden der Kämp­fe soll dazu führen, dass wir darüber nachdenken, wer als politische*r Verbündete*r oder Feind*in gelten soll.

Alles hängt jedoch von unserer Fähigkeit ab, eine Per­spektive zu entwickeln, die die Unterschiede zwischen uns weder vereinfacht, zelebriert, noch brutal ignoriert. Ob­wohl jede Unterdrückungsform ihre eigenen unverwechsel­baren Ausprägungen hat, werden alle durch dasselbe Sozi­al-­ und Wirtschaftssystem verstärkt. Indem wir dieses Sys­tem als Kapitalismus bezeichnen und uns zusammen­schliessen, um dagegen zu kämpfen, können wir die Spal­tungen unter uns, die das Kapital voranzutreiben versucht – Spaltungen durch Kultur, Hautfarbe, Herkunft, Gesund­heitszustand, Alter, Sexualität und Geschlecht –, am besten überwinden.

Aber wir müssen den Begriff Kapitalismus auf die richtige Weise denken und verwenden. Im Gegensatz zu engen, altmo­dischen Auffassungen besteht die Arbeiter*innenklasse nicht nur aus weissen Männern, die industrielle Lohnarbeit verrich­ten, sowie ihre Ausbeutung nicht als Hauptwiderspruch der ka­pitalistischen Herrschaft zu verstehen ist. Darauf zu bestehen schwächt die Klassensolidarität. In Wirklichkeit wird die Klas­sensolidarität nur durch die gegenseitige Anerkennung der re­levanten Unterschiede zwischen uns gefördert – unsere unter­schiedlichen strukturellen Situationen, Erfahrungen und Lei­den, unsere spezifischen Bedürfnisse, Wünsche und Träume. Das bedeutet auch, die vielfältigen Organisationsformen anzu­ erkennen, mit denen gegen Unterdrückungssysteme gekämpft werden. Ein Feminismus, der für 99% der Bevölkerung steht, soll damit die Gegensätze überwinden zwischen dem, was als «Identitätspolitik» und dem, was als «Klassenpolitik» bezeich­net wird.

Ein solcher Feminismus soll darauf abzielen, bestehende und zukünftige Bewegungen zu einem breit angelegten globa­len Protest zu vereinen. Ein Protest, der mit einer Perspektive ausgerüstet ist, die zugleich feministisch, antirassistisch, ökos­zialistisch und antikapitalistisch ist.

Den ersten Teil des Artikels findest du hier.

Dieser Text wurde von weissen (9) Mitgliedern der Bewegung für den Sozialismus zusammengestellt. Er soll mitunter zum Zweck haben, eine Grundlage für die Reflexion eigener Bewegungen zu legen. Inhaltlich beruht er überwiegend auf dem Buch Feminism for the 99%: A Manifesto von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser; sowie Inspirationen durch das Werk Why I’m No Longer Talking to White People About Race von Reni Eddo-Lodge.

Fussnoten:

Die soziale Norm, nach der es nur die zwei Geschlechter Frau und Mann geben soll.

Die soziale Norm, die davon ausgeht, dass alle Menschen heterosexuell sind (oder zu sein haben).

Cis-Menschen sind diejenigen, die sich mit dem Geschlecht iden- tifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

«Weiss-sein verstehen wir – genauso wie Schwarz-sein – nicht als wesenhafte Eigenschaften von Menschen, sondern als soziale Konstruktionen, die jedoch wirkmächtig sind und unsere Lebensrealitäten prägen. Weiss zu sein bedeutet, in Bezug auf Rassismus die privilegierte Position innezuhaben, d.h. als weiss werden Menschen bezeichnet, die in dieser Gesellschaft keine Rassismus-Erfahrungen machen, sondern durch Rassismus Privilegien erhalten». Aus dem Buch Geflüchtete und Kulturelle Bildung von Maren Ziese / Caroline Gritschke (Hg.)

Titelbild:

Autorin, Dichterin und Aktivistin Audre Lorde war ein frühes Mitglied des Combahee River Collective. Dieses Kollektiv von afrozentrischen Black Fe- minists hat den Kampf gegen die Unterdrückung durch Rassismus, Sexismus, Heteronormativiät und Kapitalismus zum Ziel. Sie entwickeln Analysen dazu, wie diese Unterdrückungssysteme ineinander verschränkt sind.

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1 Kommentar

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