Es bestätigt sich, was marxistische Feminist*innen schon seit Jahren sagen: Care-Arbeit ist systemrelevant. Doch was bedeutet Systemrelevanz genau? Und wieso können wir uns nicht darauf verlassen, dass diesen Berufen die angemessene Anerkennung und Bezahlung gebühren wird, auch nachdem epidemiologisch das Schlimmste überstanden ist?
von Sarah Friedli (BFS Jugend Zürich)
Was bedeutet systemrelevant?
«Als systemrelevant werden Unternehmen oder Berufe bezeichnet, die eine derart bedeutende volkswirtschaftliche oder infrastrukturelle Rolle in einem Staat spielen, dass ihre Insolvenz nicht hingenommen werden kann» so steht es auf Wikipedia. Okay, eigentlich ganz einfach, doch ich will einen Schritt zurück machen: Was in diesem zitierten Abschnitt ausgesagt wird ist nämlich ziemlich bedeutend. Es wird alleine die volkswirtschaftliche und infrastrukturelle Rolle hervorgehoben. Wo aber bleiben hier die Menschen? Klar, unser kapitalistisches Wirtschaftssystem durchdringt so ziemlich alles und natürlich auch unser soziales Zusammenleben. Und dennoch: Soziale Beziehungen, Gesellschaft und Gemeinschaft ist so vieles mehr als nur Wirtschaft. Wenn wir also von Systemrelevanz sprechen, muss logischerweise das Pflegen von sozialen Beziehungen, das Kümmern um hilfsbedürftige Menschen, das Zur-Welt-Bringen und Aufziehen von Kindern und die Sorge um die Natur als Grundlage für das menschliche Leben mitgedacht werden. Ich würde sogar darüber hinausgehen und sagen: Dies sind die eigentlich relevanten Tätigkeiten – relevant für ein gemeinschaftliches und nachhaltiges Leben.
Im Kapitalismus werden diesen Tätigkeiten aber lediglich eine untergeordnete Relevanz beigemessen. Es geht primär um die Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems, des Konkurrenz- und Profitzwangs. Etwas hat sich in der Corona-Krise aber getan: Es dämmert nun auch einigen Politiker*innen und Kapitalist*innen, dass das Wirtschaftssystem eben nicht funktioniert, wenn die Arbeiter*innen nicht überleben. Sie müssen also schauen, dass nicht die ganze Bevölkerung dahinsiecht, weil sie sonst keine Arbeiter*innen mehr haben, um nach der ersten Krise die Wirtschaft wiederaufzubauen.
Wäre es möglich, eine kapitalistische Wirtschaft, ohne die Arbeiter*innen zu bauen, wäre es allen Kapitalist*innen egal, ob die Bevölkerung stirbt oder nicht. Das zeigt sich im Diskurs, der sich darum dreht, ob es nicht einfach sinnvoll wäre, die Alten sterben zu lassen – sie würden doch eh nichts mehr zur Wirtschaft beitragen, sondern diese nur belasten. Dass überhaupt darüber diskutiert wird, Menschen zu opfern, damit die Wirtschaft weiter funktioniert, zeigt nur einen Aspekt dieses unmenschlichen Systems – das überdies seit seiner Entstehung dem Versprechen nicht nachkommt, es würde den Menschen Wohlstand, Frieden und Freiheit bringen.
Nebst dem totalen moralischen Bankrott des Kapitalismus ist auch schon lange klar, dass er dem Grossteil der Menschen nichts nützt, immer mehr Krisen hervorbringt und keine davon sozial abfedern kann. Ebenso die Corona Krise: Dass die Massentierhaltung und die Zerstörung der Umwelt Viren hervorbringen, ist bekannt. Und dass wir fast hilflos diesen Viren ausgesetzt sind, hat viel mit jahrzehntelangen neoliberalen Abbauprogrammen zu tun. Die Abschaffung dieses Systems ist also schon längst überfällig.
Aber zurück zum Überleben der Arbeiter*innen. Damit der Wirtschaft genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die ausgebeutet werden können, müssen zum einen genug Arbeiter*innen gemacht werden, zum anderen müssen diese Arbeiter*innen auch ständig wieder mit Energie versorgt werden, sodass sie auch jeden Tag wieder ihre Arbeitskraft verkaufen können. Die Arbeitskräfte müssen also ständig produziert und reproduziert werden. Marxistische Feminist*innen fassen diese Tätigkeiten unter dem Begriff der sozialen Reproduktion zusammen.
Die soziale Reproduktion
Zur Produktion von Arbeitskräften zählt nicht nur das Gebären von Kindern, sondern ebenso die Erziehung zu Arbeiter*innen. Denn Kinder kommen nicht mit dem Bewusstsein zur Welt, dass die einzige Art, in diesem System zu überleben, daraus besteht, jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Kinder kommen nicht mit dem Bewusstsein zur Welt, dass es «normal» ist, dass einige wenige die Welt besitzen, während viele für diese wenigen arbeiten. Kinder kommen nicht mit dem Bewusstsein zur Welt, dass (ne)okoloniale Abhängigkeit und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung «Standard» sind. All dies muss Kindern erst beigebracht werden, damit sie in diesem System auch so funktionieren, dass es dem Kapitalismus nicht schadet. Dazu gehört die Erziehung, Schulen, Kultur und spezifisch für die Schweiz: das Lernendenwesen, dank dem junge Menschen früh in den Arbeitsmarkt eingespeist werden können.
Zur Reproduktion von Arbeitskräften gehört genug Nahrung, wenn es gut kommt ein Dach über dem Kopf, emotionale Zuneigung, Gesundheit und auch immer wieder der performative Akt der Bewusstseinsschaffung, dass dies alles «normal» wäre. Es sind also unzählige Tätigkeiten, die dafür sorgen, dass es überhaupt möglich ist, dass tagtäglich Millionen von Menschen zur Arbeit gehen und sich ausbeuten lassen. Die Reproduktionsarbeit ist also für den Kapitalismus systemrelevant. Soweit so gut.
Eigentlich könnte man ja denken: Wenn diese Arbeit für den Kapitalismus so wichtig ist, dann müsste sie von Kapitalis*tinnen und der Polititk auch genügen Anerkennung und Wertschätzung erhalten. Falsch gedacht! Wir leben in einem System, in dem es darum geht, möglichst viele Profite zu machen, um auf dem Markt gegen die Konkurrenz bestehen zu können. Deshalb versuchen Kapitalist*innen, möglichst viel Arbeit aus möglichst billigen Arbeitskräften herauszuholen – nicht, weil sie böse Menschen sind, sondern weil sie in der Logik eines nach Profit strebenden Systems handeln.
Also: Ein*e Kapitalist*in muss soviel Profite wie möglich erzielen, um auf dem Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Gleichzeitig braucht sie Menschen, die die Arbeit verrichten – Arbeiter*innen. Diese Menschen müssen gewisse Grundbedürfnisse befriedigen können, um überhaupt arbeiten zu können. Und das Befriedigen dieser Grundbedürfnisse ist meist nicht rentabel, zumindest kurzfristig nicht. Der Bevölkerung wirklich gute Gesundheit zu garantieren, ist nicht rentabel. Allen möglichst reichhaltige und ausreichend Nahrung zu garantieren, ist nicht rentabel. Für die Erhaltung der Natur und der Biodiversität zu sorgen, ist nicht rentabel. Kindern eine möglichst umfassende, kritische Bildung zu ermöglichen, ist im besten Fall nicht rentabel, im schlechtesten Fall (fürs System) gar gefährlich. All diese Dinge sind nicht rentabel, weil eine ausgebeutete Arbeiter*innenklasse nicht dafür bezahlen kann. Denn im Kapitalismus werden in erster Linie nur zahlungskräftige Bedürfnisse befriedigt – mögen sie noch so sinnlos sein. (Es wird natürlich dennoch versucht, reproduktive Arbeit zu kommodifizieren und Profite daraus zu schlagen, aber dazu später mehr.)
So ist es für das Kapital also eine Gratwanderung zwischen Nichtstun für die (Re)produktion der Arbeiter*innen oder, etwas für die (Re)produktion zu tun und dabei zu riskieren, dass Verluste gemacht werden. Wenn gar kein Geld ausgegeben wird, um die Arbeiter*innenklassse zu (re)produzieren, wird es bald zu wenig Arbeitskräfte geben. Wenn zu viel Geld ausgegeben wird, sinken die Profite. So sehen wir in der Geschichte des Kapitalismus ein ständiges Kräfteringen darüber, wer für die (Re)produktion des Grossteils der Menschen aufkommt – es ist ein Teil des Klassenkampfs.
Die Einführung und der Ausbau der öffentlichen Dienste sind das Resultat von sozialen Kämpfen, die zugunsten der Arbeiter*innenklasse ausgegangen sind. Und das Ringen der Bourgeoise darum, für diese soziale Reproduktion möglichst wenig zu bezahlen, geht weiter. In den letzten 40 Jahren Neoliberalismus konnte diese Auseinandersetzung zunehmend zugunsten des Kapitals entschieden werden. Öffentliche Dienste wurden abgebaut, Schulen, Spitäler, öffentlicher Verkehr usw. wurden privatisiert. Sobald diese Bereiche in die private Marktwirtschaft eingebunden wurden, wurde versucht, Profite damit zu machen. Doch auch hier stösst die Rentabilität des Care-Sektors an seine Grenzen.
Das Kapital ist also darauf angewiesen, dass die Arbeitskraft (re)produziert wird. Diese soziale Reproduktion umfasst unzählige Tätigkeiten von Kochen und Schlafen über Pflegen und Sorgen bis zu Erziehen, Lehren, Mobilität garantieren etc. Da es Tätigkeiten sind, die dafür sorgen, dass Menschen (über)leben, werfen diese Tätigkeiten nicht wirklich Profit ab. Daher ist also das Kapital ständig darum bemüht, sicherzustellen, dass die soziale Reproduktionsarbeit verrichtet wird, ohne zu viel Geld dafür auszugeben. Und hier kommen Unterdrückungsverhältnisse ins Spiel, die dem kapitalistischen System diese Gratwanderung sehr vereinfachen. Zwei davon, mit denen sich die social reprodution theory (SRT) vor allem auseinandersetzt, sind Sexismus und Rassismus. Es sind zwei Unterdrückungsverhältnisse, die nicht erst im Kapitalismus entstanden sind, die aber vom kapitalistischen System unter anderem dazu benutzt werden, unliebsame Arbeit auf marginalisierte, rassifizierte und vergeschlechtlichte Personen abzuwälzen.
Eine kleine Geschichte feminisierter Arbeit
Die Arbeit der sozialen Reproduktion – ob bezahlt oder unbezahlt, ob im privaten oder öffentlichen Bereich – wird nämlich als weiblicher Aufgabenbereich naturalisiert und denjenigen Personen zugeschrieben, die als weiblich gelesen werden[1]. Es gibt keinen logischen Grund, weshalb hauptsächlich Frauen* diese Arbeiten (wie Haushalten, Kinder erziehen, Kranke pflegen) verrichten – Männer* können dies ebenso gut. Und es ist auch nicht die einzige Daseinsbestimmung von Menschen mit Uterus, dass sie Kinder gebären, wie dies staatlichen Institutionen scheinbar vorschwebt (es grüssen staatliche Kontrollausübung über Körper von Schwangeren sowie eingeschränkte oder inexistente Abtreibungsrechte, Verhütungsmittelabgabe und Geburtenkontrolle).
Für das kapitalistische System wäre diese Situation im Grunde recht günstig, wenn Frauen* sich ständig und unbezahlt der sozialen Reproduktion widmen würden. Aber gleichzeitig würden ja dann die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung nicht arbeiten, was ein massiver Verlust an Arbeitskräften darstellen würde. So ist es auch aus Sicht des Kapitals also sinnvoll, die Frauen* auch auf den Arbeitsmarkt einzuspeisen. Dies gilt für die Mittelschicht in Europa seit etwa hundert Jahren, für arme Arbeiterinnen* war das schon immer der Normalfall, da ein einziger Lohn in einer Arbeiter*innenfamilie nirgendswo hin reichte. Diese Entwicklung (sowie viele andere) war natürlich nicht ein von händereibenden Kapitalist*innen diktierter Plan, sondern eine Folge von sozialen und in diesem Fall spezifisch feministischen Kämpfen. Frauen* erkämpften sich das Recht zu arbeiten, denn in einer Welt, wo alleine das Verkaufen der Arbeitskraft das Überleben sichert, bedeutet einer Lohnarbeit nachzugehen für Frauen* mehr Unabhängigkeit. Frauen* erkämpften sich also das Recht, einer Lohnarbeit nachzugehen, wurden aber nicht von der (Re)produktionsarbeit entbunden und galten noch immer als Personen «zweiter Klasse». Frauen* stell(t)en so lange Zeit billige Arbeitskräfte dar, da ihnen ohne Rechtfertigung einfach weniger als ihren Arbeitskollegen* bezahlt werden konnte. Erst mit dem Kampf um Lohngleichheit im 20. Jahrhundert wurde das von der feministischen Bewegung in Frage gestellt und gleicher Lohn für gleiche Arbeit verlangt.
Aber zurück zum Thema: Es wird in unserer Gesellschaft als natürlich angesehen, dass Frauen* die soziale Reproduktionsarbeit verrichten sollen, dies obwohl es keine objektiven Begründungen dafür gibt. Es wird von ihnen aber nicht nur erwartet, dass sie dies im privaten Raum unbezahlt machen, sondern sie sollten dazu auch noch ihre Arbeitskraft verkaufen. Die gesellschaftliche Vorstellung davon, dass Frauen* «von Natur aus» weniger rational und eher emotional und emphatisch seien[2] und sowieso besser pflegen, sorgen und betreuen könnten als Männer*, übertrug diese gesellschaftliche Arbeitsteilung nun auch auf den Arbeitsmarkt, wo Männer* bis heute in den Chefsesseln sitzen, während Frauen* tendenziell in der Pflege, der Betreuung, dem Detailhandel oder der Assistenz arbeiten – in sogenannt feminisierten Berufe. Diese feminisierten Berufe wurden und werden ständig abgewertet: Es heisst zum Beispiel, Frauen* könnten natürlicherweise sowieso besser auf Kinder aufpassen oder Kranke pflegen und bräuchten dafür keine sonderliche Ausbildung oder Anerkennung.
Neoliberalismus und Care-Krise
Die neoliberale Spielart des Kapitalismus in den letzten 40 Jahren hat diesen Bereichen nun auch noch den letzten Rest an guten Arbeitsbedingungen genommen. Dank Arbeiter*innenkämpfe waren Bereiche wie Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Telekommunikation oder öffentlicher Verkehr einige Zeit lang in der öffentlichen Hand. Die staatlichen Unternehmen waren somit vom Profitzwang mehr oder weniger ausgenommen und konnten sich an den Bedürfnissen der Benützer*innen orientieren. Im Zuge von Abbau und Privatisierung wurden jedoch die meisten Institutionen in diesen Bereichen (Spitäler, Schulen, Verkehrs- und Telekommunikationsunternehmen etc.) privatisiert. Dort, wo sie in der öffentlichen Hand blieben, wurden die Gelder stark gekürzt und die Angebote verringert. Mit der Privatisierung wurden diese Institutionen wieder zu profitorientierten Unternehmen.
Weiter oben wurde gesagt, dass die Tätigkeiten im Bereich der sozialen Reproduktion keine oder nur begrenzt Profite abwerfen können. Aus dieser Logik heraus macht es eigentlich keinen Sinn, Bereiche wie Gesundheit oder Bildung marktwirtschaftlich zu organisieren. Natürlich wurde trotzdem versucht, die Profite wo immer möglich zu erhöhen, was mit im Gesundheitswesen u.a. mittels Fallpauschalen und schlechteren Arbeitsbedingungen zumindest vorübergehend «funktioniert». Eigentlich führte es aber einfach zu einer Verschlechterung dieser Bereiche für alle – Arbeiter*innen und Nutzer*innen. Das zeigt sich nun exemplarisch am Beispiel des Gesundheitswesens während Corona.
Care Krise…
Im Gesundheitswesen wurden über die letzten Jahre überall die Betten reduziert, an Personal eingespart und die arbeitenden Pfleger*innen – welche ja aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung meistens Frauen* sind – an den Rand der Erschöpfung gedrängt. Dies passierte im privatisierten Bereich aufgrund von Profitmaximierung und im öffentlichen Bereich aufgrund von Sparprogrammen. Gleichzeitig wurde die Produktion medizinischer Güter ausgelagert und nach dem Prinzip der just-in-time-Lieferung organisiert. Ausgelagert beispielsweise nach China, weil die Arbeitskräfte da billiger sind, just-in-time-Lieferung, weil Lagerhaltung teuer ist – auch hier geht es einmal mehr darum, möglichst wenig auszugeben.
Dass dies für unsere Gesundheit nicht sinnvoll ist, zeigt sich jetzt. Ein weiterer Aspekt, warum Gesundheit nicht marktwirtschaftlich organisiert sein sollte, ist, dass die medizinische Forschung und Entwicklung im Kapitalismus nur daran interessiert ist, Produkte zu schaffen, die dann auch teuer verkauft werden können. Mit anderen Worten: Es werden eben nur zahlungskräftige Bedürfnisse gestillt. Ansonsten müsste die Bevölkerung in (neo)kolonialisierten Staaten nicht an Tuberkulose sterben. Diese Krankheit ist nämlich heilbar, solange man dafür bezahlen kann.
Einhergehend mit diesen Privatisierungen und Kürzungen wurden immer mehr Tätigkeiten der sozialen Reproduktion wieder in die häusliche Sphäre verlagert. Ein Beispiel dafür ist die Spitalfinanzierung mittels Fallpauschalen,[3] bei denen nicht die effektiven Kosten, sondern nur eine fixe Pauschale pro Behandlung vergütet werden. Dies führt dazu, dass die Spitäler einen Anreiz bekommen, Patient*innen zu früh nach Hause zu schicken (sogenannt blutige Entlassungen) und diese dann im Privaten gesundgepflegt werden müssen. Das bedeutet neben immer prekärer werdenden Arbeitsbedingungen in feminisierten Berufen auch mehr unbezahlte Hausarbeit für Frauen*. Denn es sind immer noch Frauen*, die den überwiegenden Teil der (Re)produktionsarbeit leisten. Im Grossen und Ganzen ist diese neoliberale Abbaupolitik ein weiterer Sieg des Kapitals im Kampf darum, wer die soziale Reproduktion bezahlen muss. Deshalb macht sich eine regelrechte Care-Krise breit. Frauen* erleben doppelte Arbeitstage unter schlechten Bedingungen und müssen immer mehr Care-Arbeit auch wieder unbezahlt verrichten, weil die privaten Angebote zu teuer sind.
Hier kommt ein weiterer Aspekt dazu: Rassismus und (neo)koloniale Abhängigkeiten.
Privilegierte, meist weisse Frauen* haben die Möglichkeit, sich von doppelten Arbeitstagen zu entbinden, indem sie sich Menschen holen, die sich für sie um den Haushalt kümmern. Meistens sind das migrantische Frauen*. Die Vorstellung liberaler «Feminist*innen» der sogenannten «Befreiung der Frau» durch Karriere findet also nur auf dem Buckel marginalisierter, rassifizierter Frauen* statt. Gleichzeitig arbeiten zunehmend auch migrantische Personen in den feminisierten Berufen in miserablen Anstellungsverhältnissen. Meist sind das Bereiche, wie die 24-Stunden-Pflege oder unternehmerisch organisierte Haus und Sorgearbeit. So bilden sich globale Care-Ketten. Es übernehmen also Migrant*innen Betreuungs- und Sorgearbeiten, während ihre eigene Familie im Herkunftsland von Familienangehörigen oder Angestellten, die wiederum aus anderen Ländern kommen können, betreut wird.
…und Kapitalismus während Corona
Wir haben also ein eh schon kaputtgespartes Gesundheitswesen mit vorwiegend Frauen* – davon viele migrantische und äusserst vulnerable Frauen* – in der Pflege, die nun unter unmenschlichen Bedingungen dafür kämpfen, dass Menschen den Corona-Virus überleben. Als Dank dafür kriegen sie Merci-Schokolade und Applaus. Das ist schön und gut. Und endlich erkennen auch weite Teile der Bevölkerung, dass diese Arbeit erstens nicht «in den weiblichen Genen» liegt, sondern eine enorme Ausbildung und Disziplin braucht, und zweitens, dass diese Arbeit verdammt viel Wert ist[4].
Es wäre ja nur logisch, diese Arbeit nun auch gut zu bezahlen, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Bereiche der sozialen Reproduktion nicht nach Profitlogik auszurichten. Doch dies – so meine Befürchtung – wird nicht geschehen. Denn das kapitalistische System funktioniert auch nach Corona immer noch nach der Logik des Profitzwangs und des Wettbewerbs. Und das kapitalistische System ist demnach auch nach Corona noch darauf angewiesen, möglichst wenig Geld für die soziale Reproduktion der Arbeiter*innenklasse auszugeben, denn das würde massive Verluste bedeuten. Und die Verluste sind jetzt schon hoch. Denn einige Zugeständnisse an die Gesundheit der Arbeiter*innenklasse musste das Kapital schon machen: So wurde ein Teil der Wirtschaft eingeschränkt, um Massnahmen wie social distancing zu ermöglichen. Dies führte zu Verlusten und zu vielen Arbeitslosen, was ja dann auch wieder bezahlt werden muss. Es wird also, nachdem die ersten gesundheitlichen Krisen überstanden sind, eher zu weiteren Sparprogrammen kommen als zu guten Löhnen für alle. Denn der Fakt, dass einige wenige enormen Reichtum besitzen und mit der Krise sogar noch Geld machen, während viele nichts besitzen und durch mehrere Krisen gehen, wird nicht angetastet werden. Statt einer Umverteilung wird es heissen «Wir müssen halt alle den Gürtel enger schnallen». Und diese Sparprogramme werden wieder genau diese Bereiche treffen, in denen das Kapital möglichst wenig Geld ausgeben will, weil diese Bereiche nicht rentabel sind: Bildung, Gesundheit, öffentlicher Verkehr, Sorge und Pflege.
Lasst uns Streiken
Also müssen wir über diese Logik hinaus gehen. Wir müssen verstehen, dass das kapitalistische System ohne die tagtäglich von Frauen* verrichtete (Re)Produktionsarbeit im bezahlten wie auch im unbezahlten Bereich zusammenfallen würde. Wir müssen verstehen, dass Frauen* durch doppelte Arbeitstage, prekärer Situation und miserablen Arbeitsbedingungen das System aufrechterhalten. Das heisst im Umkehrschluss, dass wir dieses System nur aufhalten können, wenn wir unsere Arbeit stoppen. Wie es eine Pflegerin in einem Erfahrungsbericht schon treffend gesagt hat: «Bitte lasst uns nach dieser ersten Welle alle streiken!»
Lasst uns nach dieser ersten Welle für den Ausbau des öffentlichen Dienstes streiken und für Arbeitszeitverkürzung – sodass die gesellschaftliche Care-Arbeit fair aufgeteilt werden kann. Lasst uns streiken gegen die Ökonomisierung in den wirklich relevanten Tätigkeiten und für die Überführung von Bildung, Gesundheit und Betreuung in die öffentliche Hand – unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer*innen.
[1] Ich werde im Folgenden von Frauen* schreiben, wenn ich «als weiblich gelesene Personen» meine. Der Stern steht dafür, dass diese Zuschreibung sozial konstruiert und demnach historisch ist.
[2] Diese Dichotomien rational – irrational oder Natur – Kultur und deren Zuschreibung zu männlich – weiblich sowie die Geschichte dieser Zuschreibung ist ein weiteres sehr spannendes Thema, welches hier nicht umfassend behandelt wird.
[3] Fallpauschalen (DRG): Seit dem Jahr 2012 ist in der Schweiz eine neue Spitalfinanzierung in Kraft. Es handelt sich um eine Finanzierung auf Grundlage des Systems der DRG (diagnosis related groups). Dieses erstmals Anfang der 1980er Jahre in den USA eingeführte System beruht auf dem Prinzip, dass man zur Erzwingung von mehr Effizienz der Spitäler globale Pseudopreise (Pauschalen) für jede typische Spitalbehandlung fixieren muss (z.B. die Behandlung einer Blinddarmentzündung), anstatt die gelieferten Leistungen zu finanzieren (Übernachtungen, Mahlzeiten, Benutzung des Operationssaals, Honorare der Ärztinnen und Ärzte, Medikamente usw.). Zu diesem Zweck werden alle in Spitälern durchgeführten Behandlungen in Gruppen – die DRG – eingeteilt, die aus Finanzsicht relativ homogen sein sollen (mehr als 1000 DRG/Fallpauschalen in der Schweiz). Die Höhe der Rückerstattung jeder dieser Gruppen basiert auf den Durchschnittskosten der Behandlung dieser Gruppe. Wenn also die effektiven Kosten einer spezifischen Behandlung höher sind als der fixierte rückerstattete Betrag, dann macht das Spital einen Verlust. Umgekehrt bringt dem Spital eine Behandlung mit geringeren Kosten einen Gewinn. Dieses System hat zwei Folgen:
- Druck auf alle Spitäler, die vorgesehenen Rückerstattungsbeträge nicht zu überschreiten. Hierfür sind die Spitäler angehalten, ihre Behandlungen zu industrialisieren (Standardisierung) und die Dauer der Spitalaufenthalte zu reduzieren (mit dem Risiko von zu raschen Spitalsaustritten).
- Ein Anreiz, sich auf „rentable“ Behandlungen zu spezialisieren und die nicht rentablen Aktivitäten und Patient*innen zu vernachlässigen (z.B. ältere Menschen mit zahlreichen Komplikationen). Diese Möglichkeit besteht v.a. für private Kliniken.
[4] In Anlehnung an das Manifest des Zürcher Frauenstreikkollektiv für den Streik am 14.6.19
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