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Lehrlingswesen in der Schweiz: Ausbildung oder Ausbeutung?

Das Lehrlingswesen gilt in der Schweiz als heilige Kuh. Als Grundpfeiler des hiesigen Arbeitsmarktes ist es in den Augen der Politik und der Unternehmen mitverantwortlich für den Wohlstand der Schweiz, ein Garant für ein sorgenfreies Berufsleben und es offeriert den Lohnabhängigen – ebenso wie die militärische Ausbildung – eine Art kostenlose Lebensschule. Interessanterweise hat der Grossteil der Lernenden eine komplett andere Sicht auf die Dinge. Nur werden sie diesbezüglich selten gefragt. Im vorliegenden Text wollen wir der Bedeutung des Lehrlingswesens für den Schweizer Kapitalismus auf den Grund gehen. Dabei erklären wir, warum Unternehmen überhaupt Lernende ausbilden, die Löhne in der Lehre dermassen tief sind und weshalb man in der Lehre tatsächlich eine «Lebensschule» kriegt – nur, dass diese den Unternehmen weit mehr bringt, als den Lernenden selbst.

vom Lernendenkollektiv der BFS Zürich

Lernende als Profitmaschinen für die Unternehmen

Unternehmer*innen, aber auch selbsternannte Berufsbildungsexpert*innen behaupten gerne, dass Betriebe aus verschiedenen Gründen Lernende ausbilden würden. Nicht nur der finanzielle Anreiz sei entscheidend, sondern auch Reputation und soziale Verantwortung (für die Bevölkerung, die Region oder die Branche) seien wichtige Motive. Doch was bringt es einem Unternehmen, das notabene in Konkurrenz zu anderen Unternehmen steht, wenn es zwar sozial verantwortlich ist, aber Verluste schreibt?

Kein einziges Unternehmen würde je einen Lernenden ausbilden, wenn es nicht finanziell davon profitieren würde. Dies geben Bildungsforscher*innen, bürgerliche Politiker*innen und Unternehmen auch ohne weiteres zu. «Die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Lehrlingsausbildung ist somit eine notwendige Bedingung dafür, dass Betriebe bereit sind, in die Ausbildung einzusteigen»[1], meint zum Beispiel Stefan C. Wolter, Bildungsökonom an der Universität Bern. Noch deutlicher drückt dies der Schweizerische Verband der Innendekorateure und des Möbelfachhandels interieursuisse aus, der in einer Werbebroschüre für seine Branche auf Seite 1 klipp und klar festhält: «Wer rechnen kann, bildet Lernende aus.»[2]

In einer einflussreichen Studie über die «Zukunft der Lehre» aus dem Jahr 2010 stellt avenir suisse – ein mächtiger, neoliberaler ThinkTank – fest: «Es gibt [für die Unternehmen] zwei Motive der Ausbildungsbereitschaft: Das erste gründet auf der Idee der Lehre als einer langfristig angelegten Investition in spezifisches Wissen und spezifische Fähigkeiten, die von Betrieb und Lehrling gemeinsam unternommen wird. Das zweite Motiv betont die produktive Leistung der Lernenden während der Lehrzeit; hier bilden Betriebe aus, weil es sich kurzfristig lohnt.»[3] Dank der Ausbildung von Lernenden sparen die Betriebe zudem Kosten für die Rekrutierung und Einarbeitung von anderen Fachkräften (im Jahr 2009 waren es im Durchschnitt 16’000 Franken pro Lernenden).[4]

In anderen Worten: die Unternehmen bilden einen Lernenden aus, damit sie seine Arbeitskraft entweder schon während der Lehre, spätestens aber in den ersten zwei Jahren nach Lehrabschluss (und darüber hinaus) ausbeuten und einen «Nettonutzen» (Produktive Leistung minus Bruttokosten) erzielen können. Dies zeigen auch alle diesbezüglich verfügbaren Zahlen:

Tabelle 1: Strupler, Mirjam; Wolter, Stefan C.: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe, Bern 2012.



«Nettonutzen» der Lernenden in verschiedenen Branchen

In Bezug auf den «Nettonutzen» unterscheiden sich die einzelnen Berufe stark. Es gibt auch Lehrgänge, die sich für die Betriebe während der Lehre finanziell noch nicht auszahlen.

Die zweite Tabelle weiter unten zeigt erstens, dass vor allem Industrieberufe (Polymechaniker*in, Elektroniker*in), die traditionell in betriebseigenen Lehrwerkstätten erlernt werden, den Unternehmen «Bruttokosten» (Ausgaben für Lehrlingslöhne, Ausbildungspersonal, Material etc.) verursachen. Die Bereitschaft dieser (Industrie-)Unternehmen, Lernende auch nach Lehrabschluss weiter zu beschäftigen, ist markant grösser als in anderen Berufen. Der Grund dafür ist klar: die Unternehmen sind nicht nur auf die spezifisch für ihren Betrieb ausgebildete und spezialisierte Fachkraft angewiesen, sondern wollen in erster Linie ihre «Investition» in die Arbeitskraft des Lernenden wieder rausholen, indem der/die ausgelernte Lohnabhängige noch mindestens so lange weiterbeschäftigt wird, bis diese/r genügend Profit produziert hat, sodass sich die «Investition» rentiert hat.
Nicht weiter überraschend ist zweitens die Tendenz, Lernende als Billigarbeiter*innen zu missbrauchen oder berufsfremde Arbeiten verrichten zu lassen, in denjenigen Branchen besonders hoch, wo die Lernenden schon während der Lehre einen «Nettonutzen» für die Betriebe erwirtschaften (Baugewerbe, Betreuungswesen, Detailhandel).

Drittens erbringen insbesondere Lernende in feminisierten Berufsfeldern[5] (allen voran im Gesundheitswesen) den Unternehmen schon während der Lehrzeit einen finanziellen Profit. Dies ist Ausdruck der strukturellen, sexistischen Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die schon während der Lehre beginnt.

Tabelle 2: Strupler, Mirjam; Wolter, Stefan C.: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe, Bern 2012.

Skandalös tiefe Löhne der Lernenden

Die Löhne der Lernenden machen die Hälfte der «Bruttokosten» aus, die ein Unternehmen für die Ausbildung von Lernenden während der Lehrzeit aufwendet.[6] Die Unternehmen haben deshalb ein finanzielles Interesse, die Löhne so tief wie möglich zu halten. Dies erklärt auch den vehementen Widerstand der Betriebe, falls es jemand wagt, die tiefen Löhne in der Lehre zu kritisieren. Der hohe Lohnkostenanteil an den «Bruttokosten» ist also der Grund, warum die Löhne der Lernenden nach wie vor skandalös niedrig sind, Lernende zu berufsfremden Arbeiten eingesetzt werden (Ausnutzung als Billigarbeiter*innen), keine branchenübergreifenden Mindestlöhne existieren (es gibt nur Branchenempfehlungen), mindestens ein Drittel aller Lernenden keinen 13. Monatslohn erhält und Lehrverträge per se bis zum Abschluss der Lehre befristet sind.

Auch bürgerliche Politiker*innen und Unternehmer*innen sehen teilweise ein, dass die Löhne der Lernenden nicht ausreichen, um ein selbständiges Leben zu führen. Sie argumentieren dann jeweils, dass die Lehre eben eine Ausbildung sei und deshalb mittels Stipendien (oder Darlehen) dem Problem begegnet werden soll.[7] Diese Argumentation ist aus verschiedenen Gründen fadenscheinig und dient einzig als politische Rechtfertigung, um den Lernenden keine höheren Löhne zahlen zu müssen:

Erstens, und das ist der wichtigste und gleichzeitig banalste Punkt, arbeiten Lernende. Sie sind junge, schlecht bezahlte Arbeitskräfte. Würden die Lernenden nur «ausgebildet», würden sie dem Unternehmen keinen Profit erwirtschaften und würden ergo gar nicht erst eingestellt werden. Dieselben Personen, die solch hinkende Vorschläge machen, lassen überdies keine Gelegenheit aus, die Lernenden als wichtige Stütze im Betrieb zu loben und geben damit selber zu, dass Lernende als Arbeiter*innen zu betrachten sind.

Zweitens führt die schweizweite neoliberale Sparpolitik zum Abbau des staatlichen Stipendienwesens und erschwert es Personen zunehmend, Unterstützungsbeiträge für ihre Ausbildung zu erhalten.

Drittens ist ein Stipendiengesuch mit einem beträchtlichen administrativen Aufwand verbunden und erfordert Kenntnisse, die junge Menschen ohne die Hilfe von erfahrenen Personen meist nicht besitzen. Gerade wegen des Sparzwangs sind Stipendienämter zunehmend dazu veranlasst, die Gesuche rasch zu beantworten, weniger genau zu prüfen und allenfalls bürokratische Feinheiten ins Feld zu führen, um Personen Ausbildungsbeiträge zu verweigern. Um schliesslich gegen abgelehnte Gesuche Rekurs einzulegen, braucht es eben gewisse Kenntnisse, die nicht alle haben.

Viertens werden Stipendiengesuche oftmals abgelehnt, weil ein Elternteil noch ein gewisses Vermögen auf der Seite hat oder eine Eigentumswohnung besitzt. Es wird dann von den Eltern verlangt, den Lohn der Lernenden aufzubessern. Wie man dies betriebsökonomisch rechtfertigen will, ist uns schleierhaft. Zudem wird das Grundproblem, von dem wir ausgegangen sind – nämlich die finanzielle Unselbstständigkeit und Abhängigkeit der Lernenden –, in keiner Weise gelöst. Aus demselben Grund ist auch die vorgeschlagene Verschuldung von Lernenden mittels Darlehen Schwachsinn.

Gewöhnung an die kapitalistische Ausbeutung

Die Befürworter*innen der dualen Berufsbildung heben stets hervor, dass das hiesige Lehrlingswesen die Jugendlichen «optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten» würde, wie zum Beispiel die Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung schreibt.[8] Berufliche Sozialisation oder gar soziale Integration[9] wird dies dann genannt. Doch was ist damit gemeint? Die Unternehmer*innen und ihre politischen Freund*innen behaupten, dass sie den jungen Menschen quasi einen Gefallen tun, indem sie den Lernenden eine Lehrstelle «offerieren» und diese sich deshalb für den Rest des Arbeitslebens keine Sorgen mehr machen müssten. Dumm nur, dass über zwei Drittel der Lernenden spätestens ein Jahr nach Lehrabschluss den Beruf wechseln. Was bleibt den Lernenden also für den Rest des Lebens übrig, wenn sie die erworbenen beruflichen Fähigkeiten zu einem Grossteil gar nicht mehr oder nur am Rand im Arbeitsalltag einsetzen können?
In der oben schon erwähnten Studie von avenir suisse aus dem Jahr 2010 heisst es in Bezug auf die Ziele der Berufsbildung: «Oberstes Ziel sollte die Förderung der Flexibilität und Mobilität der Lernenden sein.»

In anderen Worten: Junge Arbeitskräfte sollen so geformt werden, dass sie später gut verwertbare Arbeiter*innen sind. Die Jugendlichen in der Schweiz müssen sich schon in der Pubertät daran gewöhnen, wie man sich als Lohnabhängige*r in einem kapitalistischen Betrieb zu verhalten hat. Man lernt die Autorität der Vorgesetzten zu akzeptieren und erfährt schon beim Eintritt in das Berufsleben, dass man als Lohnabhängige*r «unten durch» muss, wenige oder gar keine Rechte hat, auf sich alleine gestellt ist und es sich nicht gehört, sich zu wehren oder aufzumucken. Für die Unternehmer*innen ist diese «Lebensschule» nicht hoch genug einzuschätzen. Lohnabhängige zu beschäftigen, die schon verinnerlicht haben, dass man sich gefälligst ausbeuten zu lassen hat, ist nicht zuletzt ein Standortvorteil gegenüber anderen konkurrenzierenden Ländern und mit ein Grund, warum die hiesigen Unternehmer*innen Jahr für Jahr satte bis schwindelerregend hohe Profite einfahren.
Auch die sehr unterschiedlich hohen Löhne der Lernenden spielen hierbei eine nicht unwesentliche Rolle. Denn die grosse Lohndifferenz zwischen verschiedenen Lehrgängen hängt nicht nur von strukturellen Faktoren (Branche, Beruf und Betriebsgrösse) oder vom Goodwill des Chefs ab, sondern erfüllt noch eine ganz andere Funktion, wie Panorama, eine führende Fachzeitschrift für Berufsbildung, Berufsberatung und Arbeitsmarkt, schreibt: «Grosse Unterschiede in den Lehrlingslöhnen bereiten die Lernenden schon darauf vor, dass sie einmal auch als Gelernte berufsabhängig ganz unterschiedliche Zahlen im Lohnausweis sehen werden.»[10] Auch in punkto Lohn werden die Lernenden also «optimal auf dem Arbeitsmarkt vorbereitet».

Ausblick und einige Forderungen

In verschiedenen Umfragen[11] unter Lernenden, aber vor allem in Gesprächen mit ihnen, werden immer wieder die fehlende Mitsprache und Wertschätzung im Betrieb, der Arbeitsdruck, die autoritäre Behandlung durch die Vorgesetzten, die Unkenntnis über die eigenen Rechte, die unzureichende (Allgemein-)Bildung in der Berufsschule und die geringen Löhne beklagt. Die Mitsprache von Lohnabhängigen, und dementsprechend demokratische Wertschätzung, ist in einem kapitalistischen Betrieb grundsätzlich nicht vorgesehen. Entscheidungen über die die Arbeits- und Produktionsbedingungen zu fällen ist das Privileg des «Eigentümers» des Unternehmens (des Kapitalisten). Dies zu ändern wäre zwar wichtig, aber mit ganz grundsätzlichen Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft verbunden und daher kurzfristig nicht umsetzbar. Viele Forderungen könnten jedoch von heute auf morgen umgesetzt werden und die Stellung der Lernenden sowie deren Arbeitsbedingungen massiv verbessern. Wir fordern deshalb:

  • Einführung von branchenübergreifenden Mindestlöhnen, die zu einem selbstständigen Leben ausreichen
  • Volle Übernahme sämtlicher mit der Lehre anfallenden (Neben-)Kosten durch die Betriebe (Transport, Schulmaterial, Verpflegung)
  • gewerkschaftliche Kontrollorgane der Arbeitsbedingungen von Lernenden
  • Kostenlose Rechtshilfe für Lernende
  • Lehrlingsrecht als Pflichtbestandteil des Allgemeinbildungsunterrichts in der Berufsschule

Fussnoten:


[1] Wolter, Stefan C.: Wie kann man Betriebe für die Lehrlingsausbildung gewinnen? in: Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik 2014 (9).
[2] Interieursuisse: Lernende. Freude oder Frust? Solothurn 2017/18.
[3] Avenir suisse: Die Zukunft der Lehre. Die Berufsbildung in einer neuen Wirklichkeit, Zürich 2010.
[4] Strupler, Mirjam; Wolter, Stefan C.: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe, Bern 2012.
[5] Unter feminisierten Berufen verstehen wir Berufsfelder, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten. Dies sind vor allem Dienstleistungsberufe, da man Frauen nachsagt, dass sie bessere zwischenmenschliche Fähigkeiten und stereotypisierte Sozialkompetenzen besässen («hegen und pflegen»). Man unterscheidet generell zwischen zwei verschiedenen Kategorien feminisierter Berufe: haushaltsnahe Berufe (Körperpflege, Gesundheit, Sozialbereich, Erziehung) und administrativ-verwaltende, modernere Berufe (KV, Sekretärin). Gemeinsam haben alle feminisierten Berufe, dass sie weniger Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten bieten, sowie oftmals eine höhere Ausbildung benötigen, aber trotzdem ein geringeres Lohnniveau aufweisen als «typisch männliche» Berufe.
[6] Siehe: Strupler, Mirjam; Wolter, Stefan C.: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe, Bern 2012.
[7] Siehe z.B.: Wolter, Stefan C.: Wie kann man Betriebe für die Lehrlingsausbildung gewinnen? in: Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik 2014 (9).
[8] https://www.sgab-srfp.ch/de/newsletter/die-duale-berufsbildung-bereitet-die-jugendlichen-besser-auf-den-arbeitsmarkt-vor
[9] Strahm, R.: Die Akademisierungsfalle: Warum nicht alle an die Uni müssen, Bern 2014.
[10] Panorama (Fachzeitschrift für Berufsbildung, Berufsberatung und Arbeitsmarkt): http://www.panorama.ch/dyn/1125.aspx?id_article=222
[11] Siehe z.B.: http://www.20min.ch/finance/news/story/Verantwortung-zaehlt-fuer-Lehrlinge-mehr-als-Geld-25281377

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1 Kommentar

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