Menu Schließen

Schulkinder und Schulpersonal werden dem Profitdrang der Unternehmen geopfert

«Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt,»1 hiess es schon bei Marx und Engels. Wie sehr gesellschaftliche Tätigkeiten den Bedürfnissen des Kapitals brutal untergeordnet werden, zeigt die gegenwärtige Pandemie offen auf. Nachfolgend will ich meine persönliche Meinung als Lehrperson dazu schildern.

von João Woyzeck (BFS Zürich)

Ab dem 11. Mai, so hiess es, sollten mit der zweiten Etappe der Lockerung auch die Schulen wieder schrittweise öffnen. Was das im Konkreten heissen würde, wusste damals auch noch keiner im Bundesrat. Das Zürcher Volksschulamt (VSA) meint also am 29. April, der Präsenzunterricht finde ab dem 11. Mai für die obligatorischen Fächer wieder statt. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) vertröstet uns am 30. April damit, dass Jugendliche lediglich 2% der derjenigen ausmachen, welche an Corona erkranken. Und man solle ja auch wissen, dass ebenso wie ihre Anfälligkeit, angesteckt zu werden, mit zunehmendem Alter exponentiell ansteige, auch ihr geistiges Vermögen wachse. Sie würden das also schon selbst meistern können bzw. müssen.2

Tatsächlich beruhen bisherige Annahmen womöglich auf einem Irrtum. Es gab zwar Studien, die versuchten, über das Infektionsrisiko von Kindern Aufschluss zu geben. Allerdings unterlagen diese laut dem Virologen und Leiter der virologischen Abteilungen an der Charité Berlin Christian Drosten wohl der verfälschenden Situation des Lockdowns. Nachdem die sozialen Kontakte drastisch limitiert worden waren, konnten sich Kindern kaum noch durch Gleichaltrige, sondern vor allem nur noch durch erwachsene Verwandte anstecken. Die Annahme, Kinder verfügen über ein geringeres Übertragungsrisiko, weil sie statistisch weniger oft angesteckt werden, übersah dass die Ansteckung von Kindern de facto nur noch beschränkt möglich war. Dies scheint sich laut der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) auch durch chinesische Studien, welche die Häufigkeit der Übertragung des Virus in Abhängigkeit zum veränderten sozialen Austausch untersuchten, zu bestätigen. Laut einer der FAZ beigefügten Studie der Universität Fudan in Shanghai reduzierte der frühe Unterbruch des Präsenzunterrichts Neuansteckungen auf dem Peak der Epidemie in Wuhan um 40-60%. Eine noch junge Studie von der Berliner Charité,3 bisher noch ohne externe wissenschaftliche Begutachtung, schliesst somit vielleicht eine gewichtige Wissenslücke. Es wurden zwar erst 127 Kinder untersucht, allerdings handelte es sich dabei ausschliesslich um Kinder, welche positiv auf Sars-Cov-2 getestet worden waren. Erst dies erlaubte einen Vergleich mit dem Übertragungsrisiko durch Erwachsene, die an Sars-Cov-2 erkrankt waren. Das Ergebnis der Studie bescheinigt Kindern eine vergleichbare Virenlast im Rachen und lässt folglich befürchten, dass Kinder ebenso infektiös wie Erwachsene seien. Der wirkliche Unterschied besteht laut der Studie darin, dass Kinder anders als Erwachsene nicht nur in etwa der Hälfte der Fälle Symptome zeigen, sondern den Virus mehrheitlich ohne Symptome in sich tragen.4

Das BAG stützt sich hingegen auf die gegenläufige Annahme, wonach die erkrankten Personen mit geringen Symptomen weniger infektiös seien. Trotz der fachwissenschaftlich bisher noch wenig untersuchten Ausgangslage sagt das BAG also: Da die Kinder weniger Symptome zeigen, stecken sie ihre Spielkamerad*innen und Mitschüler*innen weniger durch Husten und Niesen an. Nur bezüglich älterer Jugendlicher (16-18) räumt das Sicherheitskonzept des BAG ein, dass die tatsächliche Gefahr noch kaum abzuschätzen sei. Masken seien da in bestimmten Situationen durchaus angebracht.5

Gerade erhalte ich also die Mail von der Schule, wo ich als Lehrkraft tätig bin. Und nun weiss ich auch, wie meine Schüler*innen wieder Präsenzunterricht haben werden. Weil aber jede*r um das mögliche Damoklesschwert weiss, welches vielleicht über unserer Zukunft hängt, hat das VSA natürlich angeordnet, dass sowohl der Unterricht als auch die Lektionen neu strukturiert werden. Die Anzahl von Wochenlektionen wird beispielweise in der Sekundarstufe von ca. 34 bis 36 auf 16 bis 18 Lektionen reduziert. Klassen werden halbiert und mit anderen Klassen wird kein Austausch mehr stattfinden. Das heisst, dass trotz verschiedener Niveaus in bestimmten Fächern bleibt immer nur dasselbe Dutzend Schüler*innen zusammen, selbst wenn das Fach wechselt. Das VSA hat die maximale Gruppengrösse von Klassen auf 15 begrenzt.

Nun stehe ich als Lehrperson gewissermassen vor einem Dilemma. Denn falls dereinst keine einzelnen Corona-Herde oder Cluster in bestimmten städtischen Zentren mehr aufflackern, sondern eine landesweite kaum zurückzuverfolgende zweite Welle (ungerichtete und weitläufigere Zerstreuung der Neuherde) über uns hereinbricht , werden sich die ach so vorsichtigen Vorkehrungen eher als Tropfen auf den heissen Stein erweisen, oder noch schlimmer als Beschleuniger der Verbreitung. Oder wie Herrn Koch fast schon prophetisch verkündete: «Aber wir sind über den Berg, FALLS es der letzte Berg ist.»6

Demgegenüber versteh ich als Lehrperson absolut, dass Kinder und junge Erwachsene raus wollen, zueinander wollen, sich ihren Unterrichtsstoff mit sozialem Umgang versüssen wollen. Und ebenso ist es eine Tatsache, dass Fernbeschulung via interaktiver und nicht-interaktiver Internetplattformen und in Schulen, wo nicht für alle Schüler*innen genügend elektronische Geräte zur Verfügung stehen, verstärkt via Post und Telefonie gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert und die Stratifizierung der Gesellschaft konsolidiert. Ohne Präsenzunterricht und den direkten Eingriff von Lehrkräften, Schulischer Heilpädagogen und der Personen, die in der Sozialhilfe tätig sind, werden Eltern wieder mehr zur Lernunterstützung und Lernförderung in die Pflicht genommen. Für bildungsferne Haushalte bedeutet dies jedoch, dass Schüler*innen mit einem oft verstärkten Bedürfnis nach Lernunterstützung auch diejenigen sein werden, welche weniger Unterstützung erfahren. Schüler*innen mit Migrationshintergrund müssen zudem oft sprachliche und integrationsbezogene Barrieren überwinden. Für sie wird die Verlagerung der Lernunterstützung ins Private zu einer enormen Doppelbelastung.7 

Ich persönlich bin innerlich zerrissen. Auf der einen Seite stellt die Wiedereinführung des Präsenzunterrichts letztlich ein nicht einzuschätzendes Risiko für die Gesundheit der Schüler*innen und die Gesamtgesellschaft dar, das keineswegs geklärt ist, wie es das BAG vermuten lässt. Falls Schüler*innen ebenso infektiös wie Erwachsene wirken, dabei jedoch weit weniger oft Symptome zeigen, könnte eine verfrühte Wiedereinführung des Präsenzunterrichts womöglich zu einer zweiten Welle der Pandemie beitragen. Auf der anderen Seite kollidiert das Recht auf Leben jedoch mit dem Recht auf Bildung und Sozialisation ausserhalb der Kernfamilie, also mit der Türschwelle raus aus der Chancenungleichheit, in die man geboren wird. Da wir aber in der Wiedereinführung des Präsenzunterrichts ohnehin vor einem fait accompli stehen und mir diese Entscheidung gewissermassen abgenommen worden ist, verlange ich regelmässige Tests für alle Schulangestellten und für alle Schüler*innen. Nur wenn Schulangestellte und Schüler*innen auch alle regelmässig auf eine Infektion durch Sars-Cov-2 getestet werden, um das Risiko der Epidemie gegenüber der Bildungsgleichheit kleinzuhalten, kann der Bundesrat gewissenhaft sagen, das Recht auf Bildung stehe bei der Wiedereröffnung im Fokus.

Die Bewegung für den Sozialismus (BFS) stellt folgende allgemeine Forderungen an den Bundesrat sowie die einzelnen kantonalen Volksschulämter: Eine stärkere finanzielle und strukturelle Förderung der Bildungsgerechtigkeit durch mehr Schulische Heilpädagog*innen, mehr Sozialarbeiter*innen, mehr Unterstützung spezifisch für Schüler*innen mit Migrationshintergrund, kleinere Klassen und eine eins-zu-eins Abdeckung der gesamten Schülerschaft in der Schweiz mit digitalen Geräten und Medien. Und im Angesicht der Corona-Krise fordert die BFS weiter regelmässige Tests auf Infektion durch Sars-Cov-2 für alle Schüler*innen und für alle Angestellte in Schulen.


1 http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm. (4.05.2020)

2 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/empfehlungen-fuer-die-arbeitswelt.html. (4.05.2020) vgl. das PDF Grundprinzipien des BAG für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an obligatorischen Schulen

3 https://zoonosen.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc05/virologie-ccm/dateien_upload/Weitere_Dateien/analysis-of-SARS-CoV-2-viral-load-by-patient-age.pdf. (4.05.2020)

4 https://www.faz.net/aktuell/wissen/kinder-und-corona-genauso-infektioes-wie-erwachsene-16748349.html. (4.05.2020)

5 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/empfehlungen-fuer-die-arbeitswelt.html. (4.05.2020) vgl. das PDF Grundprinzipien des BAG für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an obligatorischen Schulen

6 https://www.srf.ch/news/schweiz/corona-krise-in-der-schweiz-wir-sind-ueber-den-berg-falls-es-der-letzte-berg-ist. (4.05.2020)

7 https://sozialismus.ch/artikel/2020/schweiz-schulen-in-zeiten-des-corona-virus/. (3.05.2020)

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert