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Schweiz: Warum es auch dieses Jahr am 14. Juni einen feministischen Streik braucht

In einem Monat jährt sich der feministische Streik von 2019, die grösste soziale Mobilisierung in der Geschichte der Schweiz seit dem ersten Frauen*streik der Schweiz am 14. Juni 1991. Wir ziehen Bilanz und blicken nach vorne.

von BFS Frauen*

Nachdem Tausende von Frauen* seit Monaten ihre Zeit, Energie und Kreativität in die Vorbereitung des feministischen Streiks gesteckt hatten, war die Spannung am Vorabend des 14. Juni 2019 riesig: Würde sich die ganze Mobilisierungsarbeit ausbezahlt haben? Waren die Vorfreude und der Enthusiasmus tatsächlich auf breite Teile der Bevölkerung übergesprungen? Oder würden wir uns – wie so oft in den letzten Jahren – zwar als bunte und kämpferische, aber doch ziemlich überschaubare Gruppe zu den angekündigten Demonstrationen zusammenfinden?

Unsere Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen. Die Teilnehmendenzahlen, welche am 14. Juni aus den verschiedenen Landesteilen gemeldet wurden, waren gigantisch: Über 500 000 Menschen waren auf der Strasse. Auch die Vielzahl an Aktionen, die an diesem Tag durchgeführt wurden, beweisen nicht nur die Vielfalt und Fantasie der feministischen Bewegung, sondern auch ihre Radikalität. Die Lahmlegung der Zürcher Innenstadt durch die Besetzung des Centrals, die Solidarisierung in Form eines «wandernden Streiks» im Tessin mit arbeitenden Frauen* in unterschiedlichsten Kontexten sowie mit Grenzgängerinnen* und Geflüchteten*, wie auch die Blockade der Basler Tramschienen mit einer von hunderten Menschen ausgeführten Choreografie gegen Gewalt an Frauen* sagten allen klar und deutlich: «Es ist genug! Wir wollen endlich, was uns zusteht, und zwar sofort!» Überall brachten Frauen* ihre Forderungen vor, sei es das Bleiberecht für auf der Flucht traumatisierte Migrantinnen*, die Enttabuisierung weiblicher* Sexualität oder eine Altersversicherung, welche die Aufopferung tausender Frauen* für ihre Familien ausserhalb der Erwerbstätigkeit anerkennt und finanziell vergütet. Die Begeisterung in den Augen der Teilnehmenden – insbesondere auch ganz junger Menschen –, das umfassende Gefühl von Solidarität und der Wille, gemeinsam die Welt zu einem besseren Ort zu machen, werden uns noch lange tragen und bestärken.

Versuchen wir den feministischen Streik fast ein Jahr später zu bilanzieren, könnte ein erster Eindruck eher enttäuschend sein. Abgesehen vom vielbemerkten Sieg der Frauen* bei den nationalen Wahlen im Herbst finden sich kaum messbare Ergebnisse, die auf den feministischen Streik zurückzuführen sind. Ein Blick auf drei oft genannte Forderungen vom 14. Juni – Lohn, Zeit und Respekt – zeigt: Frauen* erhalten netto weiterhin 35 Prozent weniger Lohn als Männer*.[1] Auch die ungleiche Verteilung von Zeit bleibt bestehen: Von der gesamten unbezahlten Arbeit, die in der Schweiz geleistet wird – etwa Haushaltstätigkeiten, Betreuung von Kindern oder von älteren Familienangehörigen, «Care-Arbeit» genannt – werden 61,3% von Frauen* geleistet. Sie arbeiten somit pro Woche durchschnittlich 10 Stunden mehr als Männer*.[2] Nicht zuletzt manifestiert sich weiterhin das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern in sexualisierter Gewalt an Frauen*. Am krassesten zeigt sich dies bei den Femiziden, also der Ermordung von Frauen* – auch 2019 wurde alle drei Wochen eine Frau* umgebracht.[3]

All diese Probleme werden zusätzlich verschärft durch die gegenwärtige «Corona-Krise»: «Frauenberufe» werden nun plötzlich als «systemrelevant» anerkannt, was de facto aber nicht eine bessere Entlohnung zur Folge hat, sondern eine noch stärkere Ausbeutung, beispielsweise durch die Aufhebung der gesetzlichen Ruhezeiten im Pflegebereich.[4] Zuhause sollen Frauen* neben der ohnehin anfallenden unbezahlten Arbeit nun auch noch Homeoffice und dazu noch «Homeschooling» für ihre Kinder durchführen, was eine massive Überbelastung bedeutet. Häusliche Gewalt schliesslich verzeichnet in Zeiten der Coronakrise einen starken Anstieg, was sich etwa an einer Verdopplung der Meldungen beim Büro für Gleichstellung des Kantons Genf zeigt.[5]

Was heisst das nun also? Waren alle unsere Bemühungen für den Frauen*streik umsonst?

Wir ziehen eine andere Schlussfolgerung. Dass sich am 14. Juni nicht alle unsere Probleme in Luft auflösen würden, war von vornherein klar. Soziale Kämpfe brauchen einen langen Atem, wie ein Blick zurück in unsere eigene Geschichte zeigt. Von den ersten Forderungen zum Frauen*stimmrecht im 18. Jahrhundert bis zu seiner Umsetzung dauerte es vielerorts 100 Jahre – in der Schweiz bekanntermassen sogar noch länger. Auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, in der beispielsweise die autonome Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch enthalten ist, ist ein Recht, für welches Frauen* jahrzehntelang gekämpft haben. Diese Beispiele zeigen auch, dass sich Ausdauer und Hartnäckigkeit auszahlen. Der feministische Widerstand muss weitergehen, wir dürfen uns nicht von vermeintlich zu langsamem Fortschritt entmutigen lassen. Der 14. Juni 2019 hat aufgezeigt, wie weit unsere Bewegung bereits gekommen ist. Mit einer halben Million Menschen handelt es sich wie auch schon beim ersten Frauen*streik in der Schweizer Geschichte am 14. Juni 1991 um die grösste Mobilisierung, die die Schweiz je gesehen hat – nicht einmal der Landesstreik von 1918 erreichte dieses Ausmass. Wir können ausserdem auf eine internationale Unterstützung zählen: Mit feministischen Bewegungen wie Ni una menos oder Me too, welche beide weit über ihre ursprünglichen Herkunftsorte hinausragen, ist der Feminismus zur stärksten internationalen Bewegung der letzten Jahre geworden.

Dank des Frauen*streiks können wir zudem auf Vieles bauen, was uns in zukünftigen Kämpfen helfen wird. Die Erfahrungen, die wir während der Vorbereitungszeit und am Tag selbst gesammelt haben sowie weiterhin täglich in den Kollektiven machen, sind unbezahlbar. All die Beziehungen, die wir zu anderen Frauen* aufgebaut haben, sind wichtige Quellen für neue Kraft und Kreativität. Und vergessen wir nicht die zahlreichen jungen Menschen, die sich von der Atmosphäre des 14. Juni begeistern liessen und schon bald ein Alter erreichen werden, in dem sie selbst aktiv sein können.

Lasst uns also alle diese Erfahrungen und Netzwerke nutzen, die wir letztes Jahr gesammelt haben, um auch dieses Jahr zu beweisen: Wir sind gekommen, um zu bleiben! Dieser 14. Juni fällt auf einen Sonntag und eignet sich deshalb besonders gut, um alle un(ter)bezahlten Arbeiten sichtbar zu machen, die von Frauen* auch ausserhalb der traditionell geregelten Erwerbsarbeitszeiten erledigt werden. Setzen wir uns ein für das Reinigungspersonal, welches mitten in der Nacht durch Bürogebäude gehetzt wird; für die Pflege, welche sich auch am Wochenende Kranke und Geschwächte kümmert; für die Verkäuferin*, welche auch am Sonntag an der Kasse sitzt, damit wir noch schnell den Einkauf erledigen können; für die Kellnerin*, welche zu Beginn des Corona-Lockdowns fristlos entlassen wurde und danach wieder zu miserablen Anstellungsbedingungen und unzureichendem gesundheitlichen Schutz eingestellt werden wird; für die Mutter*, welche rund um die Uhr, neben dem Haushalt und der Erwerbsarbeit für ihr Kind da ist und damit die nächste Generation auf eine solide Basis stellt.

Wir fordern die eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn für alle und die gerechte Aufteilung der Sorgearbeit unter allen Teilen der Gesellschaft. Unbezahlte Care-Arbeit soll als notwendig für den Erhalt unserer Gesellschaft anerkannt und kollektiviert werden! Stopp der Gewalt an Frauen*, Lesben, Inter- Trans- und nicht binären Personen! Wir fordern das gute Leben für alle!

14. Juni ist alle Tage, wir kommen wieder, keine Frage!


* Wir verwenden in diesem Text den Stern (*), um die soziale Konstruiertheit von Geschlechterkategorien wie «Mann» oder «Frau» zu verdeutlichen. Der Text wurde auch auf französisch übersetzt.

[1] https://sozialismus.ch/artikel/2019/schweiz-wie-hoch-die-lohnungleichheit-tatsaechlich-ist/

[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/unbezahlte-arbeit.gnpdetail.2017-0252.html

[3] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/polizei/haeusliche-gewalt.html

[4] https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/wegen-corona-krise-vorschriften-fuer-arbeits-und-ruhezeiten-fuer-aerzte-und-pflegefachkraefte-aufgehoben-harsche-kritik-der-gewerkschaft-ld.1206381

[5] https://www.rts.ch/play/radio/le-12h30/audio/le-confinement-cree-t-il-une-hausse-des-violences-conjugales-interview-de-colette-fry?id=11241549&expandDescription=true
Für ausführlichere Informationen zur Situation von Frauen* während Corona empfehlen wir den Text des Zürcher Frauen*streikkollektivs sowie das Careona-Manifest des Frauen*streikkomitees Basel.

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