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Am Rande vermerkt: Grenzwächter kriegt 7 Monate bedingt – Führungsbericht sei Dank!

Eine schwangere Frau verliert ihr Fruchtwasser und liegt in den Wehen. Geburtskomplikationen zeichnen sich ab – die Schwangerschaft ist erst im siebten Monat. Später wird man herausfinden, dass aufgrund einer Plazentaablösung die Gefahr eines tödlichen Ausgangs für die Frau erhöht war. Sie liegt jedoch nicht auf einer Entbindungsstation eines Spitals, sondern auf einer Pritsche in einer Zelle. Ärztliche Hilfe wird ihr verweigert.
2014: Die Syrerin Suha Alhussein Jneid versucht mit ihrer Familie von Italien nach Frankreich zu reisen, um dort Asyl zu beantragen. Verhindert wird dieses Unterfangen von der Schweizerischen Grenzwache, die die Familie in Vallorbe aus dem Zug holt, um sie nach Italien zurückzuführen. In Brig wird sie vorübergehend in einer Zelle festgesetzt. Der Ehemann appelliert an die Grenzwächter, seine Frau liege in den Wehen und brauche ärztliche Hilfe. Er wird ignoriert. Die Frau kann den Zug nach Italien nicht mehr aus eigener Kraft betreten und muss von ihrem Mann getragen werden. In Italien wird sie ein totes Kind gebären.
2017: Der ranghöchste Grenzwächter, der 2014 die Einsatzleitung der Rückführung hatte, steht vor Gericht. Vom Ankläger wir ihm Tötung vorgeworfen. Höchststrafe bei vorsätzlicher Handlung: 20 Jahre. Weitere vorgeschlagene mögliche Verurteilungen: fahrlässige Tötung, versuchte Tötung, schwere Körperverletzung, einfache Körperverletzung, Aussetzung, Unterlassung der Nothilfe, Gefährdung des Lebens, Schwangerschaftsabbruch. Mindeststrafe bei einfacher Körperverletzung: 3 Monate.
Urteilsverkündung: 7 Monate bedingt, aufgrund des Tatbestandes des versuchten Schwangerschaftsabbruchs, der fahrlässiger Körperverletzung und der mehrfachen Nichtbefolgung von Dienstvorschriften.
Ausschlaggebend war die Annahme, das Ungeborene sei schon vor der Ankunft in Brig verstorben. Subjektiv habe der Angeklagte jedoch vom Gegenteil ausgehen müssen, so das Gericht. Auch sei ab dem Moment, als die Frau den Zug nicht aus eigener Kraft besteigen konnte, klar gewesen, dass es sich nicht um „eine normale Schwangerschaft“ handle. Erst für diese „Fehleinschätzung“ und die ab diesem Zeitpunkt unterlassene Hilfeleistung muss sich der Grenzwächter verantworten – nicht für das Einsperren und Hilfeverweigern zuvor.
Das Gericht machte zudem mildernde Umstände geltend: Der Mann habe immer einen „guten Führungsbericht“ gehabt. Immerhin. Reue zeigte er laut Gericht keine. Wieso denn auch: Er hatte ja einen guten Führungsbericht. Da kann es schon passieren, dass man statt möglicher 20 Jahre Haft 7 Monate bedingt bekommt.
Interessanterweise waren die Zeug*innen neben der Familie der Frau die anderen beteiligten Grenzwächter*innen. Denn aufgrund der hierarchischen Organisationsstruktur sind sind nicht alle Beteiligten angeklagt, sondern nur der Ranghöchste. Welche Darstellung folgt wohl aus der eigenen Teilhabe an der Durchführung des Verbrechens?
Das Schweizer Grenzregime tötet! Das Elend der Betroffenen darf nicht als Einzelfall beschrieben werden. Das normale Vorgehen nimmt solche Vorfälle in Kauf, wie die Begründung des Urteils zeigt.
von David Balourd
[Am Rande vermerkt] ist eine Serie von Kurzartikeln. Wir wollen damit tagesaktuelles Geschehen kommentieren, einordnen, auf Veränderungen aufmerksam machen. Eine konsequente linke, antikapitalistische Politik zeichnet sich unseres Erachtens nicht nur dadurch aus, die grossen Analysen abzuliefern. Vielmehr gehört es für uns dazu, auch kleinere, unscheinbare Entwicklungen, skandalöse Aussagen und Auffälliges einordnen zu können.
Die kurze Form, der eher flüchtige Charakter und die zeitliche Nähe, die allesamt diese Artikelserie ausmachen, führen dazu, dass die hier geäusserten Einschätzungen vorübergehend sein können und nicht zwangsläufig mit den Ansichten unserer Organisation übereinstimmen müssen. Die Autor*innen und die verwendeten Quellen sind deshalb jeweils gekennzeichnet. Textvorschläge sind jederzeit herzlich willkommen.

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