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Feminismus: Für einen Feminismus für die 99%

Anfang 2018 wurde das «Manifesto for a Feminism for the 99%» von Cinzia Arruzza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya in einer ersten Auflage in Englisch veröffentlicht. Nun ist seit dem Sommer 2019 die deutsche Übersetzung des Textes erhältlich. Im folgenden Artikel möchten wir eine kurze Rezension des Buchs formulieren und gleichzeitig einen Blick auf den Frauen*streik vom 14. Juni 2019 zurückwerfen. Denn die Forderungen im Manifest stellen für die feministische Bewegung in der Schweiz und international eine wichtige Orientierung dar.

von Linda Sander (BFS Basel)

Mit elf knappen Thesen und in einer klaren Sprache formulieren die drei Autorinnen ihre feministischen Forderungen und erläutern wie diese mit Themen wie der Sexualität, Selbstbestimmung, geschlechtsspezifischen Gewalt, aber auch den Wirtschaftskrisen und dem Klimawandel zusammenhängen. Ein zweiter Teil des kurzen Buches beschreibt den weiterführenden Kontext, in welchem sie ihre Thesen erarbeitet haben. Die drei Autorinnen grenzen sich dabei klar vom liberalen Feminismus der politischen Eliten der letzten Jahre ab und üben Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem. Es reicht eben nicht, einfach 50% der CEO-Stellen mit Frauen* zu besetzen oder als Frau* einfach etwas hartnäckiger als die männlichen Arbeitskollegen zu sein, wie es Sheryl Sandberg – Vertreterin des «lean-in»-Feminismus – propagiert. Der «lean-in»-Feminismus setzt dabei ganz auf eine Lösung innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems und geht davon aus, dass sich Frauen* mit etwas mehr Einsatz die Hälfte der Führungspositionen in der Gesellschaft erarbeiten können und damit das Ungleichgewicht aufgehoben wird. Die Antwort der Autorinnen darauf in ihrer dritten These ist der «Durchsetzungs-Feminismus (…) ein Feminismus des Zurückschlagens: nicht lean in, sondern kick back».

Der Kapitalismus wird nicht nur als eine Organisationsform der Wirtschaft im Allgemeinen beschrieben, sondern auch als ein Prinzip, welches viele Bereiche des alltäglichen Lebens definiert. So werden Themen wie Sexismus und Rassismus nicht als Nebenerscheinungen unserer Gesellschaft genannt. Beides sind zentrale Elemente, welche tief im Kapitalismus verankert sind und dieses System erst ermöglicht haben und weiterhin stärken. Auch die unbezahlte Reproduktionsarbeit, welche zu einem grossen Teil von Frauen* übernommen wird, stellt eine Basis für das Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftssystems dar. Die systematische Unterdrückung der Frauen* und die zerstörerische Ausnutzung der Natur spielen beide eine tragende Rolle innerhalb des Kapitalismus, wie sie in der neunten These beschreiben: «Indem er dafür kämpft, die Zerstörung der Erde durch den Kapitalismus umzukehren, ist der Feminismus für die 99 Prozent ein ökosozialistischer».

Der Kapitalismus ist mit genuiner Demokratie und mit Frieden unvereinbar. Unsere Antwort lautet: feministischer Internationalismus.

Das Ziel einer unendlichen Profitmaximierung kann nur in einem System von Dominanz und Unterdrückung verfolgt und verwirklicht werden. Deshalb müssen nach Arruzza, Fraser und Bhattacharya feministische Forderungen auch immer eine antikapitalistische und ökosozialistische Perspektive einnehmen. Denn erst mit der Überwindung des auf Hierarchisierung und Machtstrukturen basierenden Systems kann eine reale Chancengleichheit aller Menschen erreicht werden. Ein selbstbestimmtes Leben soll für alle Frauen* möglich sein. Es ist zentral einen Feminismus für die 99% zu fordern!

In ihrer zehnten These halten Arruzza, Fraser und Bhattacharya zudem fest: «Der Kapitalismus ist mit genuiner Demokratie und mit Frieden unvereinbar. Unsere Antwort lautet: feministischer Internationalismus». Damit verweisen sie nicht nur auf die Notwendigkeit einer Vernetzung der sozialen, antikapitalistischen Bewegungen weltweit, sondern auch auf die demokratiefeindlichen Strukturen einer kapitalistischen Gesellschaft, welche es zu überwinden gilt.

Tithi Bhattacharya wird am diesjährigen „Anderen Davos“ in Zürich teilnehmen.

Eine weitere Stärke des «Feministischen Manifestes der 99 %» liegt darin, dass die drei Autorinnen die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen antikapitalistischen Bewegungen aufzeigen, da Frauen* aufgrund der geschlechterspezifischen Rollenverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft besonders stark, z.B. von ökonomischen Krisen, ökologischen Katastrophen oder migrationsfeindlicher Politik betroffen sind. Deswegen fordern sie, «[…] dass Frauen* und Menschen, die traditionellen Geschlechterrollen ablehnen. Frauen* können «[…] die Rechte, die sie auf dem Papier haben oder noch zu erkämpfen hoffen, nur durch eine Transformation des zugrundeliegenden Gesellschaftssystems [verwirklichen][…].»

Frauen*streik in der Schweiz – wenn Frau* will steht alles still!

Der Frauen*streik am 14. Juni hat gezeigt, dass die Forderungen aus dem Manifest von Cinzia Arruzza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya längst nicht nur in akademischen oder studentischen Gruppen diskutiert wurden und werden. Mehr als 500’000 Menschen haben in zahlreichen Städten und Ortschaften der Schweiz protestiert und den öffentlichen Raum kämpferisch und selbstbestimmt mit ihren Forderungen besetzt. In vielen Städten der Schweiz fanden an diesem Tag die grössten Demonstrationen seit dem ersten Frauen*streik der Schweiz, 1991, statt. Und dabei ging es längst nicht nur um eine Durchsetzung von Lohngleichheit oder eine Frauen*quote im Parlament. Frauen* haben an diesem Tag nicht nur ihre bezahlte Lohnarbeit im Streik niedergelegt, sondern auch die unbezahlte Care-Arbeit (d.h. Kindererziehung, Hausarbeit, Pflege von älteren Menschen etc.) bestreikt. In verschiedenen Städten wurden bereits ab dem frühen Morgen Strassen und öffentliche Plätze besetzt, Aktionen durchgeführt und damit auf das Motto des letzten Frauen*streiks von 1991 verwiesen: Wenn Frau* will steht alles still.

Im Vorfeld des Streiktags erarbeiteten seit dem Sommer 2018 zahlreiche lokale Streikkomitees Forderungen für den Frauen*streik und darüber hinaus. In ihren Forderungen wurde die Vielfalt der verschiedenen Gruppen sichtbar. Und es wurden wiederholt antikapitalistische und ökosozialistische Perspektiven als zentrale Forderungen mit einbezogen und wesentliche Elemente des Manifests von Cinzia Arruzza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya aufgenommen. So schreibt das Frauen*streikkollektiv in Zürich: «Aus diesem Grund fordern wir die Vergesellschaftung der Care-Arbeit, zu der auch die Hausarbeit gehört. Wir wollen einen angemessenen Lohn! Wir wollen sichere Arbeitsverträge, ob im Privathaushalt oder auf der Baustelle. Wir wollen subventionierte Krippen und Altersheime. Eine echte Gleichberechtigung ist nur mittels Überwindung der Hierarchisierung von Menschen zu erreichen». Auch im Positionspapier auf nationaler Ebene werden die verschiedenen Unterdrückungsformen im Kapitalismus beschrieben: «In einem patriarchalen kapitalistischen System, in dem das «Männliche» und das «Weibliche» nicht als gleichwertig betrachtet werden, sind wir diejenigen, die Sexismus, Diskriminierung, Stereotypiserung und Gewalt ausgesetzt sind, am Arbeitsplatz, in der Ausbildung, auf der Strasse, zu Hause und in den staatlichen Institutionen. Wir sind Opfer spezifischer Unterdrückungen aufgrund unserer Hautfarbe, unseres sozialen Hintergrunds, unserer Situation als Mütter und Grossmütter, wegen unserer Beeinträchtigung, unserer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität».

Im Zuge der Vorbereitung des 14. Juni entstand in der Schweiz eine feministische Bewegung, die auch über den Streiktag hinaus, langfristig feministische Perspektiven in die Gesellschaft getragen hat. Dass es nach einem solch grossen Streik in gleicher Intensität weitergehen kann, ist unrealistisch. Dennoch bleiben die vielen Streikkomitees und Kollektive, ihre Vernetzung untereinander und die gesammelten Erfahrungen vom 14. Juni bestehen. Diese Ressourcen können wir für die nächsten Aktionen nutzen und die Forderungen nach einem selbstbestimmten, freien Leben für alle Frauen* lautstark auf die Strasse bringen. Der Frauen*streik am 14. Juni war der Beginn einer grossen feministischen Bewegung in der Schweiz und diese ist Teil der internationalen feministischen Bewegung!

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1 Kommentar

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