Am 14. Juni 2019 wird es erneut einen schweizweiten Frauen*streik geben. Überall wird organisiert und diskutiert. Viele Fragen kommen dabei auf: Warum braucht es einen Frauen*streik? Warum wird als Protestform der Streik gewählt? Was bedeutet überhaupt Frauen*streik? Welche Konsequenzen hat ein Streik für jede einzelne und was können wir aus den Erfahrungen vom ersten Frauenstreik am 14. Juni 1991 lernen?
von Lisi Kalera (BFS Basel)
Warum streiken?
Gründe für einen Frauen*streik gibt es viele: Jede Frau* hat ihre persönlichen Gründe für einen Frauen*streik. Beim Austausch mit Frauen über ihre Streikgründe ist mir aufgefallen, dass ich mich häufig darin wiedergefunden habe. Oft dachte ich: „Ja, stimmt, das hat mich auch schon wütend gemacht. Stimmt, das Gefühl der unglaublichen Ungerechtigkeit und gleichzeitigen Hilflosigkeit über diese schiere, vermeintliche Machtlosigkeit hatte ich auch schon, … und zwar viel zu häufig.“
Ob es um häusliche Gewalt geht; ob es um Diskriminierung am Arbeitsplatz und fehlende Anerkennung der geleisteten Arbeit im Beruf und zu Hause geht; ob es um den Zwang geht, so und so aussehen zu müssen und Geschlechternormen entsprechen zu müssen; ob es um fehlende Kinderbetreuung oder darum geht, dass wir einen doppelten Arbeitstag haben, weil nach der Lohnarbeit zu Hause der Haushalt und die Kinder warten und das Abendessen noch gemacht werden muss – die Streikgründe sind zahlreich.
Frauen* sind nach wie vor für den Grossteil der unbezahlten Sorgearbeit zuständig, weshalb viele Frauen* Teilzeit arbeiten, um Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut bringen zu können. Feminisierte Berufe werden als weniger wichtig wahrgenommen und sehr viel schlechter bezahlt als vergleichbare Männerberufe. Aufgrund der strukturell niedrigeren Löhne in typisch „weiblichen“ Berufen, aufgrund der Lohndiskriminierung bei gleicher Arbeit und aufgrund der Teilzeitarbeit können Frauen* zu all dem auch noch sehr viel weniger in ihre Altersversorge einzahlen, weshalb Altersarmut bei vielen eine drohende Realität ist.
Das wollen wir endlich ändern!
Es geht um sehr viel mehr als nur um Lohngleichheit: Es geht um eine radikale Umverteilung von Zeit, Geld und Macht im kapitalistischen Wirtschaftssystem und es geht um einen Wandel im Wertesystem. Wir wollen eine Aufwertung der Sorgearbeit und der unbezahlten und unsichtbaren Hausarbeit. Wir wollen, dass Berufe, in denen vor allem Frauen* arbeiten, die Anerkennung und Bezahlung erhalten, die sie verdienen. Wir fordern, dass Sorge- und Hausarbeit zwischen den Geschlechtern gleichberechtigt aufgeteilt werden und allgemein jeder mehr Zeit für diese wertvolle Arbeit hat. Dafür braucht es eine radikale Arbeitszeitverkürzung, damit jeder mehr Zeit für die Sorge- und Hausarbeit hat. Ein wichtiger erster Schritt für eine Vergesell- schaftung der Sorge- und Hausarbeit wäre eine gratis Betreuung für Kinder, kranke und ältere Menschen, damit nicht mehr wir Frauen* diese Arbeiten allein verrichten müssen.
Uns Frauen* wird von klein auf eingeimpft, geduldig, unauffällig und genügsam zu sein. Wenn wir uns auflehnen und im privaten Familienkreis, auf Arbeit oder im öffentlichen Raum unsere Rechte einfordern, wird uns vorgeworfen, unweiblich, unbescheiden, oder „Emanzen“ zu sein. Mit Geduld werden wir die bestehenden ungleichen Verhältnisse nicht beseitigen, das hat sich die letzten Jahrhunderte gezeigt.
Wenn Frau* will, steht alles still
Wir stehen mit unseren Forderungen nicht alleine da! Wir sind nicht machtlos, weil wir viele sind. Und weil wir viele sind, können wir diese Probleme angehen! Wir haben die Macht: Wenn wir Nein sagen, bleibt die Wirtschaft stehen, funktioniert die Gesellschaft nicht mehr, überwinden wir die Ausbeutung des Kapitalismus. Diese Macht können und müssen wir nutzen, wenn wir die Gesellschaft nach unseren Vorstellungen gestalten wollen. Ein Streik ist das Mittel dazu. Ein Streik der Hausarbeit, der Sorgearbeit und der Lohnarbeit zeigt der Welt, was wir alles den ganzen Tag machen und nicht gesehen wird. Machen wir unsere Arbeit sichtbar und brechen wir mit den unterdrückenden Machtverhältnissen, indem wir zeigen, was passiert, wenn wir uns verweigern.
Was ist mit einem Streik gemeint?
Von tatsächlichen Arbeitsniederlegungen im Betrieb, über den Streik der Sorge- und Hausarbeit bis hin zu zahlreichen kreativen, symbolischen Formen des Streiks war am ersten Frauenstreik in der Schweiz am 14. Juni 1991 alles vertreten. An diesem Tag gingen 500’000 Frauen auf die Strasse. Das war der grösste Streik in der Schweizer Geschichte. Die Stimmung war ausgelassen, lustvoll und fröhlich. In der gesamten Schweiz gab es verschiedene Formen des Streiks, um ein Zeichen gegen die Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt zu setzen.
Dabei wurde der traditionelle Arbeitsbegriff auf alle Tätigkeitsbereiche von Frauen* – ob bezahlt oder unbezahlt, ob zu Hause oder am ausserhäuslichen Arbeitsplatz – ausgeweitet. Parallel dazu weitete sich auch der Streikbegriff aus: Frauen* streikten nicht mehr nur als Lohnabhängige, sondern auch als Konsumentinnen, sie streikten in ihrer Funktion als Hausfrauen, Mütter oder Sorgende um ältere und kranke Menschen.
Der Frauenstreik versteht sich gleichzeitig als politischen Protest gegen die überholte geschlechterspezifische Arbeitsteilung, als Mittel der landesweiten Mobilisierung von Frauen und als Instrument der Durchsetzung einer Umverteil- ung von Zeit und Geld im kapitalistischen Wirtschaftssystem.
Arbeitsniederlegung – geht das?
In einigen Betrieben wurde am 14. Juni 1991 den ganzen Tag über von Frauen* die Arbeit niedergelegt. Praktisch die gesamte Belegschaft der Rhodanus Microtechnic AG in Naters (Wallis) nutzte 1991 den Frauenstreiktag, um auf die schlechte Lohnsituation aufmerksam zu machen. Bruttolöhne zwischen 1300 und 1800 Franken waren die Regel. Rund 70 Frauen legten deshalb am 14. Juni 1991 die Arbeit nieder und gingen auf die Strasse.
In der Züricher Werbeagentur ASGS streikten ebenfalls Frauen. Susi Knecht, Buchhalterin und Rädelsführerin des Frauenstreiks in der Werbeagentur, verfasste einen Aufruf zur ganztätigen Arbeitsniederlegung und motivierte Kolleginnen im gesamten Zürcher Werbeumfeld Aktionen anzukurbeln. Neben einem Streikhappening für alle Frauen wurde ein Tagesprogramm mit dem Schwerpunktthema „Sexismus in der Werbung“ organisiert. Damit führten die Frauen* ihren Kollegen vor Augen, wie deren Werbespots die Unterdrückung von Frauen* rechtfertigen.
Kreative Formen des Streiks
Am 14. Juni 1991 haben Tausende von Frauen* nicht gekocht, nicht bedient, gingen nicht einkaufen und haben auch nicht aufgeräumt. Stattdessen haben sie die Haus- und Sorgearbeit bestreikt und dies mit aus dem Fenster hängenden Besen, Pfannen und Laken auch deutlich gezeigt. Sie blieben jedoch an diesem Tag nicht allein zu Hause, sondern haben sich kollektiv organisiert, Streiksuppen und Frauenmittagessen veranstaltet. Mit lila-pink-violetten Kleidern haben Frauen auf der Strasse, im Büro, zu Hause oder im Verkauf ihre Streikbereitschaft symbolisiert.
Mit diesen und weiteren zahlreichen Aktionen haben Frauen* am Streiktag auf kreative und lustvolle Weise auf die patriarchalen und diskriminierenden Verhältnisse im Alltag aufmerksam gemacht. Schülerinnen und Kolleginnen brachten Stühle, Rosen, Kaffee und Croissant in die Verkaufsläden, um den Verkäuferinnen zu einer Pause zu verhelfen. Es fanden Streikpicknicks auf den Hauptplätzen wie in Porrentruy statt und in diversen Städten wurden patriarchale Statuen umdekoriert. Im Zentrum von Zürich haben Frauen Strassenschilder nach bekannten weiblichen Persönlich- keiten umbenannt um anzuprangern, dass in der Innenstadt mehrheitlich männliche Namen auf den Strassenschildern stehen.
Repression!? – Wer hat hier das sagen?
Viele Frauen* hatten 1991 im Vorfeld Angst vor Repression und diverse Arbeitgeber haben mit Entlassungsdrohungen dazu tatkräftig beigetragen. Die Gewerkschaften hatten sich auf überbordende Anfragen um Rechtshilfe bei Entlassungen oder Lohnabzügen eingestellt. Letzten Endes umsonst, denn es gab nur sehr wenige Fälle, in denen neben leeren Worten tatsächlich etwas geschehen ist.
Fakt ist, dass 1991 der Grossteil der über 500’000 Frauen* keine Konsequenzen aufgrund des Streiks zu tragen hatten. Das ist eine wichtige Erfahrung für 2019. Die Tatsache, dass so viele Menschen für den Frauenstreik waren, die Tatsache, dass der Frauenstreik auch medial ein sehr grosses positives Echo erhielt, könnte ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass die angekündigte Repression am Arbeitsplatz ausblieb. Die gesellschaftliche Abstützung für den Frauenstreik war dermassen gross, dass Unternehmerinnen mit repressiven Massnahmen gegen streikende Frauen* ihren Ruf, ihr Ansehen und ihre Reputation massiv gefährdet hätten. Das soziale und politische Machtverhältnis war auf unserer Seite.
Unser grösster Schutz vor Repression sind wir. Wenn wir viele sind, die hinter dem Frauenstreik stehen und unsere Forderungen nach Veränderung auf die Strasse tragen, haben wir die gesellschaftliche Kraft, Veränderungen herbeizuführen. Das haben wir 1991 erreicht und das möchten wir auch wieder 2019 erreichen. Der Frauenstreik ist erst der Anfang einer grossen feministischen Bewegung in der Schweiz. Damit unsere Forderungen wirtschaftlich und politisch umgesetzt werden, braucht es mehr als einen Tag symbolischen Streiks. Doch der Frauen*streik am 14. Juni 2019 ist ein wichtiger Anfang für eine breite politische Bewegung von unten!