Menu Schließen

Feminismus: Die Theorie der sozialen Reproduktion

Die Theorie der sozialen Reproduktion hat seit einigen Jahren neuen Aufschwung erhalten. Sie setzt sich vom «marxistischen» Dogma ab, dass Kapitalismuskritik vor allem die Ökonomie betrifft und als Subjekt nur den Lohnarbeiter ins Visier nimmt. Demgegenüber betonen die Feministinnen, die diese Theorie vertreten, die Gesamtheit der Arbeits- und Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten – von der Pflege über die Beziehungsarbeit, die häusliche Reproduktion, die Situation im Betrieb und in der Nachbarschaft, Wohnen und Bildungschancen. Dies alles ist erforderlich, um den Kapitalismus als globales System am Leben zu halten. Die Theorie der sozialen Reproduktion versteht sich auch als Alternative zur Theorie der Intersektionalität, die von der Überschneidung mehrerer verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person ausgeht und die Frage behandelt, wie individuelle Mehrfachidentitäten entstehen. Sie erklärt, weshalb die Frauenbewegung mit den Frauenstreiks und der #MeToo-Bewegung zu einem Schnittpunkt breiter Mobilisierung werden konnte, die über unmittelbare einzelne Anlässe und Forderungen weit hinausgehen.

Interview mit Tithi Bhattacharya; aus Sozialistische Zeitung

Worin besteht der Beitrag der Theorie der sozialen Reproduktion zu den traditionellen Kategorien der marxistischen Analyse?

Die Theorie der sozialen Reproduktion ist keine Ergänzung des Marxismus, sondern eine Vertiefung der Arbeitswerttheorie von Marx. In Band I des Kapitals schreibt Marx, dass jeder Prozess gesellschaftlicher Produktion auch ein Prozess der Reproduktion ist. [«In einem stetigen Zusammenhang … betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß … zugleich Reproduktionsprozeß.» (MEW 23:591.)] Der reproduktive Aspekt wird von ihm aber nie wirklich entwickelt. Im Brennpunkt seiner Analyse des Kapitalismus steht vor allem der Mehrwert, der von der Arbeit in der Produktion von Gütern erzeugt wird, er berücksichtigt jedoch nicht die (Re-)Produktion der Arbeitskraft.

Hauptziel der Theorie der sozialen Reproduktion ist zu zeigen, dass im Kapitalismus zwischen der Reproduktion der Arbeitskraft einerseits und der Produktion von Gütern andererseits eine grundlegende Beziehung besteht. Es genügt, an all die Arbeit zu denken, die zu Hause erledigt werden muss, all die Kontakte und Abmachungen mit dem Partner, der Babysitterin, den Lehrerinnen oder den Nachbarn, bevor die Frau morgens an ihrem Arbeitsplatz erscheint. Die Theorie analysiert die sozialen Umstände, unter denen die Lohnarbeitenden als Träger der Arbeitskraft und Quelle des Profits im Alltag und auf der Ebene der Generationen reproduziert werden.

Tithi Bhattacharya wird am 17./18. Januar 2020 am Anderen Davos in Zürich teilnehmen und einen Vortrag über die Soziale Reproduktionstheorie und die weltweite feministische Bewegung halten.

Zwei Arten von Reproduktion stehen dabei im Mittelpunkt: die Reproduktion der Arbeitskraft und die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen. Diese beiden stehen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander und in einer notwendigen, aber widersprüchlichen Beziehung: notwendig, da die Reproduktion der Arbeitskraft für den Kapitalisten eine Quelle des Profits ist. Wenn es keine Arbeiterin gibt, gibt es auch keinen Profit. Um zu leben, braucht die Arbeiterin Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsdienste usw. Der Kapitalismus muss sich in einem gewissen Grad dieser Bedürfnisse annehmen, denn wenn in all diese Grundbedürfnisse nicht mehr investiert wird, werden die Arbeitenden schlichtweg sterben.

Die Beziehung ist aber auch widersprüchlich, weil die Investitionen in die Grundbedürfnisse des Arbeiters für die Kapitalisten nicht rentabel sind. Eine Investition in ein hochwertiges staatliches Gesundheitswesen, in gute Sozialwohnungen und eine gesunde und nachhaltige Nahrungsmittelproduktion schmälert ihre direkten Profite. Der Kapitalismus sieht sich also mit einem ständigen Dilemma konfrontiert, weil er einerseits von der Lebenskraft der Arbeiterklasse abhängt, andererseits nicht zu viel in sie investieren will.

Du verwendest eine sehr breite Definition der Zusammensetzung der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter, du beschränkst sie nicht allein auf die Lohnabhängigen.

Lohnabhängige können als die Menschen definiert werden, die für einen Lohn arbeiten – aber das ist die Klassenkampfvorstellung eines verschlafenen Gewerkschaftssekretärs. Für uns revolutionäre Marxistinnen ist jede Person der produktiven Klasse, die im Laufe ihres Lebens zur Gesamtheit der Reproduktion der Gesellschaft beigetragen hat, Teil der Arbeiterklasse, ob ihre Arbeit nun entlohnt wurde oder nicht. Das umfasst einen Latino mit einem Teilzeitjob in einem Hotel in Los Angeles ebenso wie die Mutter in Indiana mit einem flexiblen Arbeits­vertrag, der ihr die Kinderbetreuung zu Hause ermöglicht, weil die Krippen zu teuer sind, den schwarzen Vollzeitangestellten in Chicago und den weißen, mittlerweile erwerbslosen, Kollegen der Automobilarbeitergewerkschaft UAW aus Detroit.

Wir müssen uns von der herkömmlichen Idee verabschieden, wonach der Kapitalismus bloß ein Wirtschaftssystem ist. Der Kapitalismus ist nicht nur eine Produktionsweise, er ist auch eine Gesamtheit von gesellschaftlichen Beziehungen. Genau diesen Punkt wollen wir betonen. Zum Kapitalismus gehört Ausbeutung und Mehrwertproduktion, aber auch Herrschaft, Entfremdung und Unterdrückung.

Wenn wir den Kapitalismus nur als ein ökonomisches Faktum betrachten, beschränkt sich unsere Erzählung auf die Fabrik, die Landarbeit, das Unternehmen, also auf Lohn und Profit.

Es ist an der Zeit, auch das Leben und die Beziehungen in den Widerstand gegen die kapitalistische Tyrannei einzubeziehen. Notwendige soziale Bestandteile für ein befriedigendes Leben sind Gesundheitsdienstleistungen, eine anständige Rente, Krippen, öffentlicher Verkehr, Nahrung… Es sind diese Dinge, die Menschen dazu bringen zu arbeiten. Sie gehen nicht arbeiten, weil sie gerne hinter einem Schreibtisch sitzen… Sie sind dazu gezwungen, um ihre eigenen Bedürfnisse und die ihrer Familie zu befriedigen.

Neben den Angriffen auf den Lohn führt der Neoliberalismus auch breite Angriffe gegen die sozialen Dienste, er hat es geschafft, den größten Teil davon zu privatisieren: Wasser, Strom, die Sozialwohnungen, die Betreuung der älteren Menschen, die Gesundheitsdienste usw. Diese Angriffe auf lebenswichtige Bereiche bekommt die Arbeiterklasse unmittelbar und empfindlich zu spüren. Das erklärt die Protestwelle gegen die Sparpolitik.

Einer Arbeiterin mitzuteilen, dass ihr Lohn gekürzt wird, ist eine Sache. Aber wenn man ihr sagt, dass ihre Wasserversorgung gesperrt wird oder dass ihr Trinkwasser mit Giftstoffen versetzt ist, wie in Flint im US-Bundesstaat Michigan, dann begreift sie, dass nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht, sondern auch das ihrer Familie und der Menschen, die sie liebt.

Wir haben versucht, diese Protestaktionen in bezug auf das Wasser, die Gesundheitsdienste, die Renten usw. in der Perspektive des Klassenkampfs zu analysieren, weil sie für die Erneuerung der Arbeitskraft notwendig sind. Der Kapitalismus umfasst also nicht nur die Produktion von Gütern, sondern auch die soziale Reproduktion des Lebens und der Arbeitskraft. Deshalb muss das Konzept des Klassenkampfs ohne weiteres auf die Bereiche der sozialen Reproduktion ausgedehnt werden.

Wenn die Reproduktion der Arbeitskraft ein Element im Klassenkampf ist, was sind dann die strategischen Schlussfolgerungen für die spezifische und organisierende Arbeit der Gewerkschaften, der Frauenorganisationen, der feministischen Organisationen?

Die Gewerkschaften waren für uns einmal die besten Instrumente im Kampf. Leider fehlt heute eine kämpferische Gewerkschaft für den Kampf gegen die Lohnungleichheit. Seit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1970er Jahren ist die Arbeitssituation im Norden ebenso wie im Süden durch das Fehlen von Gewerkschaften gekennzeichnet, oder sie sind schwach und gefügig.

Wenn heute die Löhne angegriffen werden, erhalten wir von den Gewerkschaften nicht mehr dieselbe Unterstützung für einen gemeinsamen Kampf wie in den 1930er oder 1960er Jahren. Dabei sinken die Reallöhne heute weltweit, während die Arbeitszeit drastisch steigt. Die Hoffnung, die die Menschen in die Gewerkschaften setzten, wurde verraten – einerseits durch jahrzehntelange gewerkschaftsfeindliche Aktionen von oben, andererseits durch die Verwandlung der Gewerkschaften in Unternehmen, die den Kapitalismus nun lieber verwalten als bekämpfen. Wenn die Gewerkschaften wieder stärker werden wollen, müssen sie wieder zu einem Instrument der sozialen Macht der Arbeiterklasse werden, wie in den USA in den 30er Jahren, in der Zeit des class-struggle unionism [klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung, Anm. d. Red.].

Dazu gehört, dass wir die Bedürfnisse der Arbeitenden am Arbeitsplatz und außerhalb verstehen und begreifen, wie die beiden Ebenen zusammenhängen. Nehmen wir an, die Gewerkschaft sagt: «Wir werden deinen Lohn verteidigen, aber wenn die Einwanderungsbehörde dich und deine Familie angreift, werden wir nicht intervenieren.» Hilft sie aber migrantischen Gemeinschaften in ihrem Kampf gegen Abschiebungen oder ethnische Gentrifizierung, schlägt ihr sofort Respekt, Vertrauen und Anerkennung entgegen. Das ist die Art von Gewerkschaft, die auf Klassenkampf aufbaut, die wiederbelebt werden muss.

Unsere Arbeit als Feministinnen, Marxistinnen und Revolutionärinnen besteht darin, im Kontakt mit Frauenorganisationen, palästinensischen Be­freiungsbewegungen oder der Black-Lives-Matter-Bewegung die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Lohnungleichheit zu betonen. Und unseren Gewerkschaften müssen wir sagen, dass der Kampf für gleiche Löhne nicht die Probleme Rassismus, Sexismus und Imperialismus lösen wird. Eine Gewerkschaft, die nicht fähig ist, diese Verbindung herzustellen, hat keinerlei Chance auf Erfolg, auch nicht im engen Sinne des Lohnkampfs.

Gibt es Beispiele, wo Gewerkschaften diese Verbindung herstellen konnten?

In den USA gibt es wunderbare Beispiele dafür. Da ist die Gewerkschaft der Lehrkräfte in Chicago, die Chicago Teachers Union (CTU), die sich selbst als Gewerkschaft für soziale Gerechtigkeit bezeichnet. In Chicago, insbesondere in den afroamerikanischen und Latino-Vierteln, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Schulen geschlossen. Die CTU hat gegen die Schließung dieser Schulen gekämpft und sich auch an der Seite der lokalen Bevölkerung am Kampf gegen Abschiebungen beteiligt. Als sie 2012 in den Streik trat, haben diese marginalisierten Gemeinschaften ihren Streik unterstützt, weil sie die Gewerkschaft schon kannten, denn sie erkannten das Transparent der Gewerkschaft wieder, die an ihrer Seite gekämpft hatte. Deshalb war der Lehrerstreik in Chicago auch derart erfolgreich.

Vor kurzem gab es auch, in deutlich geringerem Maßstab, den Fall, dass eine örtliche Gliederung der Gewerkschaft der Lkw-Fahrer in New York sich aktiv gegen die neuen Abschiebemaßnahmen der Regierung Trump wandte. Das ist genau der Weg, den wir gehen müssen, soll die gesellschaftliche Kraft wiederentstehen, über die die Gewerkschaften früher verfügten.

Der internationale Frauenstreik ist ein weiteres Beispiel für die «Nahtstelle», an der all diese Bewegungen verknüpft werden können. Das antikapitalistische feministische Projekt fordert einen Feminismus der Arbeiterklasse, einen Feminismus für die 99 Prozent. Die Gewerkschaften müssen ihre Anstrengungen verstärken, um Fragen, die traditionell als ökonomische oder Klassenfragen betrachtet werden, mit Fragen der sozialen Reproduktion zu verbinden. Nur so kommen wir weiter.

Wie haben die Reflexionen, Ideen und Meinungen in Bezug auf die soziale Reproduktion die Organisation der Bewegung International Women’s Strike (IWS) in den USA bereichert?

Vor zwei Jahren habe ich mich mit einer Gruppe großartiger feministischer Genossinnen der IWS-Bewegung in den USA angeschlossen. Im Rahmen unseres kämpferischen feministischen Projekts versuchen wir verschiedene Dinge zu verwirklichen:

– Erstens gegen die Kapitalisierung des Feminismus zu agieren. Die herrschende Tendenz des neoliberalen Kapitals besteht nicht darin, den feministischen Diskurs in Gänze zu verwerfen, sondern ihn in eine auf das Kapital ausgerichteten Diskurs zu verwandeln. Dieser entarteten Vorstellung von Feminismus hat die IWS-Bewegung einen klar antikapitalistischen Feminismus entgegengesetzt, den Feminismus der 99%.

– Zweitens war die Verwendung des Begriffs «Streik» für uns sehr wichtig, hat uns aber Kritik verschiedener Strömungen der US-Linken eingebracht. Diesen Begriff haben wir absichtlich verwendet. Wir wollten die Aufmerksamkeit auf ein Grundprinzip der Theorie der sozialen Reproduktion lenken, auf die Tatsache, dass die Lohnarbeit und die soziale Reproduktion verschiedene Aspekte derselben kapitalistischen Einheit sind und folglich der Widerstand gegen eine Form auch beinhaltet, sich gegen die andere aufzulehnen. Wir glaubten nicht, und tun es noch immer nicht, dass die gewerkschaftliche Stärke in den USA durch die verstärkte Rekrutierung am Arbeitsplatz im engeren Sinne wiedererlangt werden kann. Wir glauben eher, dass dies durch einen großen sozialen Kampf erfolgt, der Arbeiter, Frauen und nichtweiße Menschen vereint. Es ist kein Zufall, dass im letzten Jahr drei Schulen am 8.März geschlossen blieben, weil die Lehrkräfte, die vor allem Frauen waren, sich weigerten, arbeiten zu gehen, und so konkret die Stärke eines klassenkämpferischen Feminismus demonstrierten. 

Es stellt sich die Frage, warum die Arbeiterinnen im Reproduktionsbereich – d.h. die Lehrerinnen, Krankenschwestern, Raumpflegerinnen – die kämpferischste Strömung der US-Arbeiterklasse darstellen. Weder die Unternehmer noch die Gewerkschaftsbürokraten können dies erklären. Es geschieht nicht nur, weil dieser Sektor stark expandiert oder aufgrund der verheerenden Kürzungen in diesen Bereichen, sondern auch, und das ist ein fundamentaler Punkt, weil die Arbeit dieser Menschen die notwendigen Bedingungen für das Funktionieren des Systems schafft und die Arbeiterinnen sich dessen bewusst sind. Was geschieht, wenn die Schulen schließen? Wenn die Krankenschwestern sich weigern zu pflegen? Wenn die Migrantinnen sich weigern zu putzen? Die Arbeit, auf die sich das System stützt, hat, auch wenn sie keinen direkten Mehrwert schafft, eine enorme Macht über das System. Und das haben unsere Lehrerinnen, unsere Krankenschwestern und Raumpflegerinnen dem Kapital gelehrt. Und wir hoffen, dass es in Zukunft immer mehr Streiks gibt, in denen derartige Lektionen gelehrt und weitergegeben werden.

Tithi Bhattacharya lehrt an der Universität Purdue, Indiana (USA). Sie ist Autorin von Feminismus für die 99%: Ein Manifest, Herausgeberin von Social Reproduction Theory und Aktivistin des International Women’s Strike in den USA. Dieses Interview erschien im belgischen Magazin Lava im Juli 2018. Hier gekürzt nach der französischen Fassung.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert