Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen waren ein zentrales Thema des Frauen*streiks am 14. Juni 2019. Der herrschende Diskurs versucht ihr tatsächliches Ausmaß zu verschleiern, indem er einen Teil der Lohnungleichheit als „erklärbar“ und nicht-diskriminierend bezeichnet. Die tatsächliche, geschlechterspezifische Lohnungleichheit zu benennen, ist deshalb Voraussetzung, um sie beseitigen zu können. Und entgegen der allgemeinen Behauptung liegt diese in der Schweiz nicht bei 18%, sondern bei 35%. Eine Entschlüsselung, wie mit statistischen Mitteln die Geschlechterdiskriminierung aus der Welt gerechnet wird. (Red.)
von Jean-François Marquis*; aus alencontre.org
Lohnunterschiede waren bereits ein zentrales Thema des Frauenstreiks von 1991. In den letzten 28 Jahren hat sich jedoch eine Idee durchgesetzt: Bei diesen Lohnunterschieden müsse der «erklärbare» Teil vom «unerklärbaren» Teil unterschieden werden, und nur letzterer könne mit Diskriminierung in Verbindung gebracht werden.
So veröffentlichte die Tageszeitung Le Temps am 13. September 2018 einen Artikel mit dem Titel «Gehälter: Die Kluft zwischen Frauen und Männern bleibt teilweise unerklärt». Zitiert wird Valérie Borioli Sandoz, Gleichstellungsbeauftragte bei Travail Suisse [christlicher Gewerkschaftsbund]. Sie erklärt, dass sie es vorzieht, «den Teil der Lohnunterschiede zu beobachten, der sich nicht durch objektive Faktoren erklären lässt […].» Schauen wir uns einmal an, was diese Meinung taugt.
Eine unangenehme Verwirrung
In seiner üblichen Verwendung kann das Verb «erklären» folgende Bedeutung haben: Einerseits kann es bedeuten, «den Grund oder die Ursache von etwas bekannt machen». Andererseits kann es aber auch «rechtfertigen» bedeuten.
Darüber hinaus gibt es eine dritte Bedeutung, die sich aus der statistischen Terminologie ableitet. In diesem Fall bezieht sich die «erklärende» oder «unabhängige» Variable auf ein Merkmal, um das Verhalten einer anderen Variablen zu beschreiben und vorherzusagen. Diese erste oder «unabhängige» Variable ist dann, wie es im Jargon heisst, die «zu erklärende». So ist beispielsweise das Alter eine erklärende Variable für den Gesundheitszustand: Ab einer bestimmten Schwelle nimmt der Gesundheitszustand mit zunehmendem Alter ab. Diese statistische «Erklärung» bedeutet jedoch nicht, dass nun die Ursache für den Zusammenhang gefunden wurde. Diese Ursache ist nur erkennbar, wenn wir auf medizinisches, biologisches, soziologisches und anderes Wissen zurückgreifen, das die Prozesse des menschlichen Alterns und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit erklärt. Und noch viel weniger bedeutet diese statistische «Erklärung» irgendeine «Rechtfertigung».
Geht es allerdings um Lohnunterschiede, so werden diese drei Bedeutungen unglücklicherweise miteinander vermischt, wie das anfangs zitierte Beispiel zeigt.
BASS-Analyse
Die Analyse der Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen basiert auf der alle zwei Jahre vom Bundesamt für Statistik (BFS) durchgeführten Schweizerischen Lohnstrukturerhebung. Sie wird einer externen Organisation anvertraut. Die Analyse der Umfrage von 2014 (die Daten für 2016 sind noch nicht online) wurde vom BASS-Büro in Bern durchgeführt. Der Abschlussbericht kann auf der Website des Bundesamtes eingesehen werden.[1]
Der verwendete statistische Ansatz basiert auf dem sogenannten Blinder-Oaxaca-Modell, eine statistische Methode, die internatinal anerkannt ist. Dabei wird der standardisiert Bruttolohn (gerechnet auf 40 Wochenstunden) von Frauen und Männern als Funktion verschiedener Variablen (Alter, Ausbildung, Branche usw.) ausgedrückt. Anschliessend wird berechnet, wieviel Frauen verdienen müssten, wenn sie dieselben Charakteristika in Bezug auf Alter, Ausbildung usw. wie die Männer besitzen würden. Die Differenz zwischen diesem hypothetischen Lohn und dem tatsächlichen Lohn stellt dann die «erklärbare» Lohndifferenz dar, die auf «objektive Faktoren» zurückzuführen ist.
Der Bericht kommt zum Schluss, dass die gesamte Lohndifferenz 17,5% beträgt, wovon 10,1% «erklärbar» seien. Doch merkt das BASS auch an, dass das Blinder-Oaxaca-Modell in Bezug auf 3,9% des Lohnunterschieds keine eindeutigen Ergebnisse liefern kann. Diese 3,9% seien daher «schwer zu interpretieren», wie es im Bericht heisst. Trotzdem wird dieser Anteil grosszügig in den «erklärbaren» Teil des Lohnunterschieds einbezogen, sodass der «erklärbare» Teil von 6,2% auf 10,1% aufgeblasen wird. Begründet wird dies damit, dass es sich hierbei um eine «vorsichtige Hypothese» handle. Ach so, «vorsichtig» also… Vorsichtig für wen, könnte frau fragen?
Interpretation
Kommen wir nun zur Interpretation der Ergebnisse dieser statistischen Analysen. Wie angegeben berücksichtigt das Modell verschiedene Variablen: Alter, Dienstjahre, Bildungsgrad, Familienstand, Nationalität, beruflicher Status, ausgeübter Beruf, Unternehmensgröße, Branche, Region, Beteiligungsquote, Art der Vergütung, Kollektivverträge, andere Lohnelemente. Aber was bedeutet das?
Um die Frage zu beantworten, nehmen wir das Beispiel der beruflichen Position (die Argumentation kann mit den meisten Variablen im Modell wiederholt werden). Das Modell erfasst die Tatsache, dass ein Zusammenhang zwischen beruflicher Position und Gehalt besteht und ermöglicht die Berechnung eines diesem Zusammenhang entsprechenden Koeffizienten. Je höher die Position, desto höher das Gehalt: Das ist kaum fragwürdig. Wir wissen sogar, dass diese Unterschiede schockierende Dimensionen haben können: Was rechtfertigt zum Beispiel, dass der SBB-Direktor 20 bis 30 Mal mehr verdienen sollte, als die am schlechtesten bezahlten Mitarbeitenden in seinem Unternehmen?
Stellen wir uns nun für einen Moment vor, dass es in den fünf aufgeführten Berufspositionen (oberes Kader, mittleres Kader, unteres Kader, Verantwortliche für die Ausführung von Arbeiten, ohne Führungsposition) den gleichen Anteil an Männern und Frauen gibt. In diesem Fall würden die Lohnunterschiede zwischen Managern und Personen ohne Führungsaufgabe, so fragwürdig sie auch sein mögen, nicht zu einer spezifischen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen beitragen.
Von der Erklärung zur Rechtfertigung
Aber das ist nicht der Fall. Im Jahr 2014 hatten laut BASS-Bericht 16% der Männer eine Position im oberen oder mittleren Management gegenüber 7,7% der Frauen. Andererseits hatten 76,4% der Frauen keine Führungsposition gegenüber 64,2% der Männer. Dieser Unterschied ist das Ergebnis einer Reihe von diskriminierenden Mechanismen, die zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Ebenen funktionieren: die Erziehung von der frühen Kindheit bis zur Berufsbildung und -beratung; die sozialen Verhältnisse, die die Verantwortung für Haushalts- und Bildungsaufgaben in erster Linie den Frauen zuschreiben; das Funktionieren des Arbeitsmarktes, der diese Verhältnisse aufrechterhält; die Einstellungspraxis der Unternehmen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen und ihre Überrepräsentation in Positionen ohne Führungsrolle ist daher das Ergebnis von Diskriminierung. Aber die dominante Interpretation, die dem Blinder-Oaxaca-Modell entspricht, verschleiert diese Realität: Sie betrachtet die berufliche Position und ihre ungleiche Verteilung zwischen Männern und Frauen als kämen sie aus dem Nichts – als «objektiver Faktor». Ihr Einfluss auf die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede wird als gerechtfertigt angesehen, da sie «erklärt» wird. Die statistische Analyse wird zu einer Maschine zur Verschleierung von Diskriminierung.
«Gleichwertige» Arbeit?
Zur Legitimation der tendenziösen Analogie «erklärende Variable» = «objektiver Faktor» = «Nichtdiskriminierung» wird auch das Gesetz herangezogen. In Artikel 8 Absatz 3 der Bundesverfassung ist der Grundsatz des gleichen Lohns für gleichwertige Arbeit verankert. Die statistische Analyse mit ihren erklärenden Variablen wird als Mittel vorgestellt, um Arbeitstätigkeiten von «gleichem Wert» vergleichen zu können, indem die Auswirkungen von «objektiven» Unterschieden neutralisiert werden. Das ist irreführend.
Erstens zeigt der Begriff «gleichwertige Arbeit», dass die Arbeit vergleichbar sein muss, auch wenn sie unterschiedlich ist. Um diesen Vergleich vorzunehmen, muss auch über die traditionellen Grenzen von Qualifikationen, Ausbildung, Tätigkeitsbereichen usw. hinweg verglichen werden. Der statistische Ansatz tut jedoch das Gegenteil: Er isoliert und verfestigt jedes Merkmal (Alter, Ausbildung usw.) und seine statistischen Auswirkungen. Dies hindert uns daran, scheinbare Äquivalenzen zu überdenken.
Nehmen wir ein Beispiel: Eine Frau, die als Pflegekraft in einer medizinischen Einrichtung arbeitet, hat offensichtlich nicht die gleiche Ausbildung wie ein Ökonom, also ein Akademiker, der für die Leitung eines großen Krankenhauses arbeitet. In einem statistischen Modell reicht dies aus, um einen großen Teil der Lohnunterschiede zwischen ihnen zu «erklären». Aber berücksichtigen wir einmal die Tatsache, dass die Pflegerin – vorausgesetzt, sie hat Zeit dazu – enormes Fachwissen haben muss, um ältere Menschen in ihrer Pflege zu betreuen, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, ihre Erwartungen und Reaktionen zu verstehen, ihre Bedürfnisse einzuschätzen und angemessen auf unvorhergesehene und dringende Situationen zu reagieren. Ist ihre Arbeit dann wirklich so viel weniger Wert als diejenige des Ökonomen, sodass dessen drei- bis fünfmal höheres Gehalt gerechtfertigt ist? Das Prinzip der «gleichwertigen Arbeit» bedeutet, dass diese Art von Vergleich möglich sein sollte. Aber die enge rechtliche Auslegung des Artikels erschwert – unterstützt durch die statistische Modellierung – diesen Vergleich.
Diskriminierungen werden ignoriert
Zweitens ist der derzeitige rechtliche Rahmen sehr restriktiv und betrifft per Definition nicht viele Formen der Diskriminierung. Die Definition geht somit von der Existenz eines identischen Arbeitgebers aus. Ungleichheiten, die außerhalb des direkten Arbeitsverhältnisses entstehen, werden daher ignoriert. Ein erheblicher Teil der diskriminierenden Mechanismen wirkt jedoch nicht direkt in dem durch den Arbeitsvertrag festgelegten Rahmen. So betrug der standardisierte Medianlohn [50% verdienen mehr; 50% weniger] im Gesundheits- und Pflegebereich im Jahr 2014 6’372 Franken für Männer und Frauen. Im Finanz- und Versicherungssektor betrug er 9’208 Franken (45% mehr). Was rechtfertigt solche Lohnunterschiede zwischen zwei Tätigkeitsbereichen? Produktivität? Welche Produktivität? Sozialer Nutzen? Sollte in diesem Fall nicht stattdessen das Verhältnis umgekehrt werden? Allerdings sind 78,4% der Arbeitsplätze im Gesundheitswesen von Frauen besetzt, gegenüber 42,4% im Bank- und Versicherungswesen. Dass es sich hierbei auch um Lohnungleichheit handelt, sollte für all jene klar sein, die sich für Gleichstellung einsetzen.
Statistiken und das wirkliche Leben
Die statistische Analyse isoliert Merkmale, die das Lohnniveau statistisch erklären: Alter, Ausbildung, Beschäftigungsstatus etc. Sie spiegelt nicht wider, wie diese Merkmale in der Realität mit dem Geschlecht zusammenhängen, z.B. dass die berufliche Situation selbst teilweise durch das Geschlecht bestimmt wird (Feminisierung von Pflege- und Betreuungsberufen). Vor allem aber rechtfertigt die Statistik nichts.
Die Entscheidung, dass es sich bei diesen Merkmalen um «objektive Faktoren» handelt, deren Auswirkungen auf die Lohnungleichheiten «erklärbar», also nicht-diskriminierend und «gerechtfertigt» werden, ist nicht das automatische Ergebnis einer statistischen Analyse, sondern eine Entscheidung, die dem Blinder-Oaxaca-Modell entspricht und eine fragwürdige Vorstellung davon widerspiegelt, was Diskriminierung in unserer Gesellschaft ist. Alle diese Merkmale, die meistens eine geschlechterspezifische Dimension haben, sind in der Realität miteinander verschränkt und schlagen sich auf die Lohnabrechnung der Frauen nieder.
Der Nettolohn zählt
Um sich dem wahren Ausmaß der geschlechtsspezifischen Lohnungleichheiten zu nähern, sollte der standardisierte Lohn [Wochenarbeitszeit von 40 Stunden = 100%] nicht als Referenz herangezogen werden. Dieser ist in der Tat eine Fiktion. Im wirklichen Leben entspricht das Einkommen von Frauen und Männern dem tatsächlich erzielten Lohn, dem Nettolohn, der stark vom Beschäftigungsgrad abhängig ist. Im Jahr 2017 arbeiteten jedoch 59% der Frauen Teilzeit, gegenüber 17,6% der Männer. In Island zum Beispiel, wo zwei nationale Frauenstreiks zu einem weltweit einzigartigen Gesetz geführt haben, das Unternehmen zu Lohngleicheit verpflichtet, nimmt die Streikorganisation Women’s Rights Association den tatsächlichen Lohn als Maßstab für die Messung der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern.[2]
In der Schweiz nennen Frauen zwei Haupgründe dafür, dass sie Teilzeit arbeiten: Kinderbetreuung (26,5%) und andere familiäre Verpflichtungen (21,8%).[3] Bei den Männern geben 6,1% bzw. 6,3% diese Gründe an. Dieser unterschiedliche Anteil ist das Ergebnis diskriminierender Mechanismen und sind auf die jeweiligen Positionen von Frauen und Männdern in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt und bei der Ausübung der unbezahlten Erziehungs- und Hausarbeit zurückzuführen. Ohne diese Arbeiten würde die Gesellschaft nicht funktionieren. Dies muss bei der Diskussion über geschlechtsspezifische Lohnunterschiede berücksichtigt werden.
Ein Drittel weniger!
Im Jahr 2014 betrug die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Nettogehalt von Männern und Frauen 32,5%, so das BASS-Büro. Im Jahr 2016 stieg dieser Wert auf 35% in Bezug auf den Medianlohn. Dieser Unterschied – ein Drittel! – hat massive Auswirkungen nicht nur auf das sofort verfügbare Einkommen, sondern auch auf die Renten und die Lebensqualität älterer Frauen. Diese 35% sind das tatsächliche Ausmass der Lohnungleichheit in der Schweiz. Die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern liegt also noch in weiter Ferne.
*Jean-François Marquis ist Mitglied der VPOD. Dieser Artikel erschien auch in der Westschweizer VPOD-Zeitung «Services publics». Die Redaktion hat den Artikel übersetzt, leicht gekürzt und überarbeitet.
[1] BASS (2017): Analyse der Löhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebung 2014; https://www.bfs.admin.ch/bfs/fr/home/statistiques/travail-remuneration/salaires-revenus-cout-travail/niveau-salaires-suisse/ecart-salarial.assetdetail.2118701.html
[2] Siehe das Interview mit Brynhildur Heiðar- and Ómarsdóttir (Direktorin der Women’s Rights Association) in: Services publics, Nr. 6, 5. April 2019.
[3] Bundesamt für Statistik (2019): Teilzeitarbeit in der Schweiz 2017.
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