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Brasilien: Solidarität mit den Kämpfenden

Seit Bolsonaro das Präsidentenamt angetreten hat, haben sich die Angriffe auf linke Strukturen und emanzipatorische Projekte verschärft. Doch auch der Widerstand gegen die Regierung und den Rechtsrutsch ist stärker geworden. Wir veröffentlichen an dieser Stelle ein Interview mit der brasilianischen Aktivistin Talíria Petrone. (Red.)

von ISO; aus intersoz.org

Die knapp 34 Jahre alte Talíria Petrone ist eine brasilianische Aktivistin der Bewegung für Entkolonialisierung und eine antikapitalistische Feministin. Sie wurde im Oktober 2018 für die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) in die Abgeordnetenkammer gewählt und war eine Mitstreiterin von Marielle Franco, der PSOL-Stadträtin, die am 14. März 2018 mit dem Fahrer Anderson Gomes ermordet wurde.

Was bedeutet es heute, in Brasilien, eine politisch engagierte Schwarze Frau und eine Bundesabgeordnete der PSOL zu sein?

Die Politik ist für uns ein Nicht-Ort, weil sie mit zwei Dingen zu tun hat, die uns im Laufe der Geschichte ständig verwehrt wurden. In der Politik geht es um Macht, wir Schwarzen Frauen* hatten aber noch nie Macht. Und in der Politik geht es darum, in der Öffentlichkeit Raum einzunehmen, aber die Schwarzen Frauen* hatten in der Öffentlichkeit noch nie Gewicht. Insbesondere in einem Land, das die Sklaverei als eines der letzten abgeschafft und eine patriarchale Logik sowie einen religiösen Fundamentalismus entwickelt hat, beides Grundelemente der Kolonialisierung. Und diese Geschichte ist nicht abgeschlossen, sondern immer noch aktuell. Auch heute noch staunen viele Leute darüber, dass wir in der institutionellen Politik und im Parlament Platz beanspruchen. Für diejenigen von uns, die diesen Kampf auf sich nehmen, ist es schmerzhaft, täglich infrage gestellt zu werden. Es ist aber notwendig, diese Räume zu besetzen. Nur so können wir die Dinge, die wir täglich erleben, im Parlament einbringen.

Nach dem politisch motivierten Mord an Marielle ist es dringlicher denn je, dass wir schwarze Frauen* im Parlament haben. Marielle war eine Schwarze, lesbische Frau aus den Favelas, Sozialistin, Mutter… Das alles hat sie ins Parlament getragen und ist dann einem politischen Verbrechen zum Opfer gefallen. Das macht uns Angst, aber es fördert auch die Überzeugung, dass wir immer mehr Macht­räume besetzen müssen und werden. Denn wir sind die Mehrheit der Bevölkerung, wir, die Schwarzen Frauen* in Brasilien. Wir wollen mit der Macht anders umgehen, wir wollen sie kollektivieren, horizontaler ausrichten und sie dieser Bevölkerungsmehrheit zurückgeben.

Was hat sich geändert, seit Bolsonaro an der Macht ist?

Die brasilianische Demokratie ist sehr jung und unvollständig. Und sie ist nie wirklich in den Favelas, den ärmsten Gebieten des Landes, angekommen. Trotzdem wird diese Demokratie, die wir ausbauen und radikalisieren wollten, durch die Wahl von Bolsonaro gefährdet. Bolsonaro wurde gewählt, weil er sagte, dass er „einen toten Sohn einem schwulen Sohn“ vorziehen würde, weil er die Henker der Diktatur verherrlichte und Hassreden verbreitete. Das brasilianische Volk hat jemanden als Systemgegner angesehen, der in höchstem Masse Ausdruck des Systems ist. Die Linke hat nun die Aufgabe, wieder in die Stadtteile zu gehen und diesem Diskurs etwas entgegenzusetzen.

Die Regierung von Bolsonaro zeichnet sich vor allem durch drei Merkmale aus: Es handelt sich um eine neoliberale und eine äusserst autoritäre Regierung – sie hat die meisten Soldaten seit der Diktatur; und sie verbindet diese beiden Merkmale mit einer „Moral“, die auf religiösem Fundamentalismus fusst. In den ersten beiden Monaten lancierte die Regierung drei Hauptangriffe: das 20-jährige Einfrieren der Investitionen in Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe; ein Programm für Privatisierungen und für die Flexibilisierung des Arbeitsrechts; und das Bestreben, die Renten abzubauen (durch Anhebung des Rentenalters und Übergang zu einem privat finanzierten System).

Um die Ausweitung des Kapitals und des Privatsektors weiterhin zu ermöglichen und den Staat bezüglich der Rechte auf ein Minimum zu beschränken, baut Bolsonaro den repressiven Staat aus. In Brasilien werden jeden Tag 153 Menschen ermordet (das ist gleich viel, wie wenn jeden Tag eine Boeing 737 abstürzen würde). Mindestens ein Drittel davon wird vom Staat getötet. Jedes Jahr werden 30’000 junge Menschen ermordet, 77 Prozent von ihnen sind Schwarze Jugendliche. Der berühmte „Krieg gegen Drogen“ dient als Vorwand für den Genozid an der Schwarzen Bevölkerung Brasiliens. Unser Land weist im weltweiten Vergleich auch die drittgrösste Zahl an Gefängnisinsassen auf: über 700’000 Gefangene, von denen 40 Prozent noch auf den Prozess warten und 70 Prozent Schwarz sind. Die Massnahmen der Regierung Bolsonaro können diese Situation nur weiter verschlimmern. So zum Beispiel das neue „Antikriminalitätspaket“ von Minister Sergio Moro, der vorschlägt, die Morde der Polizei zu legalisieren, sodass keine Ermittlungen mehr nötig sind; oder der Vorschlag, für die Anführer der cuadras [Gangs] ein Regime für „maximale Sicherheit“ einzuführen, das schon vor der Verurteilung angewendet werden kann (bis zu 720 Tage Einzelhaft möglich). Jeder beliebige Aktivist könnte davon betroffen sein.

Hinzu kommt die Erweiterung des Antiterrorgesetzes. In Brasilien gibt es keinen Terrorismus, aber die sozialen Bewegungen werden als Terroristen betrachtet. Das alles in einem Land, in dem der Sohn des Präsidenten, der jetzt Senator ist, zehn Jahre lang Familienmitglieder von Paramilitärs in seinem Büro beschäftigte. Und das alles in einem der Länder der Welt, in denen die meisten Menschenrechtler*in­nen getötet werden.

Auch unter den Umweltaktivist*innen gibt es zahlreiche Opfer …

Ja, die meisten der ermordeten Aktivist*innen haben sich für Umweltgerechtigkeit, Ökologie und Landrechte eingesetzt. Und Bolsonaro hat sein Lager gewählt: Er steht auf der Seite der Vertreter*in­nen der Agrarindustrie. Kürzlich wurden 86 „agrotoxische Mittel“ wieder zugelassen, obwohl sie in Europa und den USA verboten sind. Das Landwirtschaftsministerium wird von einer Vertreterin der Agrarwirtschaft geleitet. Bolsonaro hat FUNAI [die nationale Behörde für die Angelegenheiten der indigenen Völker, Fundação Nacional do Índio] der Aufsicht dieses Ministeriums unterstellt. Und ein Vertreter des Bergbausektors leitet das Umweltministerium, jemand, dem sogar vorgeworfen wird, Karten so abzuändern, dass der Bergbau expandieren kann. Es wird sein, wie Bolsonaro während seines Wahlkampfs gesagt hat: „Für die Indigenen wird es kein Land mehr geben.“ Bolsonaro wird die Umweltvorschriften lockern und hat auch Consea [den Nationalen Rat für Ernährungssicherheit, Con­selho Nacional de Segurança Alimentar e Nutricional] aufgelöst, der sich mit agrarökologischen Fragen befasste und der Agrarlobby entgegentrat. Die Umweltpolitik von Bolsonaro ist eine Katastrophe, die in Zukunft wieder zu Tragödien führen könnte wie den Dammbrüchen von Mariana oder Brumadinho [mit über 300 Toten und Verschwundenen].

Wer gegen diese Missstände kämpft, begibt sich in Gefahr. Ein wichtiger Grund dafür ist das Projekt, das Waffentragen weniger streng zu handhaben. Landbesitzer werden schiessen und töten können, zum Beispiel wenn es zu Landbesetzungen durch indigene Bevölkerungsgruppen kommt.

Wie kann die internationale Solidarität mit den kämpfenden Menschen in Brasilien von Europa aus zum Tragen kommen?

Die brasilianische Demokratie befindet sich in Gefahr. Die internationale Solidarität ist sehr wichtig, damit wir unseren Widerstand fortsetzen können. Es ist wichtig, die üblen Taten der Regierung sichtbar zu machen und bei allen internationalen Organisationen dagegen zu protestieren. Es ist wichtig, dass die Menschen am 14. März auf die Strasse gehen, um Gerechtigkeit für Marielle Franco einzufordern. Denn solange dieses politische Verbrechen nicht verurteilt wird, kann es in Brasilien keine Demokratie geben. Und es ist wichtig, unseren Widerstand zu internationalisieren. Es gibt viele Aktivist*innen, die kämpfen, die auch in dieser Zeit auf die Strasse gehen, streiken; Mütter von ermordeten Jugendlichen, die demonstrieren und Gerechtigkeit fordern. Der Kampf geht weiter und er kann gar nicht anders als international sein!

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