Ausgehend von West Virginia streikten im Frühjahr 2018 in verschiedenen Bundesstaaten der USA Lehrer*innen und andere Angestellte im Bildungsbereich. Die Streikwelle breitete sich während dem ganzen Jahr 2018 weiter aus. Dana Blanchard ist ehemalige Lehrerin und Aktivistin der International Socialist Organisation (ISO). Sie hat die Streiks aktiv begleitet und verschiedene Artikel dazu geschrieben. Wir haben mit ihr gesprochen, um mehr über diesen Aufschwung der amerikanischen Arbeiterinnenbewegung und seine Hintergründe zu erfahren.
Interview mit Dana Blanchard. Die Fragen stellte Cedric Stucki (BFS Zürich). Dana Blanchard wird kommendes Wochenende auch am Anderen Davos 2019 teilnehmen.
Cedric Stucki: Im Laufe des Jahres 2018 streikten Arbeiter*innen im Bildungsbereich in verschiedenen Staaten. Wie kam es zu dieser Streikwelle? Sie begann in republikanisch dominierten Staaten. Warum wurde gerade in vermeintlich konservativen Staaten gestreikt?
Dana Blanchard: Zuerst möchte ich betonen, wie bahnbrechend diese Bildungsstreiks waren. Eine Rebellion in den „right-to-work“-Staaten (1), im Herzen der Trump-Länder, die durch Organisationsbemühungen in der Basis aufgebaut wurde, ist ein unglaubliches Modell für alle Menschen der Arbeiter*innenklasse in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus. Bei diesen Streiks geht es auch um so viel mehr als nur um Vertragskämpfe für höhere Löhne; sie sind zu einem Raum geworden, in dem über die falsche Priorisierung eines Systems gesprochen werden kann, das Milliarden für Waffen und Kriege und Pennys für das Wohlergehen von Kindern ausgibt.
In vielerlei Hinsicht waren diese Streiks eine Überraschung – selbst diejenigen von uns, die seit vielen Jahren in der Arbeiter*innenbewegung organisiert sind, haben sie nicht vorhergesagt und sicherlich nicht gedacht, dass sie an Orten beginnen würden, die bei den Wahlen 2016 für Trump gewählt haben. Aber die Rahmenbedingungen, die die Angriffe ausgelöst und die Flammen des Widerstandes angefacht haben, sind eigentlich schon lange vorhanden. Nach der Rezession wurden die Mittel für die öffentliche Bildung in den Staaten des Landes gekürzt. Die meisten dieser Kürzungen erfolgten auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene, wobei die Bundesmittel für das Bildungswesen mit etwa 10 Prozent konstant blieben. Republikanische Gouverneure und Parlamente, die darauf aus sind, Einkommens- und Unternehmenssteuern zu kürzen, haben die Schulkassen ausgeweitet. Ein Teil des Grundes, warum diese Streiks in den republikanisch geführten Staaten begannen, war, weil einige der brutalsten Kürzungen der Bildungsbudgets dort vorgenommen wurden. Dies führte zu massivem Lehrer*innenmangel, da die Menschen den Beruf verlassen, weil sie finanziell nicht überleben können oder weil sie über die Grenzen in andere Staaten ziehen, wo sie in der Lage sein könnten, mehr als öffentliche Erzieher*innen zu verdienen.
Aber die Republikaner*innen waren nicht allein: Demokrat*innen haben sich enthusiastisch in gemeinsamen Angriffen auf die Finanzierung für Schulen und öffentliche Dienstleistungen über dem Land angeschlossen. Gemeinsam haben sie ein parteiübergreifendes Programm des Neoliberalismus in der öffentlichen Bildung durchgesetzt – Privatisierung, Deregulierung und tiefe Einschnitte in staatliche Programme sowie die Verlagerung öffentlicher Gelder an privat geführte Charter-Schulen.
Je nach dem, wo sie wohnen, ist es ist für die meisten Lehrer*innenhaushalte mit ihrem Gehalt nicht möglich, eine Familie oder sogar eine Einzelperson zu unterstützen. Viele Beschäftigte im öffentlichen Bildungswesen haben mehrere Nebenjobs, um über die Runden zu kommen und Studierendenkredite zurückzuzahlen, die über Jahre in der Hochschulbildung angesammelt wurden, welche für die Zertifizierung notwendig ist. Die Anzahl der Barkeeper, Uber-Fahrer*innen, Kellner*innen, Nachhilfelehrer*innen und mehr, die auch Lehrer*innen öffentlicher Schulen sind, ist erstaunlich.
Jahrzehntelange überparteiliche, neoliberale Umstrukturierungen des öffentlichen Bildungswesens sowohl in den „roten“ (republikanischen) als auch in den „blauen“ (demokratischen) Staaten haben bisher zu Lähmungen bei Lehrer*innen und Arbeiter*innen im öffentlichen Sektor geführt. Aber diese Bedingungen haben auch ein unter der Oberfläche brodelndes Feuer der Wut bei den Arbeiter*innen der öffentlichen Bildung sowie Schüler*innen, Eltern und ganzen Arbeiter*innengemeinschaften entfacht. Dieser Zorn kann nur so lange eingedämmt werden, bis er im Widerstand nach vorne bricht. So schätze ich, dass die Frage nicht lauten sollte ob, sondern wann die Lehrer*innen aufstehen und sich wehren werden.
Auch in anderen Bereichen – z.B. bei McDonalds oder den Luxushotels in Chicago – gab es Arbeitskämpfe. Spannend ist, dass arbeitende Frauen* in all diesen Kämpfen eine zentrale Rolle gespielt haben. Erleben wir eine militante und feministische Erneuerung der US-Arbeiter*innenbewegung? Inwiefern spielt das Konzept der Intersektionalität in diesen Kämpfen eine Rolle?
Ich konnte in diesem Herbst an dem erstaunlichen Kampf der Hotelangestellten in Chicago teilnehmen, indem ich ihre Streikposten in der ganzen Stadt unterstützte. Die Streiks, die im September in Chicago begannen und sich seitdem über die Staaten ausbreiteten, entwickelten sich nicht in einem luftleeren Raum. Sie folgen der Rebellion der Lehrer*innen im vergangenen Frühjahr, die die Politik des Klassenkampfes und die Macht der Streikwaffe wieder in unser Alltagsvokabular eingeführt haben.
Am wichtigsten ist, dass wir den Streik der Hotelarbeiter*innen oder die Streiks der Lehrer*innen oder die Kämpfe der McDonald’s-Arbeiter*innen nicht von den sozialen Bewegungen trennen können, die die Strukturen der Unterdrückung herausfordern. Als die #MeToo-Bewegung in Hollywood gerade erst in gang kam, gewannen die Hotelangestellten bereits die „Hands Off, Pants On“-Verordnung in Chicago, die von den Chicagoer Hotels verlangt, Haushälter*innen, die allein arbeiten, mit Panikknöpfen zu versorgen, unter anderem zum Schutz vor sexuellem Missbrauch und Belästigung. Der Gewinn der „Hands Off, Pants On“-Verordnung, vielleicht einer der ersten #MeToo-Siege, „schickte eine dringend benötigte Botschaft an Frauen* im Gastgewerbe, dass wir gesehen und gehört werden“, sagte eine Arbeiterin. Wir können die Kraft dieser Botschaft nicht unterschätzen – dass Frauen* gesehen und gehört werden und ihnen geglaubt wird – um Einheit und Vertrauen unter diesen Arbeiter*innen aufzubauen, die an diesem beispiellosen Streik beteiligt waren.
Was die Streiks der Lehrer*innen betrifft, so können wir nicht ignorieren, dass Frauen* diesen historischen Kampf geführt haben und dass Unterrichten ein Beruf ist, der von weiblichen Arbeiter*innen dominiert wird. 77% der Lehrer*innen an öffentlichen Schulen bezeichnen sich als Frauen.
Während ich auf der Strasse unterwegs war, hörte ich sowohl Hotelangestellte als auch Lehrer*innen sagen, dass man die Ausbeutung von Arbeiter*innen nicht bekämpfen kann, ohne Strukturen der Unterdrückung zu bekämpfen, und dass man Unterdrückung nicht bekämpfen kann, ohne die Ausbeutung zu bekämpfen und unsere Macht als Arbeiter*innen einzusetzen. Es ist auch klar, dass die Arbeiter*innenklasse multiethnisch, weiblich und queer ist, trotz all der Bilder, die uns von weissen Männern am Fliessband gezeigt wurden. Der Kampf der Arbeiter*innen in Amerika ist in seinem Kern intersektional.
Aber die Verbindungen, die Überschneidungen, hören nicht nur mit dem Kampf der Arbeiter*innen auf. Wenn #MeToo eine Frage der Arbeit*innenrechte ist, ist „Black Lives Matter“ sowohl eine Frage von „racial justice“, als auch eine Frage der Arbeit*innenrechte. Schwarze Frauen* waren die Anführer*innen der Hotelstreiks und der Lehrer*innenstreiks. Wenn Arbeiter*innenrechte ein #MeToo-Problem und ein „Black Lives Matter“-Problem sind, sind sie auch ein #AbolishICE-Problem (2), ein Problem der Immigrant*innenjustiz und so weiter. Die Zusammenhänge zwischen dem Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind zu zahlreich, um sie hier aufzulisten, aber die Streiks zeigen, wie organisch die Menschen an mehreren Fronten gleichzeitig zurückschlagen.
Solidarität ist der Dreh- und Angelpunkt. Solidarität gegen alle Unterdrückungen: Die Solidarität der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen in anderen Sektoren – Elektriker*innen, Sanitärarbeiter*innen, Maler*innen, Caterer, UPS-Fahrer*innen – die sich alle weigerten, die Streikpostenketten bei den Hotels zu überqueren, und die Solidarität ganzer Gemeinschaften von Arbeiter*innen, die die Streiks der Lehrer*innen unterstützten und halfen, Kinder zu ernähren und zu versorgen, als die Schulen in mehreren Staaten geschlossen wurden.
Es ist auch wahr, dass sich alle Unterdrückungen nicht nur überschneiden, sondern letztlich auch alle der gleichen herrschenden Klasse und ihrem rassistischen, sexistischen, homophoben, transphoben und imperialistischen System zugutekommen. So ist ein Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung an einem Ort ein Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung überall. Und was jetzt geschieht, ist ein Sieg durch einem Streik, der die Voraussetzungen für weitere Siege in weiteren Streiks schafft. Und so können wir meiner Meinung nach beginnen, unsere Welt zu verändern – was im Februar letzten Jahres mit Bildungsarbeiter*innen in West Virginia begann, ist zu einer wachsenden Streikwelle geworden, die sich über Sektoren und Staaten erstreckt hat, und ich hoffe, dass dies wirklich nur der Anfang ist.
1 „Right-to-work“ bezeichnet nicht etwa das Recht von Lohnabhängigen auf Arbeit, sondern damit sind antigewerkschaftliche Gesetze gemeint, die in 27 US-Staaten die Rechte auf gewerkschaftliche Organisierung und der Gewerkschaften einschränken.
2 ICE (US Immigration and Customs Enforcement) ist eine Polizei- und Zollbehörde die u.a. für Migrant*innen zuständig ist. Im Sommer 2018 stand sie unter Kritik, weil sie tausende Menschen unter miserablen Bedingungen in Ausschaffungsknästen wegsperrte und dabei u.a. auch Kleinkinder von ihren Eltern trennte.