Am 8. Dezember 2024 wurde Damaskus nach 61 Jahren unter der Ba’ath-Parteidiktatur, zuletzt von Bashar al-Assad und zuvor von seinem Vater Hafez al-Assad geführt, erobert und zur befreiten Stadt erklärt. Der jähe Sturz des autoritären Regimes warf sofort Fragen auf: Welche Interessen verfolgen die Organisationen, deren Kürzel die Berichterstattung prägen? Wie konnte ein scheinbar so stabiles System derart plötzlich kollabieren? Joseph Daher, linker Aktivist und Autor von „Syria after the Uprisings: The Political Economy of State Resilience“, versucht die Fologen, Ursachen und Rückschlüsse, welche der Sturz des autoritären Assad-Regimes erlaubt, zu erörtern: für das Autonomieprojekt in Nord- und Ostsyrien, die Machtspiele internationaler und regionaler Imperialmächte, islamistische Ambitionen auf politische Macht und für nachhaltigen Frieden und Demokratie. (Red.)
Interview mit Joseph Daher; aus Tempest
Eines muss vorab klar sein: Das vermeintlich von Assad stabilisierte Syrien, das Neostalinist:innen so oft verklärten und nun betrauern, und in dessen vermeintliche Sicherheit Rechtsextreme syrischstämmige Geflüchtete schon lange zurückschicken wollten, hat so nie existiert. Der Waffenstillstand von 2020 bedeutete kein Ende des Konflikts, sondern lediglich die Kontigentierung der Konfliktparteien in vier hauptsächliche voneinander getrennte Herrschaftsbereiche.
Das Assad-Restregime im syrischen Zentrum um Homs, Hama und Aleppo. Den Nordwesten um die Stadt Idlib unter der islamistischen HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham), die allerdings auch ein Zufluchtsort für viele Oppositionelle wurde, die vor den Bomben Putins und Assads oder syrischen Geheimdienste geflohen waren. Dass islamistische Organisationen im syrischen Bürgerkrieg, der als Angriff der Assad-Diktatur gegen eine Demokratiebewegung begonnen hatte, überhaupt derart dominant werden konnten, ist zu grossen Teilen auf die Unterstützung durch Qatar, der Türkei und Saudi Arabien zurückzuführen. Die multiethnische und basisdemokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES), verteidigt von den Syrian Democratic Forces (SDF). Und die Gebiete entlang der türkischen Grenze, die von der türkisch beeinflussten und finanzierten Syrian National Army (SNA) kontrolliert werden – einer Koalition aus syrischen Islamist:innen, diversen syrischen Oppositionellen, Deserteur:innen aus Assads Armee und Söldner:innen.
Doch unter dieser „eingefrorenen“ Fassade brodelte der innersyrische Krieg unvermindert weiter. Seit 2016 startete das türkische Regime vier Offensiven in kurdisch geprägte syrische Regionen, unterstützt von der SNA, um die SDF westlich des Euphrats zu verdrängen. Dabei wurden etliche Menschenrechtsverletzungen an Zivilist:innen begangen, darunter in Afrin. Auch während der jüngsten Ereignisse, die schliesslich das Assad-Regime zu Fall brachten, setzte die SNA ihre Angriffe auf Grenzgebiete der DAANES unvermindert fort. Die SNA hat per 10. Dezember 2024 die Stadt Minbij erobert sowie zahlreiche Verbrechen und Morde begangen – bspw. die Hinrichtung unbewaffneter Verwundeter in einem Krankenhaus.
Im Herrschaftsbereich Assads verschlangen seit 2020 Selbstbereicherung sowie Instandhaltung von Ünterdrückungsapparat und Loyalitäten nahezu alle Ressourcen, weswegen die Bevölkerung trotz relativer Waffenrufe immer weiter in Armut versank. In einem Krieg, der als Niederschlagung seitens Ba’ath-Partei gegen die demokratiedurstige Bevölkerung begonnen hatte, konnte das Assad’sche Restregime im Oktober 2023 nicht anders, als erneut Idlib zu bombardieren. In der Folge marschierte die HTS Richtung westliches Umland Aleppos. Aufgrund des Wegfalls von Assads Schutzmacht Russland, dessen Kapazitäten ganz von seiner Invasion der Ukraine absobiert scheinen, konnte die HTS praktisch ohne nennenswerten Widerstand bis nach Homs, und schliesslich nach Damaskus vorrücken, wo sie mit anderen Regimegegnern zum Sturz Assads beitrugen.
So fiel das Ba’ath-Regime nach über 61 Jahren doch noch. Doch das Ende der Parteidiktatur hat die Instabilität nicht gebannt: Wird Syrien eine Demokratie hervorbringen, die die Ideale des syrischen Frühlings von 2011 vollendet? Joseph Daher versucht diese Weggabelung, an der Syrien nun steht, zu durchleuchten. (Red.)
Tempest: Wie geht es den Menschen in Syrien nach dem Sturz des Regimes?
Joseph Daher: Die Freude ist unbeschreiblich – ein historischer Tag. 54 Jahre Tyrannei der Familie Assad sind vorbei. Wir haben Videos von Volksdemonstrationen im ganzen Land gesehen, von Damaskus, Tartus, Homs, Hama, Aleppo, Qamichli, Suwaida usw. aller religiösen und ethnischen Gruppen, die Statuen und Symbole der Assad-Familie zerstörten.
Und natürlich ist die Freude über die Befreiung politischer Gefangener aus den Gefängnissen des Regimes groß, insbesondere aus dem Sednaya-Gefängnis, das als »menschliches Schlachthaus« bekannt ist und in dem 10.000-20.000 Gefangene untergebracht werden konnten. Einige von ihnen waren seit den 1980er Jahren inhaftiert. Ebenso konnten Menschen, die 2016 oder früher aus Aleppo und anderen Städten vertrieben worden waren, in ihre Häuser und Stadtviertel zurückkehren und ihre Familien zum ersten Mal seit Jahren wiedersehen.
Gleichzeitig waren die Reaktionen der Bevölkerung in den ersten Tagen nach der Militäroffensive zunächst gemischt und spiegelten die Vielfalt der politischen Meinungen in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes wider. Einige Teile waren sehr froh über die Eroberung dieser Gebiete und die Schwächung des Regimes.
Einige Teile der Bevölkerung hatten und haben jedoch auch Angst vor HTS und SNA. Sie sind besorgt über den autoritären und reaktionären Charakter dieser Kräfte und ihres politischen Projekts.
Und einige sind besorgt darüber, was in der neuen Situation geschehen wird. Insbesondere weite Teile der Kurd:innen, aber auch andere, freuen sich zwar über den Sturz der Assad-Diktatur, verurteilen aber die Zwangsumsiedlungen und Ermordungen von Menschen durch die SNA.
Kannst du uns die Abfolge der Ereignisse schildern, insbesondere den Vormarsch der Rebellen, die Assads Streitkräfte besiegten und zu seinem Sturz führten?
Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) und die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) starteten am 27. November 2024 eine Offensive gegen die Streitkräfte des syrischen Regimes und erzielten dabei erstaunliche Siege. In weniger als einer Woche übernahmen HTS und SNA die Kontrolle über den größten Teil der Gouvernements Aleppo und Idlib. Dann fiel die 210 Kilometer nördlich von Damaskus gelegene Stadt Hama nach heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den von der russischen Luftwaffe unterstützten Regimetruppen in die Hände von HTS und SNA. Nach Hama übernahm die HTS die Kontrolle über Homs.
Das syrische Regime schickte zunächst Verstärkung nach Hama und Homs und bombardierte dann mit Unterstützung der russischen Luftwaffe die Städte Idlib und Aleppo sowie deren Umgebung. Am 1. und 2. Dezember wurden mehr als 50 Luftangriffe auf Idlib geflogen, wobei mindestens vier Gesundheitseinrichtungen, vier Schulen, zwei Vertriebenenlager und eine Wasserstation getroffen wurden. Durch die Luftangriffe wurden mehr als 48.000 Menschen vertrieben und die Versorgung und die Bereitstellung von Hilfsgütern stark beeinträchtigt. Der Diktator Bashar al-Assad hatte seinen Feinden eine Niederlage versprochen und erklärt, dass «der Terrorismus nur den Diskurs der Gewalt versteht». Doch sein Regime bröckelte bereits an allen Enden.
Während das Regime eine Stadt nach der anderen verlor, befreiten sich die südlichen Gouvernements Suweida und Daraa selbst; ihre bewaffneten Volks- und lokalen Oppositionskräfte, die sich von HTS und SNA unterscheiden, übernahmen die Kontrolle. Die Streitkräfte des Regimes zogen sich daraufhin aus Orten zurück, die etwa zehn Kilometer von Damaskus entfernt lagen, und gaben ihre Stellungen in der Provinz Quneitra auf, die an die von Israel besetzten Golanhöhen grenzt.
«Als sich verschiedene bewaffnete Kräfte der Opposition, wiederum weder die HTS noch die SNA, der Hauptstadt Damaskus näherten, zerbrachen die Streitkräfte des Regimes und zogen sich zurück, während sich die Demonstrationen und die Verbrennung aller Symbole von Bashar al-Assad in den verschiedenen Vororten von Damaskus häuften.»
Als sich verschiedene bewaffnete Kräfte der Opposition, wiederum weder die HTS noch die SNA, der Hauptstadt Damaskus näherten, zerbrachen die Streitkräfte des Regimes und zogen sich zurück, während sich die Demonstrationen und die Verbrennung aller Symbole von Bashar al-Assad in den verschiedenen Vororten von Damaskus häuften. In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember wurde bekannt gegeben, dass Damaskus befreit wurde. Das genaue Schicksal und der Aufenthaltsort von Bashar al-Assad waren zunächst unbekannt, aber einige Informationen deuteten bereits darauf hin, dass er sich in Russland unter dem Schutz Moskaus aufhielt.
Das Regime brach aufgrund seiner militärischen, wirtschaftlichen und politischen Schwächen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Sturz des Regimes bewies seine strukturelle Schwäche, militärisch, wirtschaftlich und politisch. Es brach zusammen wie ein Kartenhaus. Dies ist kaum verwunderlich, denn es schien klar, dass die Soldaten angesichts ihrer schlechten Bezahlung und Bedingungen nicht für das Assad-Regime kämpfen würden. Sie zogen es vor, zu fliehen oder einfach nicht zu kämpfen, anstatt ein Regime zu verteidigen, für das sie nur wenig Sympathie hegen, zumal viele von ihnen zwangsrekrutiert worden waren.
Neben diesen Dynamiken im Süden sind seit Beginn der Offensive der Rebellen weitere bedeutende Entwicklungen in verschiedenen Teilen des Landes aufgetreten. Zunächst führte die SNA Angriffe auf Gebiete, die von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) im Norden Aleppos kontrolliert werden, und kündigte dann den Beginn einer neuen Offensive gegen die nördliche Stadt Manbij an, die sich unter der Herrschaft der SDF befindet. Am Sonntag, den 8. Dezember, rückte die SNA mit Unterstützung der türkischen Armee, Luftwaffe und Artillerie in die Stadt ein.
Zweitens haben die SDF den größten Teil des Gouvernements Deir-ez-Zor erobert, das zuvor von syrischen Regimetruppen und pro-iranischen Milizen kontrolliert wurde, nachdem diese sich zurückgezogen hatten, um in anderen Gebieten gegen HTS und SNA zu kämpfen. Die SDF dehnten daraufhin ihre Kontrolle über weite Teile des Nordostens aus, die zuvor unter der Herrschaft des Regimes standen.
Wer sind die Rebellenkräfte und insbesondere die wichtigsten Rebellenformationen HTS und SNA? Was ist ihre Politik, was ihr Programm? Welche Ziele verfolgen sie? Und wie steht die Masse der Bevölkerung zu ihnen?
Die erfolgreiche Eroberung von Aleppo, Hama, Homs und anderen Gebieten in einer von der HTS geführten Militäroffensive spiegelt in vielerlei Hinsicht die Entwicklung dieser Bewegung über mehrere Jahre hinweg zu einer disziplinierten und besser strukturierten Organisation wider, sowohl politisch als auch militärisch. Sie kann jetzt Drohnen herstellen und unterhält eine Militärakademie. In den letzten Jahren konnte die HTS ihre Hegemonie über einige militärische Gruppen sowohl durch Unterdrückung als auch durch Einbeziehung ausüben. Auf der Grundlage dieser Entwicklungen hat sie sich in die Lage versetzt, diesen Angriff zu starten.
Sie ist in den von ihr kontrollierten Gebieten zu einem quasi-staatlichen Akteur geworden. Sie hat eine Regierung, die Syrian Salvation Government (SSG), eingesetzt, die als zivile Verwaltung der HTS fungiert und Dienstleistungen erbringt. Die HTS und die SSG waren in den letzten Jahren eindeutig bemüht, sich gegenüber regionalen und internationalen Mächten als rationale Kraft zu präsentieren, um ihre Herrschaft zu normalisieren. Dies hat insbesondere dazu geführt, dass einige NGOs in Schlüsselbereichen wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen, in denen es dem SSG an finanziellen Mitteln und Fachwissen mangelt, mehr und mehr Raum für ihre Tätigkeit erhalten haben.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in den von der SSG beherrschten Gebieten keine Korruption gibt. Die SSG hat ihre Herrschaft durch autoritäre Maßnahmen und Polizeiarbeit durchgesetzt. Die HTS hat insbesondere Aktivitäten unterdrückt oder eingeschränkt, die ihrer Meinung nach im Widerspruch zu ihrer Ideologie stehen. So hat die HTS beispielsweise mehrere Projekte zur Unterstützung von Frauen, insbesondere von Bewohnerinnen der Flüchtlingscamps, unter dem Vorwand gestoppt, dass diese Ideen der Gleichstellung der Geschlechter kultivierten, die ihrer Herrschaft feindlich gegenüberstünden. Die HTS hat auch politische Gegner, Journalisten, Aktivisten und Personen, die sie als Kritiker oder Gegner ansieht, ins Visier genommen und festgenommen.
Wer ist die HTS?
Die HTS, die von vielen Mächten, einschließlich der USA, nach wie vor als terroristische Organisation eingestuft wird, hat auch versucht, ein gemäßigteres Bild von sich zu vermitteln, um die Anerkennung als rationaler und verantwortungsbewusster Akteur zu gewinnen. Diese Entwicklung geht auf den Abbruch ihrer Verbindungen zu Al-Qaida im Jahr 2016 und die Neuausrichtung ihrer politischen Ziele im Rahmen des syrischen Staates zurück. Außerdem hat sie Personen und Gruppen, die mit Al-Qaida und dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen, unterdrückt.
Im Februar 2021 erklärte ihr Anführer Abu Mohammad al-Jolani oder Ahmed al-Sharaa (sein richtiger Name) in seinem ersten Interview mit einem US-Journalisten, dass die von ihm kontrollierte Region »keine Bedrohung für die Sicherheit Europas und Amerikas« darstelle und dass die von ihm beherrschten Gebiete nicht zu einer Basis für Operationen im Ausland würden.
Bei diesem Versuch, sich als legitimer Gesprächspartner auf der internationalen Bühne zu definieren, betonte er die Rolle der Gruppe im Kampf gegen den Terrorismus. Im Rahmen dieser Neuausrichtung hat die HTS in einigen Gebieten die Rückkehr von Christen und Drusen zugelassen und Kontakte zu einigen Führern dieser Gemeinschaften aufgenommen.
Nach der Einnahme von Aleppo präsentierte sich die HTS weiterhin als verantwortungsvoller Akteur. So posteten HTS-Kämpfer sofort Videos vor Banken, in denen sie versicherten, dass sie Privateigentum und Vermögenswerte schützen wollten. Sie versprachen auch, Zivilist:innen und religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, zu schützen, da sie wissen, dass das Schicksal dieser Gemeinschaften im Ausland genau beobachtet wird.
Zudem hat die HTS zahlreiche Erklärungen abgegeben, in denen sie einen ähnlichen Schutz für Kurden und islamische Minderheiten wie Ismaeliten und Drusen verspricht. Sie gab auch eine Erklärung zu den Alawiten ab, in der sie zum Bruch mit dem Regime aufrief, ohne jedoch anzudeuten, dass die HTS sie schützen würde, oder sich klar über ihre Zukunft zu äußern. In dieser Erklärung bezeichnet die HTS die alawitische Gemeinschaft als ein Instrument des Regimes gegen das syrische Volk.
Schließlich hat der Anführer der HTS, Abu Mohammed al-Jolani, erklärt, dass die Stadt Aleppo von einer lokalen Behörde verwaltet werden wird und dass sich alle militärischen Kräfte, einschließlich derjenigen der HTS, in den kommenden Wochen vollständig aus der Stadt zurückziehen werden. Es ist klar, dass al-Jolani aktiv mit lokalen, regionalen und internationalen Kräften zusammenarbeiten will.
«In den letzten Jahren kam es in Idlib zu zahlreichen Demonstrationen gegen die Herrschaft der HTS und gegen Verletzungen der politischen Freiheiten und der Menschenrechte, einschließlich Ermordungen und Folterungen von Gegner:innen»
Es ist jedoch noch offen, ob die HTS diese Erklärungen in die Tat umsetzen wird. Sie ist eine autoritäre und reaktionäre Organisation mit einer islamisch-fundamentalistischen Ideologie, die immer noch ausländische Kämpfer in ihren Reihen hat. In den letzten Jahren kam es in Idlib zu zahlreichen Demonstrationen gegen die Herrschaft der HTS und gegen Verletzungen der politischen Freiheiten und der Menschenrechte, einschließlich Ermordungen und Folterungen von Gegner:innen.
Es reicht nicht aus, religiöse oder ethnische Minderheiten zu tolerieren oder ihnen das Beten zu erlauben. Entscheidend ist, dass ihre Rechte als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden, die über die Zukunft des Landes mitbestimmen. Generell sind Äußerungen des HTS-Chefs al-Jolani wie »Menschen, die sich vor der islamischen Staatsführung fürchten, haben entweder gesehen, wie sie falsch umgesetzt wird, oder sie verstehen sie nicht richtig«, definitiv nicht beruhigend, ganz im Gegenteil.
Wer ist die SNA?
Bei der von der Türkei unterstützten SNA handelt es sich um eine Koalition bewaffneter Gruppen mit überwiegend islamisch-konservativer Politik. Sie hat einen sehr schlechten Ruf und macht sich zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig, insbesondere gegenüber der kurdischen Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten. Sie haben sich insbesondere an der türkisch geführten Militärkampagne zur Besetzung von Afrin im Jahr 2018 beteiligt, die zur Zwangsvertreibung von rund 150.000 Zivilist:innen führte, von denen die große Mehrheit Kurden waren.
Auch in der aktuellen Militärkampagne dient die SNA hauptsächlich türkischen Zielen, indem sie Gebiete angreift, die von den kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF) kontrolliert werden und in denen große kurdische Bevölkerungsgruppen leben. So hat die SNA beispielsweise die Stadt Tal Rifaat und das Gebiet Shahba im Norden Aleppos erobert, die zuvor unter der Kontrolle der SDF standen. Dies führte zur Zwangsvertreibung von mehr als 150.000 Zivilisten und zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen an kurdischen Personen, darunter Ermordungen und Entführungen. Die SNA kündigte daraufhin eine von der türkischen Armee unterstützte Militäroffensive auf die von den SDF kontrollierte Stadt Manbij an, in der 100.000 Zivilist:innen leben.
Es gibt also Unterschiede zwischen der HTS und der SNA. Die HTS ist relativ unabhängig von der Türkei, im Gegensatz zur SNA, die von der Türkei kontrolliert wird und deren Interessen dient. Die beiden Kräfte unterscheiden sich voneinander, verfolgen unterschiedliche Ziele und haben Konflikte untereinander, auch wenn diese im Moment noch unter der Decke gehalten werden. So strebt die HTS derzeit keine Konfrontation mit den SDF an. Darüber hinaus veröffentlichte die SNA eine kritische Erklärung gegen die HTS wegen ihres »aggressiven Verhaltens« gegenüber SNA-Mitgliedern, während die HTS Berichten zufolge SNA-Kämpfer für Plünderungen verantwortlich machte.
Für viele, die die Entwicklung in Syrien nicht verfolgt haben, kam all dies aus heiterem Himmel. Was sind die Wurzeln dieser Situation in der syrischen Revolution, Konterrevolution und im Bürgerkrieg? Was ist in der letzten Zeit innerhalb des Landes geschehen, das die Militäroffensive ausgelöst hat? Welche regionalen und internationalen Dynamiken haben dem Vormarsch der Rebellen Raum gegeben?
Ursprünglich startete die HTS die Militäroffensive als Reaktion auf die Eskalation der Angriffe und Bombardierungen ihres nordwestlichen Gebiets durch das Assad-Regime und Russland. Ihr Ziel war es auch, Gebiete zurückzuerobern, die das Regime erobert hatte, und damit gegen die Einhaltung der Deeskalationszonen zu verstoßen, die in einem von Moskau und Teheran ausgehandelten Abkommen vom März 2020 vereinbart worden waren. Nach ihrem überraschenden Erfolg weiteten sie jedoch ihre Ambitionen aus und riefen offen zum Sturz des Regimes auf, was sie und andere nun erreicht haben.
Was für eine Rolle spielen Russland und der Iran?
Die HTS und die SNA waren so erfolgreich, weil sie die wichtigsten Verbündeten des Regimes schwächten. Russland, Assads wichtigster internationaler Sponsor, hat seine Kräfte und Ressourcen in seinen imperialistischen Krieg gegen die Ukraine umgeleitet. Infolgedessen war sein Engagement in Syrien deutlich geringer als bei ähnlichen Militäroperationen in den vergangenen Jahren.
Seine beiden anderen wichtigen Verbündeten, die libanesische Hisbollah und der Iran, wurden von Israel seit dem 7. Oktober 2023 dramatisch geschwächt. Tel Aviv hat die Führung der Hisbollah, einschließlich Hassan Nasrallah, ermordet, ihre Kader mit Pager-Angriffen dezimiert und ihre Streitkräfte im Libanon bombardiert. Die Hisbollah steht definitiv vor ihrer größten Herausforderung seit ihrer Gründung. Israel hat auch eine Reihe von Angriffen auf den Iran durchgeführt und dessen Schwachstellen aufgedeckt. In den letzten Monaten hat es auch die Bombardierung iranischer und Hisbollah-Stellungen in Syrien verstärkt.
Da ihre wichtigsten Unterstützer beschäftigt und geschwächt waren, befand sich die Diktatur Assads in einer verwundbaren Position. Aufgrund all ihrer strukturellen Schwächen, der mangelnden Unterstützung durch die von ihr beherrschte Bevölkerung, der Unzuverlässigkeit ihrer eigenen Truppen und der fehlenden internationalen und regionalen Unterstützung erwies sie sich als unfähig, dem Vormarsch der Rebellen standzuhalten, und ihre Herrschaft über eine Stadt nach der anderen ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.
Wie haben die Verbündeten des Regimes zunächst reagiert? Was sind ihre Interessen in Syrien?
Sowohl Russland als auch der Iran haben zunächst zugesagt, das Regime zu unterstützen, und es auch unter Druck gesetzt, die HTS und die SNA zu bekämpfen. In den ersten Tagen der Offensive rief Russland das syrische Regime auf, sich zusammenzureißen und »Ordnung in Aleppo zu schaffen«, was darauf hindeutet, dass es auf einen Gegenangriff von Damaskus hoffte.
Der Iran rief angesichts dieser Offensive zur »Koordination« mit Moskau auf. Er hat behauptet, dass die USA und Israel hinter der Offensive der Rebellen stehen, um das Land zu destabilisieren und die Aufmerksamkeit von Israels Krieg in Palästina und im Libanon abzulenken. Iranische Beamte erklärten ihre volle Unterstützung für das syrische Regime und bekräftigten ihre Absicht, die Präsenz ihrer »Militärberater« in Syrien zur Unterstützung der syrischen Armee aufrechtzuerhalten und sogar zu verstärken. Teheran versprach außerdem, dem syrischen Regime Raketen und Drohnen zu liefern und sogar eigene Truppen zu entsenden.
«Für den Iran ist Syrien entscheidend für den Waffentransfer an die Hisbollah und die logistische Koordination mit ihr. Der russische Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in der syrischen Provinz Latakia und die Marineeinrichtung in Tartous an der Küste waren für Russland wichtige Standorte, um sein geopolitisches Gewicht im Nahen Osten, im Mittelmeerraum und in Afrika zu behaupten.»
Dies hat jedoch eindeutig nicht funktioniert. Trotz der russischen Bombardierung von Gebieten außerhalb der Kontrolle des Regimes wurde der Vormarsch der Rebellen nicht gebremst.
Beide Mächte haben in Syrien viel zu verlieren. Für den Iran ist Syrien entscheidend für den Waffentransfer an die Hisbollah und die logistische Koordination mit ihr. Vor dem Sturz des Regimes wurde sogar gemunkelt, dass die libanesische Partei eine kleine Anzahl von »Aufsichtskräften« nach Homs entsandt hat, um die militärischen Kräfte des Regimes zu unterstützen und 2000 Soldaten in der Stadt Qusayr, einer ihrer Hochburgen in Syrien nahe der Grenze zum Libanon, zu stationieren, um sie im Falle eines Angriffs der Rebellen zu verteidigen. Als das Regime fiel, zog sie ihre Truppen zurück.
Der russische Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in der syrischen Provinz Latakia und die Marineeinrichtung in Tartous an der Küste waren für Russland wichtige Standorte, um sein geopolitisches Gewicht im Nahen Osten, im Mittelmeerraum und in Afrika zu behaupten. Der Verlust dieser Stützpunkte würde Russlands Status untergraben, da seine Intervention in Syrien als Beispiel dafür diente, wie Russland militärische Gewalt einsetzen kann, um Ereignisse außerhalb seiner Grenzen zu beeinflussen und mit westlichen Staaten zu konkurrieren.
Welche Rolle haben andere regionale und imperiale Mächte, insbesondere die Türkei, Israel und die USA, gespielt? Welche Ambitionen verfolgen sie in dieser Situation?
Trotz der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien war Ankara zunehmend frustriert über Damaskus. Daher hat es die Militäroffensive gefördert oder zumindest grünes Licht dafür gegeben und sie auf die eine oder andere Weise unterstützt. Ankaras Ziel war es zunächst, seine Position bei künftigen Verhandlungen mit dem syrischen Regime, aber auch mit Iran und Russland zu verbessern.
Jetzt, nach dem Sturz des Regimes, ist der Einfluss der Türkei in Syrien noch größer geworden und macht sie wahrscheinlich zum wichtigsten regionalen Akteur im Land. Ankara versucht auch, die SNA zu nutzen, um die SDF zu schwächen, die vom bewaffneten Flügel der kurdischen Partei PYD [dt.: Partei der Demokratischen Union, Anm. d. R.] dominiert wird, einer Schwesterorganisation der türkischen Kurdenpartei PKK, die von Ankara, den USA und der EU als terroristisch eingestuft wird.
Die Türkei verfolgt zwei weitere Hauptziele: Erstens will sie die zwangsweise Rückführung syrischer Flüchtlinge in der Türkei nach Syrien durchsetzen. Zweitens will sie die kurdischen Autonomiebestrebungen vereiteln und insbesondere die von Kurden geführte Verwaltung im Nordosten Syriens, die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES, auch Rojava genannt), untergraben, die einen Präzedenzfall für die kurdische Selbstbestimmung in der Türkei schaffen würde, was eine Bedrohung für das Regime in seiner jetzigen Form darstellt.
Weder die USA noch Israel hatten bei diesen Ereignissen ihre Hand im Spiel. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die USA waren besorgt, dass der Sturz des Regimes zu mehr Instabilität in der Region führen könnte. US-Beamte erklärten zunächst, dass «die anhaltende Weigerung des Assad-Regimes, sich auf den in der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats dargelegten politischen Prozess einzulassen, und seine Abhängigkeit von Russland und dem Iran die Bedingungen geschaffen haben, die sich jetzt entfalten, einschließlich des Zusammenbruchs der Linien des Assad-Regimes im Nordwesten Syriens».
«Weder die USA noch Israel hatten bei diesen Ereignissen ihre Hand im Spiel. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die USA waren besorgt, dass der Sturz des Regimes zu mehr Instabilität in der Region führen könnte»
Sie erklärte außerdem, dass sie »nichts mit dieser Offensive zu tun haben, die von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), einer als terroristisch eingestuften Organisation, geführt wird«. Nach einem Besuch in der Türkei rief Außenminister Antony Blinken zur Deeskalation in Syrien auf. Nach dem Sturz des Regimes erklärten US-Beamte, dass sie ihre Präsenz in Ostsyrien, etwa 900 Soldaten, aufrechterhalten und die notwendigen Maßnahmen ergreifen werden, um ein Wiederaufleben des »Islamischen Staates« zu verhindern.
Israelische Beamte erklärten ihrerseits, dass der «Zusammenbruch des Assad-Regimes wahrscheinlich zu Chaos führen würde, in dem sich militärische Bedrohungen gegen Israel entwickeln würden». Außerdem hat Israel den Sturz des syrischen Regimes seit dem versuchten Umsturz im Jahr 2011 nie wirklich unterstützt. Im Juli 2018 hatte Netanjahu nichts dagegen, dass Assad die Kontrolle über das Land zurückerlangt und seine Macht stabilisiert.
Netanjahu sagte, Israel würde nur gegen wahrgenommene Bedrohungen wie die Kräfte und den Einfluss des Irans und der Hisbollah vorgehen und erklärte: »Wir haben kein Problem mit dem Assad-Regime, 40 Jahre lang wurde keine einzige Kugel auf den Golanhöhen abgefeuert.« Wenige Stunden nach der Ankündigung des Sturzes des Regimes übernahm die israelische Besatzungsarmee die Kontrolle über die syrische Seite des Berges Hermon auf den Golanhöhen, um zu verhindern, dass die Rebellen das Gebiet am Sonntag einnehmen. Zuvor hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der israelischen Besatzungsarmee befohlen, die Kontrolle über die Pufferzone auf dem Golan und »angrenzende strategische Positionen« zu übernehmen.
Viele Campist:innen [Gegner des US-Imperialismus und seiner Verbündeten, die der Devise folgen »der Feind meines Feindes ist mein Freund« und daher die imperialistischen oder subimperialistische Gegenspieler des »Westens« unterstützen, Anm. d. R.] haben Assad wieder einmal verteidigt, diesmal mit dem Argument, dass seine Niederlage ein Rückschlag für den palästinensischen Befreiungskampf wäre. Was hältst du von diesem Argument? Was bedeutet der Sturz des syrischen Regimes für Palästina?
Ja, Campisten haben argumentiert, dass diese Militäroffensive von »Al-Qaida und anderen Terroristen« angeführt wird und dass es sich um ein westlich-imperialistisches Komplott gegen das syrische Regime handelt, das die sogenannte Achse des Widerstands unter Führung des Iran und der Hisbollah schwächen soll. Da diese Achse behauptet, die Palästinenser:innen zu unterstützen, behaupten die Campisten, dass der Sturz von Assad sie schwächt und somit den Kampf für die Befreiung Palästinas untergräbt.
Das Hauptproblem mit dieser Argumentation der Befürworter:innen der »Achse des Widerstands« (Iran, Syrien unter Assad, Hisbollah, Hamas) ist, neben dem Ignorieren jeglicher Handlungsfähigkeit lokaler syrischer Akteure, die Annahme, dass die Befreiung Palästinas von oben kommen wird, von diesen Staaten oder anderen Kräften, ungeachtet ihres reaktionären und autoritären Charakters und ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Diese Strategie ist in der Vergangenheit gescheitert und wird es auch heute tun. Anstatt den Kampf für die Befreiung Palästinas voranzutreiben, haben die autoritären und despotischen Staaten des Nahen Ostens, ob sie nun mit dem Westen verbündet sind oder gegen ihn opponieren, die Palästinenser:innen wiederholt verraten und sogar unterdrückt.
Darüber hinaus ignorieren die Campisten die Tatsache, dass die Hauptziele Irans und Syriens nicht die Befreiung Palästinas sind, sondern die Erhaltung ihrer Macht und die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. Diese werden sie jedes Mal vor Palästina stellen. Insbesondere Syrien hat, wie Netanjahu in dem soeben erwähnten Zitat überdeutlich gemacht hat, seit Jahrzehnten keinen Finger mehr gegen Israel gerührt.
Der Iran seinerseits hat die palästinensische Sache rhetorisch unterstützt und die Hamas finanziert. Doch seit dem 7. Oktober 2023 besteht sein Hauptziel darin, sein Ansehen in der Region zu verbessern, um für künftige politische und wirtschaftliche Verhandlungen mit den USA in der bestmöglichen Position zu sein. Der Iran möchte seine politischen und sicherheitspolitischen Interessen gewährleisten und ist daher bestrebt, einen direkten Krieg mit Israel zu vermeiden.
Sein wichtigstes geopolitisches Ziel in Bezug auf die Palästinenser:innen besteht nicht in deren Befreiung, sondern darin, sie als Druckmittel einzusetzen, insbesondere in seinen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Auch die passive Reaktion des Irans auf die Ermordung Nasrallahs durch Israel, die Dezimierung der Hisbollah-Kader und den brutalen Krieg gegen den Libanon zeigen, dass das Land in erster Linie sich selbst und seine Interessen schützen will. Das Regime war nicht bereit, diese zu opfern und ihren wichtigsten nichtstaatlichen Verbündeten zu verteidigen.
Auch der Iran hat sich als bestenfalls wankelmütiger Verbündeter der Hamas erwiesen. Er hat seine Finanzierung der Hamas reduziert, wenn ihre Interessen nicht übereinstimmten. Es hat seine finanzielle Unterstützung für die Hamas nach der syrischen Revolution im Jahr 2011 eingestellt, als die palästinensische Bewegung sich weigerte, die mörderische Unterdrückung syrischer Demonstrant:innen durch das syrische Regime zu unterstützen.
«Es macht keinen Sinn, reaktionäre Regionalmächte und andere imperialistische Staaten wie Russland oder China als Verbündete Palästinas oder seiner Solidaritätsbewegung anzusehen»
Im Falle des syrischen Regimes ist das Argument gegen seine angebliche Unterstützung für Palästina stichhaltig. Es hat Palästina während des letzten Jahres des völkermörderischen Krieges Israels nicht verteidigt. Trotz des israelischen Bombardements auf Syrien vor und nach dem 7. Oktober hat das Regime nicht darauf reagiert. Dies entspricht der seit 1974 verfolgten Politik des Regimes, jede größere und direkte Konfrontation mit Israel zu vermeiden.
Darüber hinaus hat das Regime wiederholt Palästinenser:innen in Syrien unterdrückt, einschließlich der Ermordung von mehreren Tausend von ihnen seit 2011, indem es das Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus verwüstete. Sie haben auch die palästinensische Nationalbewegung selbst angegriffen. So intervenierte Hafez al-Assad, Vater seines Erben und gerade abgesetzten Diktators Bashar al-Assad, 1976 im Libanon und unterstützte rechtsextreme libanesische Parteien gegen linke palästinensische und libanesische Organisationen.
In den Jahren 1985 und 1986 führte sie auch Militäroperationen gegen palästinensische Lager in Beirut durch. Im Jahr 1990 wurden etwa 2.500 palästinensische politische Gefangene in syrischen Gefängnissen inhaftiert.
Angesichts dieser Geschichte ist es ein Fehler, wenn die Palästina-Solidaritätsbewegung imperialistische oder subimperialistische Staaten verteidigt und sich mit ihnen verbündet, die ihre eigenen Interessen über die Solidarität mit Palästina stellen, um geopolitische Vorteile konkurrieren und die Arbeiter:innen und Ressourcen ihrer Länder ausbeuten. Natürlich bleibt der US-Imperialismus mit seiner außergewöhnlichen Geschichte von Krieg, Plünderung und politischer Vorherrschaft der Hauptfeind in der Region.
Es macht jedoch keinen Sinn, reaktionäre Regionalmächte und andere imperialistische Staaten wie Russland oder China als Verbündete Palästinas oder seiner Solidaritätsbewegung anzusehen. Es gibt einfach keine empirische Grundlage, die diese Position untermauern. Den einen Imperialismus dem anderen vorzuziehen, bedeutet, die Stabilität des kapitalistischen Systems und die Ausbeutung der lohnabhängigen Klasse zu garantieren. Ebenso ist die Unterstützung autoritärer und despotischer Regime mit dem Ziel, Palästina zu befreien, nicht nur moralisch falsch, sondern hat sich auch als gescheiterte Strategie erwiesen.
«Wenn die Palästinenser:innen kämpfen, löst dies in der Regel ein Aufbegehren der regionalen Befreiungsbewegungen aus, und diese Bewegungen wirken wiederum auf die Bewegung im besetzten Palästina zurück»
Stattdessen muss die palästinensische Solidaritätsbewegung die Befreiung Palästinas nicht in Verbindung mit den Staaten der Region sehen, sondern mit der Befreiung der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Diese identifizieren sich mit Palästina und sehen ihren eigenen Kampf für Demokratie und Gleichheit als eng mit dem palästinensischen Befreiungskampf verbunden. Wenn die Palästinenser:innen kämpfen, löst dies in der Regel ein Aufbegehren der regionalen Befreiungsbewegungen aus, und diese Bewegungen wirken wiederum auf die Bewegung im besetzten Palästina zurück.
Diese Kämpfe sind dialektisch miteinander verbunden; sie sind verknüpfte Kämpfe für die kollektive Befreiung. Der rechtsextreme israelische Minister Avigdor Lieberman erkannte 2011 die Gefahr, die regionale Volksaufstände für Israel darstellen, als er sagte, dass die ägyptische Revolution, die Hosni Mubarak stürzte und die Tür zu einer Periode der demokratischen Öffnung im Land öffnete, eine größere Bedrohung für Israel sei als der Iran.
Damit soll nicht das Recht auf Widerstand der Palästinenser:innen und Libanes:innen gegen die brutalen Kriege Israels geleugnet werden, sondern es geht darum, zu verstehen, dass allein der vereinte Aufstand der palästinensischen und regionalen Volksklassen die Macht hat, den gesamten Nahen Osten und Nordafrika zu verändern, autoritäre Regime zu stürzen und die USA und andere imperialistische Mächte zu vertreiben. Die internationale antiimperialistische Solidarität mit Palästina und den Völkern der Region ist unerlässlich, denn sie stehen nicht nur Israel und den reaktionären Regimen der MENA-Länder gegenüber, sondern auch deren imperialistischen Hintermännern.
Die Hauptaufgabe der Palästina-Solidaritätsbewegung, insbesondere im Westen, besteht darin, die Mitschuld unserer herrschenden Klassen anzuprangern, die nicht nur den rassistischen, siedler-kolonialen Apartheidstaat Israel und seinen völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser:innen unterstützen, sondern auch Israels Angriffe auf andere Länder in der Region wie den Libanon. Die Bewegung muss Druck auf diese herrschenden Klassen ausüben, um jegliche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu Tel Aviv abzubrechen.
Auf diese Weise kann die Solidaritätsbewegung die internationale und regionale Unterstützung für Israel in Frage stellen und schwächen und den Palästinenser:innen den Raum öffnen, sich zusammen mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten in der Region zu befreien.
Wird der Vormarsch der Rebellen in Syrien fortschrittlichen Kräften Raum geben, um den revolutionären Kampf zu erneuern und eine Alternative sowohl zum Regime als auch zum islamischen Fundamentalismus zu schaffen?
Es gibt keine offensichtlichen Antworten, nur mehr Fragen. Werden Kampf von unten und Selbstorganisation in den Gebieten möglich sein, in denen das Regime vertrieben wurde? Werden zivilgesellschaftliche Organisationen (nicht im engeren Sinne als NGOs definiert, sondern im gramscianischen Sinne von populären Massenformationen außerhalb des Staates) und alternative politische Strukturen mit demokratischer und progressiver Politik in der Lage sein, sich zu etablieren, zu organisieren und eine politische und soziale Alternative zu HTS und SNA zu bilden? Wird die Ausdehnung der HTS- und SNA-Kräfte Raum für die Organisation auf lokaler Ebene lassen?
Dies sind meiner Meinung nach die Schlüsselfragen, auf die es keine klaren Antworten gibt. Betrachtet man die Politik von HTS und SNA in der Vergangenheit, so haben sie die Entwicklung eines demokratischen Raums nicht gefördert – ganz im Gegenteil. Sie haben autoritär gehandelt. Solchen Kräften sollte kein Vertrauen entgegengebracht werden. Nur die Selbstorganisation der Volksmassen, die für demokratische und fortschrittliche Forderungen kämpfen, wird diesen Raum schaffen und einen Weg zur tatsächlichen Befreiung eröffnen. Dazu müssen viele Hindernisse überwunden werden.
Das Haupthindernis waren, sind und werden die autoritären Akteure sein, früher das Regime, jetzt viele der oppositionellen Kräfte, insbesondere die HTS und die SNA; ihre Herrschaft und die militärischen Auseinandersetzungen zwischen ihnen haben den Raum für demokratische und fortschrittliche Kräfte erstickt, die ihre Zukunft demokratisch bestimmen können. Auch in den von der Kontrolle des Regimes befreiten Gebieten haben wir noch keine populären Kampagnen des demokratischen und progressiven Widerstands gesehen. Und dort, wo die SNA kurdische Gebiete erobert hat, hat sie die Rechte der Kurd:innen verletzt, sie mit Gewalt unterdrückt und eine große Zahl von ihnen gewaltsam vertrieben.
Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass ein unabhängiger demokratischer und fortschrittlicher Block, der in der Lage ist, sich zu organisieren und dem syrischen Regime und den islamisch-fundamentalistischen Kräften klar entgegenzutreten, eklatant fehlt. Der Aufbau eines solchen Blocks wird Zeit brauchen. Er wird die Kämpfe gegen Autokratie, Ausbeutung und alle Formen der Unterdrückung verbinden müssen. Er wird Forderungen nach Demokratie, Gleichheit, kurdischer Selbstbestimmung und Frauenbefreiung erheben müssen, um die Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten des Landes zu stärken.
«Es gibt jetzt einen Raum, in dem die Syrer:innen versuchen können, den zivilen Volkswiderstand von unten und alternative Machtstrukturen aufzubauen»
Um diese Forderungen voranzutreiben, muss dieser fortschrittliche Block Massenorganisationen von unten – von Gewerkschaften über feministische Organisationen bis hin zu kommunalen Organisationen und nationalen Strukturen – auf- und umbauen und sie zusammenbringen. Dies erfordert die Zusammenarbeit zwischen demokratischen und fortschrittlichen Akteuren in der gesamten Gesellschaft.
Dennoch gibt es Hoffnung. Während die Hauptdynamik zunächst militärisch war und von der HTS und der SNA angeführt wurde, sahen wir in den letzten Tagen wachsende Demonstrationen von unten – Menschen, die im ganzen Land auf die Straße gingen. Sie folgen keinem Befehl von HTS, SNA oder anderen bewaffneten Oppositionsgruppen. Es gibt jetzt einen Raum, in dem die Syrer:innen versuchen können, den zivilen Volkswiderstand von unten und alternative Machtstrukturen aufzubauen, auch wenn dies, wie oben erwähnt, mit Widersprüchen und Herausforderungen verbunden ist.
Ein Problem der demokratischen Kräfte in Syrien war die Spaltung zwischen Kurd:innen und Araber:innen.
Genau, eine der wichtigsten Aufgaben wird darin bestehen, die zentrale ethnische Spaltung des Landes, nämlich die zwischen Araber:innen und Kurd:innen, zu überwinden. Die fortschrittlichen Kräfte müssen einen klaren Kampf gegen den arabischen Chauvinismus führen, um diese Spaltung zu überwinden und Solidarität zwischen diesen Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Diese Herausforderung besteht seit Beginn der syrischen Revolution im Jahr 2011 und muss auf fortschrittliche Weise angegangen und gelöst werden, damit die Bevölkerung des Landes wirklich befreit werden kann.
Es besteht die dringende Notwendigkeit, zu den ursprünglichen Bestrebungen der syrischen Revolution nach Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit zurückzukehren – und zwar auf eine Weise, die die kurdische Selbstbestimmung aufrechterhält. Die kurdische PYD kann zwar für ihre Fehler und ihre Herrschaftsform kritisiert werden, sie ist jedoch nicht das Haupthindernis für eine solche Solidarität zwischen Kurden und Arabern. Das waren die kriegerischen und chauvinistischen Positionen und die Politik der arabischen Oppositionskräfte in Syrien – angefangen beim arabisch dominierten Syrischen Nationalrat, gefolgt von der Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte, den wichtigsten Oppositionsgremien im Exil, die vom Westen und einigen Staaten der Region unterstützt wurden und die versuchten, die syrische Revolution in ihren Anfangsjahren anzuführen – und heute die der beiden wichtigsten militärischen Kräfte, der HTS und der SNA.
In diesem Zusammenhang müssen die fortschrittlichen Kräfte die Zusammenarbeit zwischen syrischen Arabern und Kurden, einschließlich der AANES, fortsetzen. Das AANES-Projekt und seine politischen Institutionen repräsentieren große Teile der kurdischen Bevölkerung und haben sie gegen verschiedene lokale und externe Bedrohungen geschützt.
Dennoch hat auch sie ihre Schwächen und darf nicht unkritisch unterstützt werden. Die PYD und AANES sind mit Gewalt und Repression gegen politische Aktivist:innen und Gruppen vorgegangen, die ihre Macht in Frage stellen. Auch hat sie die Menschenrechte der Zivilbevölkerung verletzt. Dennoch hat sie einige wichtige Errungenschaften vorzuweisen, insbesondere die stärkere Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft, die Kodifizierung säkularer Gesetze und die stärkere Einbeziehung religiöser und ethnischer Minderheiten. In sozioökonomischen Fragen hat sie jedoch nicht mit dem Kapitalismus gebrochen und ist nicht angemessen auf die Missstände in der Bevölkerung eingegangen.
«Es geht nicht nur darum, dieses Regime zu stürzen, sondern eine Gesellschaft aufzubauen, die sich durch Demokratie, Gleichheit und volle Rechte für die unterdrückten Gruppen auszeichnet»
Was auch immer Progressive an der PYD und der AANES kritisieren mögen, wir müssen arabisch-chauvinistische Beschreibungen der PYD als »der Teufel« und ein »separatistisches« ethno-nationalistisches Projekt zurückweisen und ihnen entgegentreten. Aber während wir solche Bigotterie zurückweisen, dürfen wir die AANES nicht unkritisch romantisieren, wie es einige westliche Anarchist:innen und Linke getan haben, die sie fälschlicherweise als eine neue Form demokratischer Macht von unten dargestellt haben.
Es hat bereits eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den syrisch-arabischen Demokraten und Progressiven und der AANES und den mit ihr verbundenen Institutionen gegeben, und darauf muss aufgebaut werden. Aber wie bei jeder Art von Zusammenarbeit sollte dies nicht unkritisch geschehen.
Auch wenn es wichtig ist, alle daran zu erinnern, dass das Regime von Bashar al-Assad und seine Verbündeten die Hauptverantwortlichen für den Massenmord an Hunderttausenden von Zivilist:innen, die massenhaften Zerstörungen, die zunehmende Verarmung und die derzeitige Lage in Syrien sind, geht das Ziel der syrischen Revolution über das hinaus, was HTS-Führer al-Jolani in seinem Interview mit CNN sagte. Es geht nicht nur darum, dieses Regime zu stürzen, sondern eine Gesellschaft aufzubauen, die sich durch Demokratie, Gleichheit und volle Rechte für die unterdrückten Gruppen auszeichnet. Andernfalls werden wir nur ein Übel durch ein anderes ersetzen.
Welche Auswirkungen wird der Sturz des Regimes auf die Region und die imperialen Mächte haben? Welche Position sollte die internationale Linke in dieser Situation einnehmen?
Nach dem Sturz des Regimes erklärte HTS-Führer al-Jolani, dass die staatlichen Institutionen Syriens vom ehemaligen Ministerpräsidenten Mohammed Jalali überwacht werden, bis sie nach den Wahlen an eine neue Regierung mit vollen Exekutivbefugnissen übergeben werden, was auf Bemühungen um einen geordneten Übergang hindeutet. Der syrische Telekommunikationsminister Eyad al-Khatib erklärte sich bereit, mit den Vertretern der HTS zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die Telekommunikation und das Internet weiterhin funktionieren.
Dies sind klare Anzeichen dafür, dass die HTS einen kontrollierten Machtwechsel anstrebt, um ausländische Ängste zu beschwichtigen, Kontakte zu regionalen und internationalen Mächten zu knüpfen und die Anerkennung als legitime Kraft zu erlangen, mit der man verhandeln kann. Ein Hindernis für eine solche Normalisierung ist die Tatsache, dass die HTS immer noch als terroristische Organisation gilt, während Syrien mit Sanktionen belegt ist.
Dennoch ist mit einer Phase der Instabilität im Land zu rechnen. In Damaskus war am Tag nach dem Sturz des Regimes ein gewisses Chaos auf den Straßen zu beobachten, beispielsweise wurde die Zentralbank geplündert.
Welche Auswirkungen der Sturz des Regimes auf die regionalen und imperialen Mächte haben wird, ist noch schwer abzuschätzen. Für die USA und die westlichen Staaten geht es jetzt in erster Linie um Schadensbegrenzung, um eine Ausbreitung des Chaos in der Region zu verhindern. Die Staaten der Region sind mit der derzeitigen Situation eindeutig unzufrieden, da sie in den letzten Jahren einen Normalisierungsprozess mit dem Regime eingeleitet hatten. Was die Türkei betrifft, so wird ihr Hauptziel darin bestehen, ihre Macht und ihren Einfluss in Syrien zu konsolidieren und die kurdisch geführte AANES im Nordosten loszuwerden. Ein türkischer Spitzendiplomat sagte am Sonntag, der türkische Staat stehe in Kontakt mit den Rebellen in Syrien, um sicherzustellen, dass der »Islamische Staat« und insbesondere die PKK den Sturz des Regimes in Damaskus nicht ausnutzen, um ihren Einfluss auszuweiten.
«Inmitten der brisanten Situation in Syrien, dem Nahen Osten und Nordafrika müssen wir die beiden Fallen der Romantisierung und des Defätismus vermeiden»
Die verschiedenen Mächte haben jedoch ein gemeinsames Ziel: die Durchsetzung einer Form von autoritärer Stabilität in Syrien und der Region. Das bedeutet natürlich keine Einigkeit zwischen den regionalen und imperialen Mächten. Sie haben alle ihre eigenen, oft gegensätzlichen Interessen, aber sie wollen keine Destabilisierung des Nahen Ostens und Nordafrikas, insbesondere keine Instabilität, die den Ölfluss zum globalen Kapitalismus unterbrechen würde.
Die internationale Linke darf sich nicht auf die Seite der Überreste des Regimes oder der lokalen, regionalen und internationalen Kräfte der Konterrevolution stellen. Stattdessen sollte der politische Kompass der Revolutionäre das Prinzip der Solidarität mit den Volks- und Fortschrittskämpfen von unten sein. Das bedeutet, Gruppen und Einzelpersonen zu unterstützen, die sich für ein fortschrittliches und integratives Syrien organisieren und kämpfen, und Solidarität zwischen ihnen und den Volksmassen der Region aufzubauen.
Inmitten der brisanten Situation in Syrien, dem Nahen Osten und Nordafrika müssen wir die beiden Fallen der Romantisierung und des Defätismus vermeiden. Stattdessen müssen wir eine Strategie der kritischen, fortschrittlichen, internationalen Solidarität unter den Volkskräften in der Region und in der ganzen Welt verfolgen. Dies ist die entscheidende Aufgabe und Verantwortung der Linken, insbesondere in diesen sehr bewegten Zeiten.
Dieses Interview erschien zuerst auf englisch bei Tempest. Übersetzung ins Deutsche von Martin Haller.