Die noch junge Republik Kosovo wird seit 2021 von der dezidiert linken und antikolonialen Lëvizja Vetëvendosje regiert. Dass dies der ursprünglich aus Studierendenprotesten hervorgegangenen sozialen Bewegung gelang, ist bemerkenswert. Ein Gespräch mit dem schweizerisch-albanischen Aktivisten Fan Hoti.
Interview mit Fan Hoti von Theo Vanzetti (BFS Zürich); aus antikap
Theo Vanzetti: Fan, gibt es ein Schlüsselereignis, welches dazu führte, dass du politisch aktiv wurdest?
Fan Hoti: Entscheidend bestärkt, politisch etwas zu machen hat mich der bis heute ungeklärte Tod des Medizinstudenten und Aktivisten Astrit Dehari. Er war der Leiter der Studierendenorganisation von Vetëvendosje (SKV). Im August 2016 wurde Astrit Dehari und sechs weitere Aktivist:innen in U-Haft gesteckt. 2015 gab es Proteste gegen die Verhandlungen mit Serbien[1], Privatisierungswellen, etc. an denen Astrit beteiligt war. Nach zwei Monaten, noch bevor Anklage erhoben werden konnte, fand man ihn tot in seiner Zelle auf. Ein rechtsmedizinisches Gutachten aus der Schweiz hat Jahre später ergeben, dass es bei seinem Tod eine Dritteinwirkung gegeben haben muss. Für viele war jedoch bereits zum Zeitpunkt seines Todes klar, dass es sich um einen politischen Mord handelte. Dehari hat die Jugend und Studierenden im Land entscheidend politisiert, Vetëvendosje politisch weiter nach links gebracht und mit Streiks und Demos sogar den Rektor der Uni in Prishtina gestürzt. Er ist übrigens in Bern geboren und aufgewachsen.
Welche politische Kraft war damals im Kosovo an der Macht?
Eine Koalition aus der PDK, der Partei von Hashim Thaçi und der LDK, welche damals von Isa Mustafa angeführt wurde. Es gab viele Ungereimtheiten, wie gelöschte Videoaufnahmen aus dem Gefängnis, widersprüchliche Aussagen der Behörden, und schleppende und intransparente Ermittlungen. Einer der Zellengenossen Astrits verstarb kurz darauf auf bisher ungeklärte Weise, ein anderer wurde nach seiner Verurteilung wegen Mord vom damaligen Präsidenten Hashim Thaçi begnadigt.
Kürzlich verschwanden Beweismittel aus dem Institut für Rechtsmedizin. Auch sein Bruder Arbnor Dehari starb 2014 durch einen Sturz von einem Balkon, auch er war immens wichtig für Vetëvendosje und auch bei seinem Tod lassen sich viele Ungereimtheiten feststellen. Laut dem Schweizer Gutachten schien Astrit Dehari gefoltert worden zu sein. Vermutlich wollten seine Peiniger ihn zu Aussagen zwingen, die es erlaubt hätten, Vetëvendosje zur Terrororganisation zu erklären, womit die Bewegung als Partei verboten worden wäre. Doch dazu kam es nicht.
Fan Hoti
Fan Hoti wuchs in Genf auf. Während seiner Zeit im Gymnasium politisierte er sich zunächst über linke Zusammenhänge, welche sich mit lokalen Themen wie Sozialabbau befassten. Da ihn das Geschehen im Kosovo schon immer sehr interessierte, begann er sich spezifisch mit der aus den Studierendenbewegungen der 1990er Jahren entstandenen Lëvizja Vetëvendosje! zu beschäftigen. Ins Deutsche übersetzt bedeutet dies Selbstbestimmungs-Bewegung. Fan engagiert sich auch heute noch im Kosovo in der Lëvizja Vetëvendosje!
Im Kosovo ist die letzten Monate und Jahre einiges passiert. Einerseits kam mit der Vetëvendosje eine Kraft in die Regierungsverantwortung, die sich stark von anderen Parteien unterscheidet. Andererseits nahmen serbische Aggressionen wieder zu. Letzteres führte so weit, dass letzten September Paramilitärs, die mutmasslich von der serbischen Regierung in Belgrad unterstützt wurden, im kosovarischen Dorf Banjska einen Überfall verübten. Dabei hatten die aus Kosovo-Serben bestehenden Paramilitärs die kosovarische Polizei angegriffen, eine Brücke besetzt, und sich danach in einem Kloster verschanzt. Bevor wir im zweiten Teil des Interviews[2] zu diesem Überfall kommen, kannst du erklären, für welche Ziele und Werte die Lëvizja VETËVENDOSJE! (Selbstbestimmungs-Bewegung) steht?
Lëvizja VETËVENDOSJE! entstand aus dem Netzwerk Kosova Action Network (KAN). Das waren anfangs Studis aus der ganzen Welt, welche sich mit den Studierendenprotesten 1997 in Prishtina solidarisierten. Nach dem Krieg setzte sich das KAN für die Freilassung politischer Gefangener ein, darunter einige der späteren Gründer:innen von Vetëvendosje, welche noch in der Zeit der serbischen Herrschaft (resp. im sog. Restjugoslawien, Anm. v.T.V.) in haftiert worden waren. Das KAN wurde zum Netzwerk für linke Aktivist:innen in Kosova, welche sich nach dem Krieg für Menschenrechte einsetzten. Nach dem Krieg wurde Kosova durch die UN-Mission UNMIK verwaltet.
Die Administration durch die UNO wurde von den Zusammenhängen, aus denen Vetëvendosje später entstand, als fremdbestimmtes Protektorat, die internationale Präsenz in Kosova, darunter auch der NATO, generell als neokolonialistisch verstanden. Der internationalen Gemeinschaft ging es nie um die Anliegen der kosovarischen Bevölkerung. Vetëvendosje sagte: «Es wird nicht mehr über unsere Köpfe hinweg entschieden. Wir bestimmen selbst über unsere weitere Entwicklung.» Es ging um Selbstbestimmung in Bezug auf die internationale Gemeinschaft, aber auch in Bezug auf Serbien.
Am 12. Juni 2005 wurde der Slogan «Jo negociata – Vetëvendosje!», auf Deutsch «Keine Verhandlungen – Selbstbestimmung!» an das Hauptquartier der UNMIK geschrieben, was heute als Gründungsdatum von Vetëvendosje gilt. Das Projekt verstand sich als Antwort auf die internationalen Verhandlungen, welche über, aber nicht mit Kosova geführt wurden. Anfangs stand die Bewegung im Kern für die territoriale Selbstbestimmung Kosovas im Bezug auf seinen damals noch ungeklärten politischen Status, seit der Gründung der Vetëvendosje wurde das Recht auf Selbstbestimmung jedoch immer weiter gefasst – nationale Befreiung, Selbstbestimmung von Frauen, etc. Ganz interessant ist, dass es diverse Demofotos von Mitgliedern der jetzigen Regierung gibt, wie sie damals Autos der UNMIK umkippten und immer wieder festgenommen wurden. Sie betonten immer wieder ihren friedlichen Ansatz, der zwar keine Gewalt gegen Menschen zulässt, materiellen Schaden jedoch als legitim ansieht.
2010 meldete sich die bisherige soziale Bewegung Vetëvendosje als Partei an. Zuvor waren Wahlboykotts Teil ihrer Strategie. Seitdem die Beteiligung an Wahlen stattfindet, nahm das Thema Korruptionsbekämpfung viel Raum bei Vetëvendosje ein. Jedoch ging es im Gegensatz zu liberalen Antikorruptionsparteien nie lediglich um dieses eine Thema. Ebenfalls wurde zum Beispiel das durch Privatisierung geprägte Wirtschaftssystem kritisiert.
Würdest du also sagen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung dadurch, dass sie Vetëvendosje wählen, ein Interesse an einer progressiven Auslegung von nationaler Befreiung hat?
Generell schon. Vorsicht ist jedoch in jedem Fall geboten, da du nie weisst, wie sich ein emanzipatorisches Projekt entwickeln kann, gibt es ja genügend tragische Beispiele in der Geschichte der Linken. Wichtig ist es, verschiedene Kämpfe zu verknüpfen. Wenn du beispielsweise vermittelst, dass Menschenrechte eine Voraussetzung für Selbstbestimmung sind, kannst du deren Notwendigkeit recht gut legitimieren. Vetëvendosje hat das geschafft. Ein Hauptkampf, der alle vereinigte, war zum Beispiel der Widerstand gegen die eigene korrupte Elite. Vetëvendosje hat so das erreicht, was sich viele Linke erträumen: aus einer radikalen Minderheitsposition die Mehrheit zu überzeugen.
Wichtig sind auch die historischen Verknüpfungen, die erstellt wurden. Vetëvendosje schafft es an eine bereits vorhandene linke Tradition im Land anzuknüpfen, die sich weder an Tito noch an Enver Hoxha orientierte, und übersetzte diese ins 21. Jahrhundert. So war das Recht auf Selbstbestimmung Teil der 68er Proteste in Kosova und der Konflikt wurde von einer bestimmten Strömung der Linken im Balkan, unter anderem vielen Serb:innen wie Dimitrije Tucovi , nie als ethnischer, sondern kolonialer Konflikt verstanden. Und vor allem wurde auch betont, dass Albaner:innen in der Zeit vor der Befreiung nicht nur Opfer waren, sondern auch Widerstand leisteten. Ohne, dass wir uns selbst erhoben und gewehrt hätten, wäre die NATO niemals gekommen. Die Nato hat uns nicht befreit, sondern unsere eigene Befreiung unterstützt.
Nochmals zur politischen Ausrichtung von Vetëvendosje. Du erwähntest vorhin auch den Widerstand gegen die NATO. Das finde ich spannend an deinen Ausführungen. Denn das oberflächliche, liberale Narrativ über den Kosovo lautet, man sei der NATO dankbar, dass es heute die Republik gibt, und Punkt. Kann man in Abgrenzung zu diesem Narrativ also progressive, linke Politik im Sinne von Vetëvendosje wie folgt zusammenfassen: Es werden drei verschiedene Akteur:innen als Problem identifiziert, welche Selbstbestimmung im Weg stehen: 1. Die alten Herrschenden aus Jugoslawien und später Serbien, 2. westliche, imperialistische Mächte und 3. die eigene korrupte Elite.
Ja das trifft es recht gut. Nur würde ich nicht nur von westlichen, imperialistischen Mächten sprechen mit Hinblick auf Russland und weitere Akteure in der Region. Die NATO-Mission in Kosova, KFOR, ist zwar die Schutzmacht, anerkennt die Republik jedoch formell nicht als Staat an. Und eben, das dritte Problem ist die eigene, korrupte Elite, also die kosovarische Oligarchie.
Ein guter Vergleich lässt sich zur Syriza in Griechenland ziehen: Bei Syriza ging es sehr oft um Deutschland und Merkel, viel zu selten aber um die eigenen griechischen Oligarchen. Dies hat sich gerächt, denn diese sind heute wieder an der Macht.
Schon 2017 war Vetëvendosje mit über 27% bereits die stärkste Kraft im Parlament. Aber die erste Regierungsbeteiligung war dann erst 2020. Weshalb?
Genau. Zwar war sie wählerstärkste Partei, doch gab es eine Koalition aus Dutzenden Parteien rund um die PDK, wodurch diese als stärkste Kraft das Recht auf Regierungsbildung hatte. Nach langen Verhandlungen kam Vetëvendosje 2020 just zu Beginn der Pandemie an die Macht. Nach nur 50 Tagen aber wurde die Regierung unter Albin Kurti gestürzt, was ein leiser Putsch der USA bzw. Trumps war. Um beim Vergleich mit Syriza zu bleiben: Albin Kurti hätte der Macht wegen ein Abkommen mit Serbien unter Vermittlung von Trump, welches ethnische Grenzziehungen und Amnestie für Kriegsverbrechen vorsah, eingehen können. Er blieb aber standhaft und wurde gestürzt. Syriza hingegen ging Kompromisse ein, um an der Macht zu bleiben, und liess den Widerstand gegen die EU, EZB, IWF, etc. fallen. Kurz: Es ist nicht nur moralisch, sondern auch strategisch besser, Macht zu verlieren aber Prinzipientreu zu bleiben. Denn dadurch begreifen die Leute an der eigenen Basis, dass es mit dem Programm ernstgemeint ist.
Im zweiten Teil des Interviews, welches im Mai oder Anfang Juni auf sozialismus.ch veröffentlicht wird, geht es um die 2023 krass eskalierten Spannungen in den nördlichen Gebieten, wo Kosovo-Serb:innen als Bevölkerungsmehrheit leben. Was kann im Norden des Kosovo getan werden, um darauf hinzuarbeiten, dass es zu keinem neuen Krieg kommt?
[1] Anm. v. T. V.: Überall, wo im Interview von Verhandlungen oder Spannungen mit Serbien die Rede ist, geht es um Folgendes: Bis in die Gegenwart betrachtet die serbische Regierung die seit 2008 unabhängige Republik Kosovo als abtrünnige Provinz. Dies hat zwei Gründe. 1.Jugoslawien bestand aus mehreren Teilrepubliken. Dem Kosovo wurde dieser Status verwehrt, womit er Bestandteil der Teilrepublik Serbien war. 2. Spielt das Gebiet des heutigen Kosovo in der historischen Erzählung, auf welche sich die heutige Nation Serbien beruft, eine Schlüsselrolle. Jedoch ist ein daraus abgeleiteter Gebietsanspruch genauso willkürlich, wie alle Nationalmythen, welche auf Geschehnisse vor mehreren Hundert Jahren zurückgehen.
[2] Teil zwei des Interviews wird im Mai oder Anfang Juni auf sozialismus.ch veröffentlicht. Der an dieser Stelle abgedruckte erste Teil, widmet sich der Entstehung und politischen Ausrichtung der Lëvizja Vetëvendosje.