Die Parole „System Change Not Climate Change“ begleitet die Klimabewegung seit ihren Anfängen. Was sie bedeuten soll, ist heftig umstritten. Auch das heute startende Andere Davos 2020 findet unter dem Motto „System Change Not Climate Change“ statt. Für uns ist der Spruch nicht nur eine hohle Phrase. Ein Blick auf die materiellen Hintergründe der Untätigkeit und Ineffizienz in der Klimapolitik hilft zu verstehen, wieso es ohne einen Wandel des Systems nicht vorwärts gehen kann.
von Jakob Späth (BFS Zürich)
Wissen die das denn nicht?
1824 beschrieb Jean-Baptiste Fourier den Mechanismus des Treibhauseffekts. Erste halbwegs belastbare Berechnungen des Zusammenhangs zwischen globaler Temperatur und CO₂-Konzentration in der Atmosphäre wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts angestellt. Seit Ende der 1950er Jahre erscheint Studie um Studie, die den Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre, ihre steigende Emission durch den Menschen und damit die Realität des menschengemachten Klimawandels belegen.
Spätestens seit den 1970er Jahren drang dieses Wissen unter anderem durch das Engagement der Anti-AKW- und der zweiten Welle der Ökologie-Bewegung sowie durch populärwissenschaftliche Formate wie Hoimar von Ditfurths zweiteilige Dokumentation „Der Ast, auf dem wir sitzen“ (1978, ZDF) in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und in die Politik. Die Plenarprotokolle des deutschen Bundestags zeigen, dass sich die Debatte über den Klimawandel dort nach einigen wenigen Erwähnungen ab Mitte der 1980er intensivierte. Die erste Weltklimakonferenz, die First World Climate Conference, tagte vom 12. bis 23. Februar 1979 in Genf. Viele weitere Konferenzen und Gipfel folgten. 1992 wurde das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen verabschiedet, in dem festgestellt wurde, dass der Klimawandel eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt. Seit 1995 tagt die Klimakonferenz COP jährlich. 1988 kehrte Shell die aus heutiger Sicht erstaunlich akkuraten Ergebnisse der vom Mineralölkonzern eingesetzten „Arbeitsgruppe Treibhauseffekt“ geschickt unter den Teppich.
Es ist also davon auszugehen, dass die Realität und die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seit gut vierzig Jahren bekannt sind. Passiert ist seither aber wenig: das Kyoto-Protokoll von 1997 wurde von vielen Ländern nicht eingehalten oder gar nicht erst ratifiziert; der Handel mit Emissionszertifikaten ist hauptsächlich eine Möglichkeit, mehr Profite zu realisieren, während er an den tatsächlichen Emissionen nichts ändert; die deutsche Bundesregierung hat die letzten fünf bis zehn Jahre dazu genutzt, die deutsche Solar- und Windkraftbranche nachhaltig zu ruinieren und die Energiewende um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück zu werfen; der Bau neuer Öl- und Gas-Pipelines wird gegen jegliche Widerstände und Umweltbedenken fortgesetzt; der Schweizer Nationalrat debattiert über eventuelle Massnahmen, die man zu gegebener Zeit bei günstigem Wetter vielleicht ergreifen könnte; das Pariser Klimaabkommen von 2015, das Nachfolgeprojekt des Kyoto-Protokolls, hat sich in kürzester Zeit als Farce herausgestellt; der Mineralölkonzern Shell hat die Zeit genutzt, Klimawandelleugner*innen mit Unsummen zu unterstützen, um die gesellschaftliche Debatte zu verlangsamen und länger von Klimaschutzgesetzen unbehelligt Profite abschöpfen zu können.

Warum wird nichts gegen den Klimawandel unternommen?
Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, und die sich die Klimabewegung stellen muss, ist: Wenn das Wissen schon so lange in der Welt ist und von allen relevanten Akteur*innen gewusst werden konnte, warum werden dann so wenige Massnahmen ergriffen? Und warum sind die ergriffenen Massnahmen alle relativ unwirksam? Die Antwort auf diese Frage hilft nicht nur, an der Irrationalität dieser Welt nicht zu verzweifeln, sie ist auch ein unabdingbarer Ratgeber für das weitere politische Vorgehen der Klimabewegung. Denn nur, wenn man weiss, weshalb nichts passiert, ist es möglich, sinnvolle Ansatzpunkte für politische Interventionen zu finden. Nur wenn ich das Problem kenne und verstehe, kann ich sinnvoll an einer Lösung arbeiten.
Eine in Diskussionen häufig gehörte Erklärung für diese scheinbar irrationale Inaktivität angesichts des Klimawandels – gerne garniert mit Einsteins Zitat von der Unendlichkeit des Universums und der menschlichen Dummheit – ist, dass der Mensch eben von Natur aus zu schlecht oder zu dumm sei, die Konsequenzen seines Handelns zu begreifen und wirksame Gegenmassnahmen zu ergreifen. Folgt man dieser Analyse, verdammt man sich selbst zur Inaktivität: wenn die Menschheit nicht in der Lage ist, ihre eigene Lage zu begreifen, wird auch eine noch so grosse Klimabewegung daran nichts ändern können. In diesem Fall wäre es wohl besser, sich zurückzulehnen und die Hände in den Schoss zu legen, um das Feuerwerk zu geniessen.
Möchte man dieser Argumentation – sei es wegen einem Mangel an Zynismus oder einem weniger fatalistischen Menschenbild – nicht folgen, erlaubt eine weitere oft gehörte Erklärung mehr Differenzierung: die (meisten) Menschen in Machtpositionen sind korrupt (und/oder dumm) und tun deshalb nichts für den Klimaschutz. Diese Analyse der Situation krankt an mehreren Stellen. Die Frage, wieso denn ausgerechnet in Entscheidungs- bzw. Machtpositionen korrupte Menschen in grosser Zahl sitzen, liesse sich vielleicht noch durch einen Rückgriff auf Lord Actons „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“ erklären.[1] Warum die Korrupten in den sogenannten westlichen Demokratien, die sich ja der Kontrolle der gewählten Vertreter*innen durch die Wähler*innenschaft rühmen, nicht schon lange abgewählt und durch neue Menschen ersetzt werden, bis man die Menschen findet, die sich nicht korrumpieren lassen und sinnvolle Massnahme beschliessen, ist allerdings nur schwer beantwortbar. Geht man davon aus, die Politiker*innen seien gekauft, ergibt sich zudem die Frage, wer denn die glücklichen Käufer*innen seien – und von da ist der Weg in verschwörungstheoretisches Terrain sehr kurz.
Steckt vielleicht mehr hinter der Untätigkeit?
Eine relativ erfolgversprechende Analyse des Missverhältnisses zwischen Wissen und Handeln beschäftigt sich mit den materiellen Interessen, die dem Handeln der jeweiligen Akteur*innen zugrunde liegen. Sie versucht zu ergründen, welches Interesse die beteiligten Parteien am Fortbestand des zerstörerischen Zustands haben und wodurch diese Interessen bedingt sind.
Bei den Konzernen, deren Geschäft auf dem Abbau, dem Handel oder Verwertung fossiler Brennstoffe beruht, ist die Freilegung der zugrundeliegenden Interessen mit Abstand am einfachsten: Das für die Bekämpfung der Klimakrise notwendige Ende fossiler Brennstoffe bedeutet den Verlust ihrer Geschäftsgrundlage. Eigentümer*innen oder Aktionär*innen würden dadurch einen erheblichen Verlust erleiden und stellen sich deswegen gegen jegliche Massnahmen, die dem Geschäftsmodell gefährlich werden könnten. Der individuelle Ausstieg eines einzelnen Unternehmens aus den fossilen Energien dürfte in den meisten Fällen nicht nur ökonomischen Selbstmord bedeuten. Er überliesse den Rest des Marktes auch kampflos der Konkurrenz, die die entstandene Lücke nur zu gerne füllen wird, um den Profit einzustreichen, auf den ein Konzern aus ökologischen Gründen verzichtet hat. Der individuelle Ausstieg hätte damit noch nicht einmal einen nennenswerten Effekt.
Um zu erkennen, welches Interesse ein Staat bzw. die Politik eines Staates daran hat, nicht für die Umsetzung wirksamer Klimaschutzmassnahmen zu sorgen, ist eine Betrachtung des politischen und wirtschaftlichen Zustands der Welt nötig. Unternehmen wirtschaften und konkurrieren nicht gemütlich im Aargau vor sich hin, sondern sind im Gegenteil in globale Wirtschaftsketten eingebunden und konkurrieren auf dem Weltmarkt. Daraus ergibt sich, dass zwei Unternehmen in der gleichen umweltschädlichen Branche unterschiedlich strengen Umweltschutzgesetzen unterliegen können. Da die Umsetzung von Umweltschutzrichtlinien Geld kostet, hat ein Unternehmen, das laxere Bestimmungen erfüllen muss, einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, der sich in gesteigerter Marktmacht und höherem Profit niederschlägt. Die Stellung eines Staates in der internationalen Politik hängt mehr oder weniger direkt von seiner wirtschaftlichen Macht ab: je stärker die in einem Staat angesiedelten Unternehmen sind, desto wichtiger ist für andere Staaten der Handel mit diesem Staat, desto härter treffen die wirtschaftlichen Sanktionen, die ein Staat verhängt, und desto einfacher ist es auch, durch direkte militärische Intervention die Welt auf eine Weise zu ordnen, die für diesen Staat günstig ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Steuerwettbewerb zwischen Staaten, der dafür sorgt, dass sehr viele internationale Konzerne ihre europäischen Sitze in Irland, der Schweiz oder Luxemburg haben, aber auch, wieso das im September 2019 verabschiedete Klimapaket der deutschen Bundesregierung nur Massnahmen enthält, die für deutsche Unternehmen günstig sind.
Neben dem Erhalt der Macht des eigenen Staates innerhalb der Staatenwelt müssen Politiker*innen ausserdem auf den eigenen Machterhalt achtgeben. Wandert ein Konzern aufgrund zu strenger Umweltgesetzgebung ins Ausland ab, führt dies im Inland zu Arbeitsplatzverlusten und zu geringeren Steuereinnahmen, was sich negativ auf das Budget auswirkt. Führt dies zu Kürzungen im Sozialstaat, kann dies im Zusammenhang mit hohen Arbeitslosenzahlen und allgemeiner Unzufriedenheit schnell zu einem Machtverlust der eigenen Partei führen.
Ein weiterer Punkt, der geklärt werden muss, ist, wieso Lohnabhängige eines Grosskonzerns wie RWE gegen die Klimabewegung, Ende Gelände und eine wirksame Klimapolitik auf die Strasse gehen. Für einige mag der von diversen Medien des rechten Spektrums und in Facebookgruppen geschürte Hass auf die Klimabewegung eine Rolle gespielt haben. Allerdings wird vielen von ihnen zumindest unbewusst klar sein, dass das Ende des fossilen Zeitalters auch ganz konkret das Ende ihres Arbeitsplatzes bedeutet. In Zeiten, in denen seit Jahrzehnten immer wieder die Axt an den Sozialstaat gelegt wurde und sich ständig wiederholende Medienberichte und Aussagen von Politiker*innen[2] das Bild des*r Arbeitslosen als faulem Schmarotzer im öffentlichen Diskurs verankert haben, bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes massive Einbussen in der persönlichen Lebensqualität, dem Selbstwertgefühl und der ohnehin schon spärlichen persönlichen Freiheit. So unsinnig die Demonstrationen für den Braunkohletagebau erscheinen: in der Logik des Systems verteidigen die Angestellten von RWE ihre eigene Lebensgrundlage.
An dieser Stelle liesse sich einwenden, dass Umweltschutz in anderen Fällen relativ schnell und unkompliziert auf lokaler oder globaler Ebene eingeführt werden konnten. Das Verbot von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen (FCKW) in Kühlschränken und Spraydosen zum Beispiel liess sich ziemlich schnell und ohne grosse Widerstände umsetzen; das Waldsterben in Nord-, West- und Mitteleuropa konnte durch die zwingende Verwendung von Rauchgasentschwefelungsanlagen in Kraftwerken stark verzögert oder abgewendet werden; die Verschmutzung der europäischen Flüsse bekam man durch ein Verbot der Ableitung ungeklärter Abwässer in die Natur in den Griff. Diese drei Beispiele unterscheiden sich vom Klimawandel in zwei entscheidenden Punkten: zum einen benötigten alle diese Massnahmen nur mehr oder weniger geringfügige technische Änderungen an bestehenden Anlagen und gefährdeten nicht ganze Unternehmen und Wirtschaftszweige. Zum anderen durchdrangen die genannten Probleme nicht weite Teile der globalen Wertschöpfungsketten, sondern liessen sich relativ einfach durch punktuelle Umbauten lösen. Die dennoch auftretenden wirtschaftlichen Belastungen wurden häufig durch Subventionen und staatlich finanzierte Auffangprogramme abgefedert.
Auf der Basis dieser Analyse muss man zu dem Schluss kommen, dass die Voraussetzung wirkungsvoller Klimapolitik die Aufhebung des Systems ist, das die Interessen von Unternehmen höher stellt als die Interessen von Individuen und Gesellschaften. Ein System, das Menschen dazu bringt, gegen die eigenen langfristigen Interessen zu handeln, und das Staaten dazu bringt, das Profitinteresse der ansässigen Unternehmen höher zu werten, als das Interesse seiner Einwohner*innen an einem lebenswerten Leben und einer intakten oder zumindest bewohnbaren Umwelt. Kurz: System Change not Climate Change.
[1] John Edward Emerich Dalberg-Acton: Historical Essays and Studies. Hrsg. v. John Neville Figgis und Reginald Vere Laurence. Macmillan: London 1907, 504. Das englische Original – „Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely“ – nimmt dieser Argumentation allerdings ein wenig den Wind aus den Segeln, da hier nur die Rede davon ist, dass Macht die Tendenz dazu hat, zu korrumpieren, was in der im Deutschen gängigen Übersetzung bequemerweise weggelassen wurde.
[2] Als Beispiel möge hier Franz Münteferings „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ genügen – eine wahre Sternstunde sozialdemokratischer Politik!