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Klimagerechtigkeit heisst: Für einen Umweltschutz der 99%

Der Historiker und Aktivist Milo Probst hat sich in seinem Buch «Für einen Umweltschutz der 99%» mit verschiedenen Umweltschutzanliegen und -bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert auseinandergesetzt und sucht dort nach Verbindungen zwischen sozialen Fragen und Forderungen des Umweltschutzes. Entstanden sind verschiedene Geschichten von Menschen, welche Klimaschutz antirassistisch, feministisch und antikapitalistisch dachten. Wer diese Menschen waren und wieso Umweltschutz auch die soziale Dimension miteinbeziehen muss, wird im folgenden Interview diskutiert, welches erstmals als Podcast bei «Dissens» erschien und von dem wir einige Ausschnitte hier veröffentlichen.

Interview mit Milo Probst; aus antikap

Warum hast du ein Buch über Klimaschutz geschrieben?

Ich versuche an bestehende Debatten und Diskussionen anzuknüpfen. Das Buch soll sich zusätzlich mit der Geschichte auseinandersetzen. Ich wollte eine Spurensuche im 19. und 20. Jahrhundert machen und Beispiele zeigen, wo es Akteur:innen gab, die schon damals versucht haben, Herrschaftskritik und Kritik an der Umweltzerstörung miteinander zu verbinden. Und auf der anderen Seite geht es mir darum, eine Debatte darüber anzustossen, welche Subjekte in der Lage sein könnten oder sollten, eine soziale und ökologische Transformation anzustossen. Denn ich habe den Eindruck, dass linke Diskussionen häufig auf der Ebene der Programmatik bleiben: Man diskutiert, welche Forderungen interessant wären oder welche gesellschaftlichen Alternativen es braucht und wie diese benannt werden sollen. Was aber ein bisschen fehlt, ist meiner Meinung nach eine Diskussion darüber, wer überhaupt diese Veränderungen herbeiführen kann.

Warum muss Umweltschutz aus deiner Sicht links sein?

Von Vielen wird mittlerweile anerkannt, dass die gegenwärtige Klima- und Umweltzerstörung auf Ursachen in unserem Wirtschaftssystem zurückzuführen sind. Ich würde behaupten, dass Umweltzerstörung sehr eng mit der Art und Weise zusammenhängt, wie der heteropatriarchale, rassistische und imperialistische Kapitalismus funktioniert. Ein System, das strukturell Mensch und Natur ausbeutet. Und wenn wir das Problem an der Wurzel angehen wollen, dann müssen wir auch diese Herrschafts- und Unterdrückungsformen überwinden.

Was sofort ins Auge fällt, ist der Titel des Buchs und der Begriff «99%». Was hast du dir beim Titel überlegt?

Ich versuche damit auszudrücken, dass es notwendig ist verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden. Das heisst, dass Umweltschutz eben nicht nur als isoliertes Anliegen betrachtet werden darf, sondern auch als feministische Fragen, als Fragen des Antirassismus und als soziale Frage betrachtet werden soll. Was ich aber mit dieser Formulierung der 99% nicht sagen möchte, ist, dass es bereits jetzt ein solches Kollektiv geben würde, welches einheitlich für eine Veränderung kämpfen würde. Ich sehe diesen Ausdruck eher als ein Projekt oder als einen strategischen Horizont an, den wir ansteuern sollten und weniger als eine soziologische Analyse der Gegenwart. Ferner ist dieses Buch auch sehr stark inspiriert von einem anderen Buch, das von den drei Feministinnen Nancy Fraser, Tithi Bhattacharya und Cinzia Arruzza geschrieben wurde: «Feminism for the 99%». Die drei Autorinnen versuchen dort Feminismus als ein antikapitalistisches, antirassistisches und internationalistisches Projekt zu definieren. Und etwas ähnliches wollte ich mit Bezug auf Umwelt- und Klimafragen auch machen.

Der Begriff «99%» suggeriert jedoch ein bisschen, dass nur das 1% der Superreichen für die Klimakrise verantwortlich ist. Das Leben von den allermeisten Menschen im globalen Norden ist ja aber auch von der Ausbeutung von Menschen und Natur anderswo auf der Welt gekennzeichnet. Ist das dann nicht ein bisschen zu einfach mit dem Begriff der 99%?

Mir ist es sehr wichtig zu betonen, dass aktuell sehr viel mehr als nur 1% der Bevölkerung einem Lebensstil nachgeht, welcher ökologisch gesehen nicht nachhaltig ist. Trotzdem glaube ich aber, dass Umwelt- und Klimaschutz im Interesse einer ganz grossen Mehrheit der Bevölkerung sein könnte, sofern wir eben anders definieren, was Wohlstand ist oder was ein gutes Leben ausmacht. Ich glaube, dass ein Grossteil der Bevölkerung Interesse daran haben könnte, diese Veränderungen mitzutragen. 

Du wirfst in deinem Buch einen Blick auf die Umweltbewegung der vergangenen Jahre und die Arbeiter:innenbewegung und untersuchst, warum diese Bewegungen nicht zusammengefunden haben. Woran machst du das fest und warum ändert sich das jetzt so langsam?

Ich spreche im Buch von einem doppelten Scheitern: einerseits von der Umweltbewegung oder der Naturschutzbewegung, in der beispielsweise die Gründung von Nationalparks und andern Naturschutzräumen dazu geführt hat, dass lokale Bevölkerungsgruppen vertrieben und ausgegrenzt wurden. Also Umwelt- und Naturschutz hat eine lange Geschichte von rassistischer und neokolonialer Politik und dadurch wurden auch mögliche Allianzen wiederholt verunmöglicht. Und auf der anderen Seite hat die Arbeiter:innenbewegung sehr lange ein Misstrauen gegenüber Umweltschutzanliegen entwickelt bzw. befördert. Auch da gilt es, eine interne Kritik der Linken stark zu machen und voranzutreiben, weil auch dort sehr viele blinde Flecken weiterhin existieren.

Interessant im Buch ist, dass du die Gelbwesten-Proteste in Frankreich anführst als Beispiel für einen Umweltschutz der 99%. Da gäbe es ja noch andere Bewegungen; wieso genau diese als ein Beispiel?

Bei den Gelbwestenprotesten ging es auch um grundlegende Forderungen, also um Fragen der Umverteilung, der sozialen Gerechtigkeit, der Frage wie arbeiten wir, etc. Es ging nicht einfach darum, dass irgendwelche autobesessenen Individualist:innen höhere Kosten für ihre Mobilität bekämpfen wollten. Das Beispiel zeigt auch: neoliberale Umweltpolitik verschärft soziale Ungerechtigkeiten und eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik muss soziale Fragen miteinbeziehen. Es geht nicht ohne eine massive Umverteilung von Macht und Ressourcen und eine Demokratisierung der Gesellschaft. Und diese Fragen wurden im Ansatz in dieser Bewegung bearbeitet.

Eine Frage zum Begriff «grüner Kapitalismus» und «grünes Wachstum». Können wir die Klimakatastrophe nicht einfach mit besseren Technologien abwenden? Und warum glaubst du nicht daran?

Einerseits wird das ja seit Jahrzehnten versprochen. Dieses Versprechen der «Entkopplung» zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcenverschleiss – wie es häufig heisst – ist einfach nicht eingetroffen. Und trotzdem macht sie immer noch die dominante Theorie in der Klima- und Umweltschutzbewegung aus. Das andere ist, dass Klimazerstörung und Klimakrise nicht vor uns stehen, sondern dass wir mittendrin stecken. Trotzdem ist nichts passiert. Das macht deutlich, wo die Prioritäten sind in diesem System, nämlich nicht bei denen, die bereits jetzt unter den Folgen der Umweltzerstörung leiden. Das heisst, dieses System zu verändern, ist nicht nur notwendig, weil es die Umwelt zerstört, sondern weil es auch Menschengruppen abwertet, weil es Ungleichheit schafft.

Umweltschutz ist mehr als der Schutz der Natur; muss auch antirassistisch und feministisch sein. Kannst du das noch konkreter beschreiben?

Umweltzerstörung ist auf ein Produktionssystem zurückzuführen, das wachstumsorientiert ist. Die Frage ist nun aber: Wie funktioniert dieses System? Und da gilt es gewisse Grundannahmen, was der Kapitalismus ist, zu überdenken. Kapitalismus ist meiner Ansicht nach nicht nur ein System, das einfach die Lohnarbeitenden ausbeutet, sondern ist auch ein System, das rassifizierte Menschen entmenschlicht, ausbeutet und das Frauen, nicht binäre Menschen oder Transgendermenschen ausbeutet. Das heisst, es gibt hinter der Sphäre der Produktion eine weitere Sphäre, in der Arbeit gratis oder zu einem sehr geringen Preis angeeignet wird und in der auch die Natur kostenlos oder nahezu kostenlos angeeignet wird. Und wenn wir dieses System so begreifen, wird meines Erachtens sehr schnell deutlich, dass es beim Umweltschutz nicht nur darum geht, Ressourcen anders zu verteilen. Bei antikapitalistischer Politik geht es ebenso wenig nur darum, den Arbeitenden bessere Arbeitsbedingungen zu geben. Sondern es geht ebenfalls darum, den tiefsitzenden Sexismus und Rassismus auszumerzen.

Dein Buch ist eine Spurensuche in der Vergangenheit nach den Verbindungen zwischen den Bewegungen. Wo hast du diese Spuren schlussendlich gefunden?

Ich wollte nicht in der altbekannten linken Geschichte nach solchen Spuren zu suchen, sondern auch andere Wege beschreiten, d.h. eine andere, alternative Kartografie der Linken zeichnen und andere Akteur:innen entdecken. Es sind Figuren und Gruppen, welche in der Forschung noch wenig Beachtung gefunden haben. Es sind beispielsweise libertär-sozialistische oder anarchistische Personen bzw. Gruppen, die versucht haben, soziale Fragen mit Umweltfragen zu verbinden. 

Kannst du uns dazu ein Beispiel geben?

Ein Knotenpunkt der verschiedenen Geschichten, die ich versuche im Buch nachzuerzählen, ist ein Anarchist, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Argentinien gelebt hat. Er war Teil einer diversen, anarchistischen Community, die damals in Buenos Aires mit der Migration vom Menschen aus Europa Fuss gefasst hat. Er war journalistisch tätig, hat viele Texte geschrieben und hat auch Utopien entworfen, in welchen die kapitalistische Gesellschaft einer radikalen Kritik unterzogen, alternative Lebensformen entworfen und die Frage der Naturzerstörung thematisiert wurde. Die Erzählung beginnt damit, dass er sich mit einem bekannten Gesicht der anarchistischen Bewegung unterhält. In der überlieferten Korrespondenz zwischen den beiden findet sich eine Diskussion darüber, ob sich die Menschen nicht auch gegenüber von Tieren solidarisch verhalten und die Solidarität auf die Natur ausweiten sollten. Das heisst, es wird ein sehr breiter Solidaritätsbegriff verwendet, der auch die Verbundenheit mit den nichtmenschlichen Wesen der Welt hervorhebt und nicht nur Solidarität zwischen den Menschen als Ziel einer linken Politik postuliert.

Eine weitere Figur aus deinem Buch ist Louise Michel; sie war Teil der Pariser Commune. Wo hat sie mit ihrer Intervention angesetzt?

Louise Michel war Teil einer Diskussion und Praxis alternativer Erziehung und Bildung, an der auch viele andere Anarchist:innen beteiligt waren. Und in diesen alternativen Schulprojekten, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind, ging es darum, die Menschen zu Solidarität zu erziehen. Aber es ging auch darum, eine Achtung der Nicht-Menschen, also der Tiere und der Natur, zu fördern. Dabei wurde eine Ethik der Sorge um Mitmenschen und Natur entwickelt.

Im feministischen Diskurs gibt es auch die Begriffe der Sorge bzw. Care-Arbeit.

Ja, die ökofeministische Kritik am Kapitalismus versucht Parallelen sichtbar zu machen zwischen der Abwertung der Sorgearbeit bzw. der weiblich kodierten Sorgearbeit und der Abwertung von Ökosystemen. Und in feministischen Kämpfen wird eine andere Prioritätensetzung als im Kapitalismus gefordert: Sorge und Respekt vor dem menschlichen und nichtmenschlichen Leben soll im Zentrum stehen und nicht die Erwirtschaftung von Profit.


Das Buch erschien im Rahmen der Reihe «Nautilus Flugschrift» und ist hier erhältlich bei:  edition-nautilus.de

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