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Grundrechte: Handyüberwachung in Corona-Zeiten

Mittlerweile ist auch der breiteren medialen Öffentlichkeit bekannt, dass die Bundesbehörden der Schweiz auf Handydaten der Swisscom zurückgreifen, um Menschenansammlungen ausfindig zu machen, welche aufgrund der Corona-Massnahmen untersagt sind. Zwar findet, laut offiziellen Angaben, noch kein Echtzeit-Tracking statt. Aber es ist höchste Zeit sich zu überlegen, was dies für Konsequenzen für soziale Bewegungen hat.

von Theo Vanzetti (BFS Zürich)

Bereits im Artikel «Am Rande Vermerkt: Von Wegen Demokratie» wurde letzten Herbst darauf hingewiesen, dass bürgerliche Staaten Grundrechte einschränken können, wenn es die Herrschenden für notwendig erachten. Der Artikel ging auf eine Radiosendung über das Schweizerische Vollmachtenregime im und nach dem 2. Weltkrieg ein. Das Parlament entmachtete sich damals selbst und übertrug der Exekutive weitreichende Kompetenzen, welche erst durch den Druck einer Volksabstimmung in den 50er-Jahren wieder abgeschafft wurden. Von einem Zustand wie dem Vollmachtenregime sind wir heute zwar weit entfernt. Es wäre jedoch theoretisch erneut möglich. Die Frage, was der Bundesrat jetzt eigentlich alles tun darf, stellt sich deshalb trotzdem.

Dilemma zwischen Gesundheitsschutz und Repression eines gewalttätigen Staates

In der Republik erklärte der Grundrechtsprofessor Daniel Moeckli anschaulich, weshalb wir uns nicht im Notstand befinden, wann die Regierung Grundrechte einschränken darf und wann sie es tut. Das Wesentlichste: Wir befinden uns nicht im Notstand, da die Bundesverfassung diesen gar nicht vorsieht. Fast alle Grundrechte können aber eingeschränkt werden. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Grundlage (Pandemiegesetz), eines öffentlichen Interessens (Schutz der Gesundheit) und Verhältnismässigkeit. Bei letzterem wird es laut Moeckli kompliziert. Doch ich wage hier jetzt schon mal die Prognose, dass kein Schweizer Gericht die bisherigen Massnahmen des Bundesrates als unverhältnismässig bezeichnen wird. Weiter weist Moeckli darauf hin, dass es beim Schutz der Gesundheit im Endeffekt ebenfalls um ein Grundrecht gehe. Im Gegensatz zu Szenarien wie der Machtergreifung einer diktatorischen Bewegung, wo klar wäre wie sich die Linke positioniert, stehen wir in der Corona-Krise vor einem Dilemma: Aus epidemiologischer Sicht ergibt das Vermeiden von Menschenansammlungen Sinn. Wir sind solidarisch mit den Risikogruppen und waren das auch schon vor all denen, die vor einem Monat noch nicht einmal wussten, wie man Solidarität buchstabiert. Doch die flächendeckende Auswertung von Mobilfunkdaten ist selbstredend bedenklich. Bevor darauf eingegangen wird, stelle ich hier den aktuellen Stand dar, wie er sich laut öffentlichen Informationen darstellt.

Wer überwacht jetzt übers Handynetz was? Und was kann noch kommen?

Der Einsatz von Daniel Koch (Bundesamt für Gesundheit, BAG) scheint unermüdlich zu sein und soll in diesem Artikel genauso wenig schlechtgeredet werden wie jener aller Pfleger*innen, Kleinkindererzieher*innen, Ärzt*innen, Arbeiter*innen in der Lebensmittelbranche und allen anderen, die uns vor einem Chaos bewahren. Jedenfalls äusserte sich Koch unter anderem vergangenen Donnerstag zur Nutzung der Mobilfunkdaten. Man habe die Swisscom angefragt, um Bewegungsprofile erstellen zu können. Dies geschieht (noch) nicht in Echtzeit, sondern rückwirkend für die letzten 48 Stunden. Ausserdem geschehe dies nur im öffentlichen Raum (SRF-Newsticker, Stand am 26. März 2020). An anderen Pressekonferenzen betonten die Bundesbehörden, diese Daten würde nur eine Person im BAG sehen und seien anonymisiert. Letzteres klingt für den Moment plausibel. Dass die Daten in irgendeiner Form an die lokalen Polizeicorps weiterfliessen und nicht in der Amtsstube des BAG bleiben, sollte jedoch klar sein. Ansonsten nützen die Daten wenig, um Menschenansammlungen aufzulösen.

Am Montag, 30. März 2020, befasste sich die Radiosendung Rendéz-Vous des SRF ausführlicher mit dem Thema. Die Einführung der Echtzeitüberwachung scheint immer realistischer und ist ausserdem mit bestehenden gesetzlichen Grundlagen auch möglich. Unter anderem durfte sich der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger im Rendéz-Vous äussern.[1] Er führte aus, dass derzeit eine App «nach asiatischem Vorbild» geprüft werde, welche es den Behörden gerade dann ermögliche, Menschenmengen in Echtzeit aufzuspüren, wenn wir uns im Frühsommer vielleicht wieder mit mehr als 5 Personen treffen dürfen, aber der grosse Freibad-Spass weiterhin untersagt bleiben könnte. Doch die App sei dann freiwillig. Wie freiwillig dies dann umgesetzt wird, werden wir ja sehen. Unklar ist, was Lobsiger genau mit «asiatischem Vorbild» meint. Zu befürchten ist, dass er sich an der Volksrepublik China orientiert. Wird dieser nahezu perfekt ausgebaute Überwachungsstaat zu einem Vorbild, wird es sehr ungemütlich. China bedient sich allen digitalen und analogen Möglichkeiten um seine Leute auszuspionieren. In chinesischen Städten ist ein unbemerktes Fortbewegen bereits von Einzelpersonen unmöglich. Soweit zu den Fakten auf dem Stand vom 30. März 2020.

Welche Fragen stellen sich für soziale Bewegungen?

Zumindest für Betroffene und Leute, die sich schon länger mit Antirassismus befassen, ist es zwar offensichtlich. Doch gerade, weil es diese Tage viel zu wenig thematisiert wird, greife ich es hier auf. Die Polizei ist jetzt also unterwegs und kann Leuten, die in einer Gruppe ab 6 Personen sind, Ordnungsbussen verteilen. Potenziell kann sie aufgrund von Handydaten jene Orte aufsuchen, welche stark frequentiert werden. Weil die Polizei dies macht und da so wenige Leute auf den Strassen unterwegs sind, ist es für gerade Sans Papiers momentan wohl so schwierig wie selten zuvor, gegenüber der Polizei nicht aufzufallen. In einer Zeit, in der Grundrechte wie Versammlungsfreiheit pauschal und flächendeckend eingeschränkt werden können und der gesetzliche Arbeitsschutz für das Gesundheitspersonal ausgesetzt wird, muss man in Bezug auf Bleiberechtsfragen Forderungen wie kollektive Regularisierungen aufs Tapet bringen. Eine weitere Forderung, die für Betroffene eine unmittelbare Verbesserung bringen würde, wäre, dass die Polizei Verstösse gegen das Ausländergesetz und das Asylgesetz per sofort und bis auf weiteres nicht mehr ahndet. Ein Staat, der das Arbeitsgesetz aussetzen kann, kann dies auch mit anderen Gesetzen tun. Diese Forderung kann aber nur ein Zwischenhalt im Kampf gegen Grenzen sein, weil diese Forderung im Umkehrschluss das Asyl- und Migrationsregime weitgehend legitimiert und somit problematisch ist.

Ein anderer wichtiger Punkt, welcher aber nicht direkt mit der Handy-Ortung zu tun hat, ist folgender: Bei vielen Leuten in der Schweiz ist wohl noch nicht angekommen, wie krass der Rassismus gegenüber allen Personen geworden ist, welche aufgrund rassistischer, postkolonialer Stereotype als «Migrant*innen» gesehen werden. Hier die Büroangestellte, welche aufgrund perfiden Denunziantentums zum Chef zitiert wird und auf ihren kürzlichen Familienurlaub in Kalabrien angesprochen wird, während ihr Arbeitskollege, der letztens übers Wochenende in Bologna war, aber halt einen anderen Nachnamen hat, sich nicht rechtfertigen muss. Da der Typ, der auf der Strasse tätlich angegangen wird, weil irgendjemand denkt, er könnte ja aus China kommen und was ihm eigentlich einfalle, keine Maske zu tragen. Diese Leute haben – im Gegensatz zu all den KMU-Patrons – unsere Solidarität verdient.

Einiges trivialer, aber für die ganzen eher privilegierten Aktivist*innen unter uns doch noch wichtig, bleibt folgende Konsequenz. Dass der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) mit der sogenannten Kabelaufklärung die Möglichkeit hat, unsere Kommunikation potenziell abzuhören, ist bekannt. Dasselbe gilt für die Metadaten (wer unterhält sich mit wem, welche Netzwerke bestehen), zu denen man im weiteren Sinn auch die aktuell vom Bund verwendeten Handystandorte mitzählen kann. In ‘normalen’ Zeiten ist es aber sehr unwahrscheinlich, dass sich der NDB und seine verlängerten Arme, die jeweiligen mit Staatsschutzaufgaben beauftragten Abteilungen der kantonalen und städtischen Polizeicorps, für Leute interessieren, die beispielsweise plakatieren gehen. Und ganze 30 Prozent der kriminalpolizeilichen Ressourcen gehen in der Schweiz sowieso für Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz drauf. Doch wenn jetzt der Staat anfängt, mittels Handydaten Crowd-Management zu betreiben, ist es derzeit wohl besser das Handy einmal zuviel als zuwenig zu Hause zu lassen. Wäre ja blöd, wenn man mit einigen Leuten unterwegs ist (natürlich immer mit 2 Meter Abstand), die Polizei denkt, jetzt könne sie ein paar Jugendliche belehren, dass sie doch besser nicht draussen rumhängen sollen, und man dann wegen Plakatieren eine Busse kassiert.

Fazit und Ausblick

Wir leben in einer bürgerlichen Schönwetterdemokratie und fast alle Grundrechte sind spätestens im Krisenfall flexibel. Dieser Fall ist jetzt eingetreten. Aber wir sind noch sehr weit von Zuständen wie einem erneuten Vollmachtenregime entfernt. Es gilt sehr genau zu beobachten, was die Behörden bezüglich Handy-Ortung planen. Und wenn der Diskurs von Forderungen nach einer freiwilligen App hin zu einer verpflichtenden Freigabe seiner Echtzeit-Standorte kippt, müssen wir bereit sein, die richtigen Antworten darauf zu geben.

Von sämtlichen staatlichen Kontroll- und Repressionsmechanismen sind jene am stärksten betroffen, die auch ohne Corona-Krise prekarisiert und marginalisiert werden. Alle sozialen Probleme, Ungleichheiten und Gegensätze, welcher der rassistische und patriarchale Kapitalismus produziert, sind nun in dieser Krise wie in einem Vergrösserungsglas sicht- und für die Betroffenen spürbar. Für einen weiterführenden Artikel zu diesem Thema wäre es interessant aufzuzeigen, wie heuchlerisch es ist, dass gerade jene Wirtschaftsliberale nun zu vehementen Verfechter*innen von Grundrechten werden, welche ansonsten gar nicht oft genug betonen können, dass es mehr Law and Order und einen Nachtwächterstaat braucht. Die NZZ wird zum Beispiel nicht Müde zu betonen, wie wichtig unsere Freiheitsrechte sind und vergleicht die derzeitige Entwicklung bereits mit «geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang». Es ist davon auszugehen, dass vielleicht auch die eine oder andere Freizeitaktivität dieser Bonzen ins Wasser fiel. Im Kern geht es aber wohl vor allem darum, dass die Wirtschaft, also wir, möglichst bald wieder produktiv werden soll.


[1] Dass es diesen Posten überhaupt gibt ist ein erkämpftes Recht im Nachgang zur Fichenaffäre in den 1990ern. Heute sitzt mit Lobsiger ein ehemaliger, hochrangiger Fedpol-Beamter auf diesem Posten. Von einem Ex-Polizisten müssen wir also nicht viel Datenschutz erwarten.

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