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Die SVP greift die Personenfreizügigkeit an – welche Antwort von links?

Am 27. September 2020 stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die «Begrenzungsinitiative» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ab. Die Initiative sieht vor, die Personenfreizügigkeit (PFZ) zwischen der Schweiz und der EU ausser Kraft zu setzen und zu früheren Formen des innereuropäischen Migrationsregimes (Saisonnierstatut) zurückzukehren. Die Initiative ist arbeiter*innen- und fremdenfeindlich und gehört abgelehnt. Die institutionelle Linke reagiert auf die Initiative allerdings mit ihrer gewohnten unreflektierten pro-EU-Haltung. Damit macht sie es sich zu einfach.

von BFS Zürich

Die fremden- und arbeiter*innenfeindliche SVP

Die SVP-Exponent*innen Magdalena Martullo-Blocher, Thomas Aeschi, Jean-François Rime und Jean-Daniel Faucherre – allesamt Unternehmer*innen oder Wirtschaftsberater*innen mit beträchtlichen Vermögen – meinten bei der Lancierung der Initiative am 30. Januar 2018, dass die Gewerkschaften die Gewinnerinnen des Personenfreizügigkeitsabkommens und der damit verbundenen Flankierenden Massnahmen seien (Erklärungen siehe weiter unten). Die hiesigen Löhne würden dadurch zu stark geschützt und der liberale Arbeitsmarkt sei aufgrund der kartellhaften Politik der Gewerkschaften in Gefahr. Insbesondere die Gesamtarbeitsverträge (GAV) würden der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz im Wege stehen.

Da die 2014 angenommene «Masseneinwanderungsinitiative» nicht nach den Wünschen der SVP umgesetzt wurde, lancierte sie im Januar 2018 die «Begrenzungsinitiative», welche eine noch rigidere Steuerung der Zuwanderung verlangt, als sie ohnehin schon existiert. Falls sich bei Annahme der Initiative die Schweiz und die EU nicht auf die Umsetzung der Gesetzesvorlage einigen können, müsste das Personenfreizügigkeitsabkommen in der Folge gekündigt werden. Damit könnte die SVP zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens könnte sie sich einmal mehr als heimatliche Anti-EU-Partei in Szene setzen. Zweitens würden die ihr lästigen Flankierenden Massnahmen hinfällig werden.

Interessanterweise findet sich die SVP mit ihrem Vorhaben, die Flankierenden Massnahmen abzuschaffen, auf einer Linie mit der EU und eines Teils der Schweizer Verhandlungsdelegation, welche die Verhandlungen über das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU (quasi der institutionelle Überbau der Bilateralen Verträgen) in den kommenden Monaten wieder aufnehmen wollen.

In den vergangenen Jahren rechtfertigte die SVP ihre fremdenfeindlichen Initiativen jeweils auch mit dem angeblichen Schutz der Schweizer Lohnabhängigen vor der ausländischen Konkurrenz und versuchte damit die Lohnabhängigen zu spalten. Dieses Mal legt die SVP die Karten gleich zu Beginn der Kampagne offen auf den Tisch. Sie greift die Arbeiter*innen argumentativ direkt an und macht deutlich, welche Interessen sie wirklich vertritt: nämlich diejenigen eines Teils der Schweizer Bourgeoisie.

Die Initiative der SVP ist somit fremden- und arbeiter*innenfeindlich zugleich. Die Frage bleibt, ob die Linke nun als Reaktion darauf die Personenfreizügigkeit und die damit verbundenen Flankierenden Massnahmen bedingungslos zu verteidigen hat? Wir haben einen anderen Vorschlag.

Wirkungslose Flankierende Massnahmen

Das Abkommen über den „Freien Personenverkehr“ ist ein Grundpfeiler der Europäischen Union. In den bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und den Mitgliedsstaaten der EU wurde die Personenfreizügigkeit ebenfalls ratifiziert und ist seit 2002 in Kraft. Das Abkommen gewährt den Staatsangehörigen der EU und der Schweiz das Recht, innerhalb der EU ihren Arbeitsplatz bzw. Aufenthaltsort frei zu wählen.

Die Flankierenden Massnahmen wurden 2004 als Begleitung des Personenfreizügigkeitsabkommens eingeführt. Sie sollen erstens die Schweizer Löhne und Arbeitsbedingungen vor Unterschreitungen schützen („Lohndumping“). Zweitens sollen sie gleiche Wettbewerbsbedingungen für inländische und ausländische Unternehmen gewährleisten. Damit verbunden sind Kontrollen zur Einhaltung der Löhne/Arbeitsbedingungen und Massnahmen bei Verstössen. Die Flankierenden Massnahmen umfassen im Wesentlichen das Entsendegesetz (Inhalt: Anmeldefrist von 8 Tagen und «Verpflichtung» zur Einhaltung von Schweizer Löhnen und Arbeitsbedingungen für kurzzeitig in der Schweiz beschäftigte ausländische Arbeiter*innen), die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung der GAV und die Möglichkeit zum Erlass von Normalarbeitsverträgen (NAV) in Branchen ohne GAV.

Das klingt zwar schön, ist in der Realität aber mit gravierenden Problemen verbunden. Denn entgegen der Behauptung sowohl der Gewerkschaften als auch der SVP vermögen die Flankierenden Massnahmen, die hiesigen Arbeitsbedingungen und Löhne nicht zu schützen.

Die Kontrollen sind zu lasch und sowohl die GAV als auch die NAV sind keine Garantie für gute Arbeitsbedingungen (siehe Tabelle weiter unten). Deshalb führte die Einführung der Personenfreizügigkeit zu einer massiven Zunahme von Lohn- und Sozialdumping. Für die Schweizer Unternehmer*innen gleicht das Abkommen seither einem Freipass, die europäischen und schweizerischen Lohnabhängigen in Konkurrenz zueinander zu setzen und die Arbeitskosten auf dem Buckel der Lohnabhängigen zu senken.

Fünf Forderungen für einen wirklichen Arbeiter*innenschutz

Als die Personenfreizügigkeit 2005 auf die neuen EU-Mitgliedstaaten ausgedehnt und die Flankierenden Massnahmen abgesegnet werden sollten, ergriff die Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) das linke Referendum dagegen, weil wir die Flankierenden Massnahmen als völlig ungenügend und unwirksam betrachtet haben. Die Gewerkschaften und die SP unterstützten hingegen das Personenfreizügigkeitsabkommen.

Wir waren deshalb ziemlich isoliert, als wir das linke Referendum lancierten. Ins Zentrum unserer Argumentation stellten wir fünf elementare Forderungen:

  1. 800 Arbeitsinspektor*innen, die unangemeldet die Betriebe kontrollieren und Zugang zu allen Unterlagen haben sollten (Inspektor*innen mit klaren Rechten und Schutzmechanismen, also mit deutlich mehr Befugnissen als sie jetzt haben).
  2. Obligatorische Meldung der Löhne und Qualifikation der eingestellten Arbeiter*innen an die zuständigen Stellen.
  3. Zwingende Normalarbeitsverträge mit Mindestlöhnen und verbindlichen Arbeitszeiten für Sektoren ohne Gesamtarbeitsvertrag.
  4. Eine GAV-Allgemeinverbindlichkeitserklärung (GAV-Bestimmungen erhalten Gesetzeskraft) muss auch dann möglich sein, wenn sie nur von Seite der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen beantragt wird.
  5. Wirksamer Kündigungsschutz für Personalvertretungen und Gewerkschaftsaktivist*innen sowie generell für alle Lohnabhängigen.

Heute sind diese Forderungen keineswegs überholt, sie sind sogar noch dringender geworden.

Keine Personenfreizügigkeit ohne Gewerkschaftsrechte

Selbstverständlich setzen wir uns für die Bewegungsfreiheit aller Menschen ein, und das nicht nur in Europa. Allerdings muss diese Freiheit von tatsächlich greifenden Massnahmen zum Schutz der Arbeitsbedingungen und Löhne begleitet werden. Dies ist mit den aktuellen Flankierenden Massnahmen nicht der Fall.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ergriff 2005 ebenfalls das Referendum, allerdings aus fremdenfeindlichen Gründen. Dies trug uns Aktivist*innen der BFS den Vorwurf der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ein, mit der SVP einen Pakt geschlossen zu haben und selbst fremdenfeindlich zu sein. Die Entwicklung auf den Schweizer Arbeitsplätzen – die krasse Zunahme von Lohndumping, regelmässige Fälle von sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, unkontrollierbares Subunternehmertum etc. – straft diesen Vorwurf Lügen und beweist, dass unsere Befürchtungen gerechtfertigt waren. Mittlerweile haben ein Teil der Gewerkschaften und sogar einige SP-Exponent*innen eingesehen, dass sich das Lohndumping seit der Einführung der Personenfreizügigkeit von einer Randerscheinung zu einem veritablen Problem entwickelt hat, welches nicht zuletzt dafür verantwortlich ist, dass viele Lohnabhängige in der Schweiz berechtigte Ängste um ihren Lohn und ihren Arbeitsplatz hegen und folglich empfänglicher wurden für die rassistischen Scheinlösungen der SVP (Masseneinwanderungsinitiative u.a.) und deren Hetze gegen Migrant*innen.

Die falsche Reaktion der Gewerkschaften

Auf die «Begrenzungsinitiative» reagiert der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hingegen mit dem gleichen Reflex wie schon 2005. Der SGB verteidigt die positiven Auswirkungen der Personenfreizügigkeit für die Unternehmer*innen und den Schweizer Arbeitsmarkt. «Indem sie [die Bilateralen Verträge] den Export unserer Produkte und Dienstleistungen ermöglichen, garantieren sie gute Arbeitsplätze und gute Löhne im Land», heisst es im Abstimmungsargumentarium des SGB. Zudem huldigt der SGB wie gewohnt und fernab der Realität die Flankierenden Massnahmen als das wirksamste Schutzschild für die Arbeiter*innen gegen Ausbeutung und Lohndumping.

Die Gewerkschaften haben insofern Recht, als dass das Personenfreizügigkeitsabkommen für einen Grossteil der Schweizer Unternehmer*innen quasi eine Überlebensnotwendigkeit im internationalen Konkurrenzkampf darstellt. Der Zugang von europäischen Arbeitskräften zum Schweizer Arbeitsmarkt ist für das Schweizer Kapital unerlässlich, um die industrielle Reservearmee konstant zu halten und ein Ansteigen der Löhne zu verhindern.

Dazu kam in den letzten Jahren die allgemeine Schwierigkeit, ihre Profite mittels angemessener Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Schweizer Unternehmer*innen bleibt – abgesehen von all den Möglichkeiten, die Kapitalkosten zu verringern (Steuerhinterziehung und dergleichen) – oftmals nur noch der Weg, die absolute Zahl an geleisteten Arbeitsstunden zu erhöhen. Neben einer allgemeinen Erhöhung der Arbeitszeit (wie insbesondere nach dem «Frankenschock» 2015 geschehen), der Integration von mehr Frauen in den Arbeitsmarkt und der Anhebung des Rentenalters für Männer und Frauen, ist die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften eine Notwendigkeit, um wirtschaftliches Wachstum – sprich die Steigerung ihrer Profite – zu gewährleisten.

Quelle: Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement

Dass die Gewerkschaften die EU-freundliche Politik der Unternehmen mittragen, geschieht jedoch alles andere als uneigennützig. Denn um die Migration von Arbeiter*innen aus Europa zu gewährleisten, waren die Schweizer Unternehmen in der Vergangenheit bereit, den Gewerkschaften Zugeständnisse in Form der Inkraftsetzung von Flankierenden Massnahmen und eines Ausbaus der Gesamtarbeitsverträge (GAV) zu machen. Und dies erklärt wiederum den Gehorsam der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmerverbänden in der Frage der Personenfreizügigkeit. Denn die Gesamtarbeitsverträge tragen einen beträchtlichen Teil zur Finanzierung der Gewerkschaften bei. Indem die Gewerkschaften einen Teil der paritätisch von Arbeiter*innen und – in geringerem Ausmass – von Unternehmer*innen einbezahlten Berufsbeiträgen verwalten, finanzieren sie sich selbst. Aufgrund dieser finanziellen Abhängigkeit sind die Gewerkschaften auf Gedeih und Verderb auf die GAV angewiesen.

Notwendigkeit einer kämpferischen Gewerkschaftspolitik

Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch andere Teile der Linken reagieren auf die Initiative der SVP mit einer pauschalen Verteidigung des Status quo. Die Flankierenden Massnahmen werden insbesondere gelobt, weil sie angeblich die Entstehung eines Niedriglohnsektors verhindern würden. Kurz nach der Lancierung der Initiative meinte die WOZ in ihrer Ausgabe vom 1. Februar 2018, dass «die flankierenden Massnahmen mit ihren Lohnkontrollen […] so weit wie möglich [verhindern], dass in der Schweiz Niedriglohnjobs wie beispielsweise in Deutschland entstehen.»

Das Kleinreden oder Ignorieren von hiesigen Niedriglöhnen von linker Seite hat damit zu tun, dass ein Teil dieser prekarisierten Arbeitsbedingungen mit dem Segen der Gewerkschaften und dem Siegel des Gesamtarbeitsvertrages offiziell beglaubigt wurden. Und in der Logik der Gewerkschaften kann eine Branche, in der es einen GAV gibt, keine Niedriglohnbranche sein.

Um die Realität wieder vom Kopf auf die Füsse zu stellen, hier zwei Beispiele: im GAV der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM) sind Mindestlöhne zwischen 3300 und 4150 Franken festgelegt; im L-GAV des Gastgewerbes gelten Mindestlöhne ab 3400 Franken. Diese Mindestlöhne sind offiziell Niedriglöhne, was die Gewerkschaften ja mit ihrer Mindestlohninitiative 2014, mit der sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken forderten, indirekt auch zugaben.

MindestlöhneGAVNAV in Zürich
Maschinenbau3300-4150 Fr.3850 Fr.
Detailhandel3415 Fr.
Gastronomie3400 Fr.
Weder die GAV noch die NAV sind eine Garantie gegen Niedriglöhne. Quelle: eigene Darstellung

Zurzeit werden jede Woche Massenentlassungen angekündigt: Credit Suisse, SR Technics, Gate Gourmet, Swiss, Sulzer, Tornos, Schindler, Hotelplan, dem Reisedetailhändler Dufry, Manor etc. Dazu kommen die stetigen «Strukturbereinigungen» im Gastgewerbe und der Eventbranche, wie die Wirtschaftspresse die Abwälzung der gegenwärtigen Krise auf die Arbeiter*innen euphemistisch bezeichnet. All diese Angriffe auf die Rechte und Arbeitsbedingungen aller Lohnabhängigen in der Schweiz verlangen nach einer anderen, kämpferischen Antwort und einem tatsächlichen Schutz vor Lohndumping und Entlassungen. Sowohl die fremdenfeindliche «Begrenzungsinitiative» als auch die mantramässige Verteidigung der zahnlosen Flankierenden Massnahmen sind der falsche Weg.

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2 Kommentare

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