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Die AHV als Vorbild für die soziale Finanzierung des Gesundheitswesens

Es ist kein Geheimnis, dass das Schweizerische Gesundheitssystem neoliberal umstrukturiert wird, so auch seine Finanzierung. Die bürgerliche Politik und die Unternehmer:innen spielen den Lohnabhängigen hier vor, dass ein liberaleres, privatisiertes Gesundheitssystem eine Verbilligung der Krankenkassenprämien ermöglicht. Doch die einzigen Nutzniesser sind die nationalen und internationalen Gesundheitsunternehmen, die ihre Profite maximieren, indem sie das schweizerische Gesundheitssystem privatisieren, exklusiver gestalten und aushöhlen. Auch die Herangehensweise der Sozialdemokratie bietet keine wirkliche Alternative. Ihre aktuelle Initiative, die Krankenkassenprämien für alle Einkommensklassen auf maximal 10% des verfügbaren Einkommens festzusetzen, würde zwar einkommensschwächere Lohnabhängige entlasten. Allerdings bliebe die Finanzierung des Gesundheitssystems hochgradig unsozial und das grundlegende Problem der Privatisierung des Gesundheitssystems würde nicht tangiert. (Red.)

von Benoit Blanc; aus alencontre.org

Die Ideen und Verbesserungsvorschläge, die sich im Vorfeld der Bundesratswahlen zum Thema Krankenkassen summieren, hat für Aufregung gesorgt. Und dabei kommt so einiges zusammen: die Forderung nach Abschaffung des Versicherungsobligatoriums (Natalie Rickli, Zürcher SVP-Regierungsrätin Vorsteherin der Gesundheitsdirektion), ein Prämienstopp (Fédération romande des consommateurs (FRC)), die Idee einer Low-Cost-Versicherung (Philippe Nantermod, FDP-Nationalrat und Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit), die öffentliche Versicherung und Prämienobergrenze (SP) oder die Deckelung des Kostenanstiegs (Mitte). Die Häufung an Angriffen auf die Lohnabhängigen scheint fast perfekt. Selbst die “Mutter des Krankenversicherungsgesetzes”[1], die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss (1993-2002), wurde noch zu Rate gezogen, und ihre Diagnose machte dabei Furore: “Es gibt einfach zu viele Pilot:innen im Flugzeug”. Aber ist die schiere Überzahl an Ideen wirklich die eigentliche Sorge?

Von den Gesundheitsbedürfnissen der Lohnabhängigen und den Bedingungen, unter denen sie erfüllt werden können, ist hingegen kaum die Rede. Deshalb sollen hier einige Punkte genannt werden, die zu einer Neuausrichtung beitragen können.

Das eigentliche Ziel eines Gesundheitssystems

Das Ziel, an dem sich soziales und politisches Handeln in Bezug auf das Gesundheitssystem orientieren sollte, ist die Entwicklung von Dienstleistungen, die allen Menschen unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht und Aufenthaltsstatus Zugang zu medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung bieten. Diese sollen dem “state of the art” in diesen Bereichen entsprechen und vom Personal unter menschenwürdigen Bedingungen erbracht werden. Ein solches System kann seine volle Wirksamkeit aber nur entfalten, wenn es auch durch eine Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik begleitet wird, die sowohl Lebens- und Arbeitsbedingungen als auch eine Umwelt schafft, die der Gesundheit der Bevölkerung förderlich ist.

Die Schlagzeilen der letzten Monate verdeutlichen, dass das Schweizer Gesundheitssystem seinen grundlegenden Zweck verfehlt.

Der dringende Ausbau des Gesundheitswesens

Um dieses Ziel zu erreichen, besteht die Herausforderung heute und in den kommenden Jahren nicht darin, “bei der Gesundheit zu sparen”, sondern im Gegenteil darin, konsequent in das Gesundheitswesen zu investieren. Dafür gibt es drei Gründe:

1. Abgesehen von der akutsomatischen Medizin [Körperbehandlung bei Notfällen, Anm. d. Red.] ist die derzeitige Versorgung in mehreren Bereichen nicht zufriedenstellend: So die Mängel in den Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege; die fehlenden Ärzt:innen in bestimmten Regionen oder für bestimmte Fachrichtungen; die unzureichende Unterstützung für Menschen, die immer schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden; ganz zu schweigen vom beschämenden Mangel an Pflegeangeboten für Sans-Papiers, der eines der deutlichsten Beispiele für die unzureichende gesundheitliche Fürsorge ist.

2. Die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, aber auch in den Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege müssen unbedingt verbessert werden zum Wohle des Personals und zur der Qualität der Patient:innenversorgung: Verringerung der Arbeitsintensität, Verkürzung der Arbeitszeit, entsprechende Erhöhung des Personalbestands und Anhebung der Löhne. Diese Massnahmen würden sogar dem Inhalt der von der Bevölkerung angenommenen Initiative für eine starke Pflege (28. November 2021) entsprechen. Allerdings sind solche Massnahmen ohne bedeutende Investitionen in die Pflege undenkbar.

3. Der allmähliche Eintritt der Babyboomer in das hohe Alter wird in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu einem erhöhten Bedarf an Mitteln und Leistungen führen.

Das Finanzierungsmodell der AHV als Vorbild

Vor diesem Hintergrund muss die Frage der Finanzierung gestellt werden. Und zwar auf zwei verschiedenen Ebenen:

Einerseits auf der makroökonomischen Ebene, wo man sich fragen muss, ob sich eine Gesellschaft wie die Schweiz langfristig eine Erhöhung der Mittel für das Gesundheitswesen überhaupt leisten kann? Die Antwort ist aber eigentlich klar und lautet: Ja, und zwar ohne die geringsten Schwierigkeiten (siehe unten für einige zusätzliche Argumente).

Andererseits wird man sich fragen müssen, wie diese Ausgaben finanziert werden sollen? Und hier wird rasch klar werden, dass nur eine solidarische Finanzierung auf Dauer in der Lage sein kann, eine Finanzierung des Gesundheitswesens zu ermöglichen und gleichzeitig einen allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Ein solidarisches Vorbild könnte das Finanzierungsmodell der AHV, der IV und der Erwerbsausfallversicherung sein: diese Versicherungen finanzieren sich aus dem Betrag, den die Arbeiter:innen direkt von ihrem Lohn in Abhängigkeit zum jeweiligen Einkommen leisten, zusammen mit dem Beitrag der Unternehmer:innen in mindestens gleicher Höhe. Das von der SP gegenwärtig angestrebte Modell einer Deckelung der Kopfprämien ist hingegen lediglich eine Notlösung.

Das unsoziale Finanzierungsmodell via Kopfprämien

Die derzeitige Finanzierung der Krankenversicherung durch Kopfprämien ermöglicht es hingegen gerade den Unternehmer:innen und wohlhabenden Personen, massiv im Gesundheitswesen zu sparen. Diese Finanzierungsform, die dauerhaft einen finanziellen Engpass für das Gesundheitssystem schafft, ist eben auch ein Mechanismus, um neoliberale Strukturveränderungen durchzusetzen, die weder von den Patient:innen noch von der Mehrheit der Pflegekräfte gewünscht werden. Konkret wird so die Macht der Versicherungen gestärkt, eine Überbelastung der Krankenhäuser durch chronische Unterfinanzierung gefördert und der Zugang der Patient:innen zur Gesundheitsversorgung unter dem Vorwand der “Eigenverantwortung” eingeschränkt.

Die Unternehmen sind Schuld an den steigenden Kosten

Die in den letzten zwei Jahrzehnten eingeführten Finanzierungsmodelle für Krankenhäuser und für die Langzeitpflege mittels Fallpauschalen (DRG) haben den Weg für die Entwicklung privater, gewinnorientierter Unternehmen geebnet, die am Gesundheitswesen vor allem als Investitionsfeld interessiert sind: Ihr Wettbewerbsvorteil würde die Verbreitung sogenannt “effizienterer” Organisationsmodelle fördern, was wiederum zu sogenannten Kosteneinsparungen führen würde. Das Geschäftsmodell der beteiligten kapitalistischen Unternehmen zielt jedoch tatsächlich darauf ab, ihren eigenen Umsatz und ihre Gewinnspanne zu steigern [indem „unrentable“ Dienstleistungen abgebaut und die Löhne der Dienstleistenden gesenkt werden; Anm. d. Red.]. Von einer “slow medicine”, die einen “sparsamen” Umgang mit Ressourcen mit sich bringen würde, sind wir damit also weit entfernt. Neben der Kostendämpfung durch Erhöhung des Drucks auf die Beschäftigten versuchen die Gesundheitsunternehmen auch exorbitante Monopolpreise durchzusetzen – wenn dies wie im Fall der Medikamente möglich ist. Kurz gesagt: Wenn es einen Inflationstreiber im Gesundheitssektor gibt, dann ist er bei den Unternehmen zu suchen.

Die derzeitige Politik reagiert auf diesen Widerspruch zwischen der behaupteten der Optimierung des Gesundheitswesens und der eigentlichen Absichten, das Gesundheitswesen für persönliche Profitmaximierung zu schröpfen nicht etwa mit einer Aufwertung des Service Publique. Im Gegenteil, sie kombiniert eine Flut von (Mikro-)Regulierungen und peniblen Versicherungskontrollen, die die Pflegenden mit endloser und sinnloser Verwaltungsarbeit überhäufen, mit einer schrittweisen Einschränkung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung durch eine Vervielfachung der Bestimmungen (hohe Franchise, “Hausarztmodelle” und andere Modelle, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern). Der Mechanismus institutionalisiert also in der Realität eine Mehrklassenmedizin.

Die Daten zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben

Die USA geben umgerechnet etwa 17% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Gesundheitsausgaben aus. Die Schweiz befindet sich mit weniger als 12% im selben Kreises europäischer Länder wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich, Schweden oder Dänemark. Das Gesundheitssystem der USA ist im Hinblick auf den allgemeinen Zugang zu medizinischer Versorgung für einen grossen Teil der Bevölkerung aber auch eine völlige Katastrophe. Für die wirtschaftliche Entwicklungen sind die verhältnismässig hohen Gesundheitsausgaben dort bezeichnenderweise jedoch kein Hindernis.

Ausgehend von dieser allgemeinen Feststellung lassen sich die Herausforderungen der Finanzierung des Gesundheitssystems anhand einiger Kennzahlen konkreter verorten. Die folgende Tabelle soll auf Basis der Daten von 2020/2021 anzeigen, um wie viel sich der Lohnbeitrag durch die Arbeitenden im Vergleich zum derzeitigen Betrag erhöhen müsste, um verschiedene Aspekte der Gesundheitsausgaben zu finanzieren.

Eigene Grafik auf Basis von Daten des Bundesamtes für Statistik

Die SP-Initiative zur Deckelung der Krankenkassenprämien

Die Initiative der SP will die Krankenkassenprämien auf 10% des verfügbaren Einkommens begrenzen, wobei Bund und Kantone Zuschüsse zahlen [laut ursprünglich vorgesehenem Initiativtext zu 2/3 durch den Bund, laut indirektem Gegenvorschlag, der von National- und Ständerat angenommen wurde, zu deutlich niedrigeren Finanzausgaben und stärker durch die Kantone getragen; Anm. d. Red.]. Die Zielsetzung der SP ist eine Antwort auf die Tatsache, dass die Prämien für viele Haushalte heute eine wesentlich höhere Ausgabe darstellen, und wird von der politischen Rechten bekämpft. Ruth Dreifuss erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass der Bundesrat, als das aktuell gültige Krankenversicherungsmodell 1994 zur Abstimmung gekommen war, behauptet hatte, dass die Zuschüsse es ermöglichen würden, die Belastung durch die Krankenkassenprämien auf 8% des Einkommens zu begrenzen (CHSS, 2. September 2016). Die Ambitionen der SP halten sich im Vergleich hierzu also stark in Grenzen.

Die Grenzen der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik

Der Vergleich mit einer lohnabhängigen Finanzierung nach dem Vorbild der AHV zeigt, dass ein viel niedrigeres Beitragsniveau eigentlich ausreichen würde. So würde ein progressiv gesteigerter direkter Lohnbeitrag durch die Arbeiter:innen von etwa 3,2 Prozent[2] den Gegenwert der heutigen Krankenkassenprämien decken. Selbst wenn die Arbeiter:innen und die gesamten Ausgaben (einschliesslich des Unternehmer:innenanteils) bezahlen würden, läge das Niveau mit 6,3% deutlich unter den von der SP angestrebten 10%. Der Grund dafür ist ganz einfach: Die von der SP vorgeschlagene Obergrenze begrenzt die Belastung der Krankenversicherung für Geringverdienende.

Sie akzeptiert allerdings auch, dass hohe Einkommen (sehr) wenig zur Finanzierung des Gesundheitswesens beitragen. Wenn in einem Kanton die Beiträge zur Grundversicherung für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern 1’000 Franken pro Monat betragen, würde ein Vier-Personen-Haushalt mit einem Einkommen von 7’000 Franken pro Monat mit dem sozialdemokratischen Vorschlag einen Zuschuss von 300 Franken erhalten, um seine Belastung von 1’000 auf 700 Franken (10% des Einkommens) zu senken. Ein gleich zusammengesetzter Haushalt mit einem monatlichen Einkommen von 20’000 Franken würde [unter der Prämienberechnung nach Kopfpauschale; Anm. d. Red.] jedoch 1’000 Franken zahlen müssen, was 5% seines Einkommens entspricht, und ein Haushalt mit 40’000 Franken immer weiterhin 1’000 Franken, was 2,5% seines Einkommens entspricht. Der sozialdemokratische Vorschlag ist somit doch nicht so “egalitär”, wie er sich gibt.

Die Beiträge zur Krankenversicherung machen nur etwa 60% der von den Haushalten bezahlten Gesundheitsausgaben aus. Der Anteil der Gesundheitsausgaben, die direkt von den Haushalten bezahlt werden, ist in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch. Er umfasst insbesondere die Franchise und die Kostenbeteiligung von 10% (bis maximal 700 Franken) der Krankenversicherung sowie Leistungen, die von Schweizer Versicherungen nicht oder nur teilweise vergütet werden: allen voran Zahnbehandlungen, einen Teil der Hilfe und Pflege zu Hause sowie einen erheblichen Teil der Kosten für die Unterbringung in Pflegeheimen.

Die Nichtberücksichtigung dieser Realität ist eine weiterer Aspekt der Beschränktheit der SP-Initiative. Bei einem Finanzierungsmodell nach dem Vorbild der AHV würde ein Beitrag von etwas mehr als ca. 6% ausreichen, um alle von den Haushalten finanzierten Gesundheitsausgaben zu decken. Das ist deutlich weniger als die Beiträge für die Altersvorsorge (AHV + 2. Säule BVG), die sich im Durchschnitt auf etwa 11% des Lohns belaufen (mit sehr grossen Unterschieden bei der zweiten Säule, je nach Alter und Art der Kasse).

Diese wenigen Daten zeigen, dass die Finanzierung der aktuellen Gesundheitsausgaben sowie eine Investitionspolitik zur Deckung des zukünftigen Bedarfs an sich kein Problem darstellt, solange sie durch eine Sozialversicherung, also einkommensabhängigen Beiträgen, gewährleistet würde.

Übersetzung und Zwischentitel durch Redaktion


[1] Das Krankenversicherungsgesetzes (KVG) trat 1996 in Kraft und machte eine Krankenversicherung für die Bevölkerung obligatorisch. Was gut tönt, schuf in erster Linie einen Gesundheitsmarkt und legte dadurch die Basis zur Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens. Siehe: https://sozialismus.ch/schweiz/2016/schweiz-das-gesundheitssystem-20-jahre-nach-der-einfuehrung-des-kvg/

[2] Rentner:innen tragen nicht direkt zur Finanzierung der AHV-Renten bei, weil ihnen auf ihre AHV-Renten keine AHV-Beiträge abgezogen werden. Im Bereich der Gesundheitsfürsorge wäre es logisch, dass sie ebenfalls einen Beitrag leisten, der proportional zu ihrem Einkommen ausfällt. Es würde also insgesamt mehr Geld zusammenkommen als bei der AHV.

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1 Kommentar

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