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Krankenversicherungen in der Schweiz: Hinter der «Koordinierten Versorgung» steckt das abgekartete Geschäft

Die Politik und die Unternehmen preisen den Lohnabhängigen gegenwärtig die Rückkehr einer Koordinierten Versorgung im Gesundheitssystem verheissungsvoll an. Mit anderen Worten, durch Kooperation unterschiedlicher Leistungserbringer im Gesundheitswesen und Vernetzung verschiedener Fachdisziplinen und Leistungssektoren soll die Qualität der medizinischen Versorgung nicht mehr davon abhängen, wo man sie sich holt. Stattdessen soll eine patient:innenorientierte Behandlung ermöglicht werden. Soweit so gut, solche Ansätze haben an sich ja ihre Berechtigung. Die gegenwärtigen Bestreben, die Versorgungsform in der Schweiz anzupassen, haben allerdings nur vordergründig die vermeintlichen Vorteile für Patient:innen im Blick. Die Unternehmen in der Versicherungs- und Gesundheitsbranche möchten Umstrukturierungen der Versorgungsform nämlich vor allem nutzen, um sich in denjenigen Bereichen des Gesundheitssektors einfacher auszudehnen, wo der Staat bisher wenig Präsenz hat, oder um die Kosten für Anbieter von Krankenkassenleistungen zu senken. (Red.)

von Benoit Blanc; aus alencontre.org

Wenn der man Zeitung LeTemps (4. September 2023) folgt, die von einem «heilsamen Aufschwung der Krankenkassen» zu berichten weiss, könnte man fast meinen, eine neue Morgendämmerung ginge über den Krankenversicherungen und den Gesundheitsdiensten auf. In ihrem Enthusiasmus titelte die Zeitung gar mit der Überschrift: «Es gibt immer noch mutige Visionäre, die versuchen, den inflationären Kostentrend umzukehren. Nach der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network und ihrem Projekt im Jurabogen spielen nun die Netzwerke des Etablissement hospitalier de La Côte in Morges und von Arsanté in Onex die Rolle solcher Pioniere.» Doch schauen wir mal genauer hin und versuchen zu verstehen, was dieser „heilsame Aufschwung“ tatsächlich verspricht.

Ein erster Schritt im Jura…

Das erste Projekt wurde im Oktober 2022 vorgestellt und betrifft die Region des Jurabogens. Es vereint zwei Dimensionen:

Erstens kündigte der Versicherer Visana an, sich am Kapital des Krankenhauses des Berner Jura zu beteiligen, das Standorte in Moutier und Saint-Imier hat. Das Krankenhaus würde somit zwischen dem Kanton Bern, der Gruppe Swiss Medical Network (SMN), deren Geschäftsführer Antoine Hubert[1] und Visana als Anteilseignern aufgeteilt. Die Einrichtung wird entsprechend auch in Réseau de l’Arc umgetauft werden. Dieses Réseau oder Netzwerk umfasst drei medizinische Zentren, sogenannte Médicentres im Südjura, ein medizinisches Zentrum in Biel sowie zwei Radiologieinstitute und eine Apotheke.

Zweitens gibt Visana gleichzeitig bekannt, dass sie ab 2024 (vorbehaltlich der Freigabe durch das Bundesamt für Gesundheit BAG) einen alternativen Versicherungsplan mit dem Namen «Viva» anbieten wird. Mit Viva wird «die Pflegeorganisation Réseau de l’Arc das Gesundheitskapital der Personen, die sich für diesen Plan entscheiden, steuern…». Nur schon diese Formulierung lässt die Frage aufkommen: Mit welcher Rendite… und zu wessen Gunsten denn?

Diese Steuerung besteht dabei aus zwei Aspekten. Zum einen ist die Person, die sich für diesen Plan entscheidet, «nicht mehr länger nur ein:e Patient:in oder ein:e Versicherte:r, wie in traditionellen Modellen, sondern wird zu einem Mitglied der Gesundheitsorganisation, das es mit hochwertigen medizinischen Leistungen und tiefen Prämien zu überzeugen gilt» (so das Interview des Verwaltungsratspräsidenten von Visana mit KPMG). Ganz konkret bedeutet dies allerdings, dass die gesamte Versorgung der:des Patient:in über dieses Réseau oder Netzwerk stattfindet oder organisiert wird. Freie Wahl ist dann nur noch ein Wort, das aus dem Wortschatz der besagten Gesundheitsorganisation gestrichen wurde. Von nun an ist es die Organisation, die das ‘Gesundheitskapital’ ihres Mitgliedes steuert (rentabilisiert?).

Zum anderen sieht der Plan eine Pauschalvergütung für Gesundheitsdienstleister vor: Das Netzwerk erhält also für jedes ‘Mitglied’ einen bestimmten Betrag, der dessen sozio-medizinischen Merkmalen Rechnung trägt und alle Kosten decken soll. Dies ist schlicht die Rückkehr der Netzwerke für integrierte Versorgung (oder «koordinierte Versorgung», wie das BAG sagt). Doch welchen Nutzen verspricht man sich daraus? «Die Pauschalfinanzierung pro Mitglied (full capitation) statt derjenigen pro Behandlung und die Angleichung der Interessen der Partner des Réseau de l’Arc würden es ermöglichen, die Verzerrungen des derzeitigen Gesundheitssystems zu korrigieren, die zu ständigen Kostensteigerungen und damit zu höheren Prämien führen.» Tja dann, willkommen im Paradies!

Koordinierte Versorgung

Die sogenannte Koordinierte Versorgung, auch Integrierte Versorgung genannt, ist eine bestimmte Versorgungsform, die gesetzliche Krankenversicherungen anbieten können. Die Koordinierte Versorgung zeichnet sich dabei durch enge Kooperation der diversen Leistungserbringer im Gesundheitsbereich (bspw. Krankenhäuser, Ärzt:innen, Apotheker:innen, Therapeut:innen, Pfleger:innen etc.) sowie durch eine Vernetzung der einzelnen Fachdisziplinen (Allgemeinmedizin, Geburtshilfe, Radiologie etc.) und der unterschiedlichen Leistungssektoren (ambulante Behandlung, stationäre Behandlung, Reha, Pflege etc.) aus. Gewährleistet werden soll besagte Bündelung des gesundheitlichen Angebotes mittels Selektivverträge zwischen den Versicherungsunternehmen und den einzelnen Leistungserbringern.  Der Sinn und Zweck davon liegt darin, Barrieren zu überwinden, die sich daraus ergeben, dass das Gesundheitswesen in einzeldisziplinäre Versorgungsbereiche strukturiert ist. Die Versicherung würde durch die Selektivverträge mit den einzelnen Leistungserbringern dafür sorgen, dass ein umfassendes Angebot angeboten werden kann, indem Leistungen der diversen Leistungserbringer und -sektoren integriert sind. So muss sich die Patient:innenbehandlung nicht mehr danach richten, wo welches Angebot in Anspruch genommen bzw. gesucht wird. Die:der Patient:in kann sich bei der Behandlung(ssuche) ganz auf ihre:seine Bedürfnisse fokussieren. Natürlich spielen bei der Implementierung von Versorgungsformen nicht nur ihre strukturellen Funktionsweisen eine Rolle, sondern auch die Absichten, welche die politischen Entscheidungsträger:innen damit verfolgen. Kooridnierte Versorgung ist eben nicht einfach Koordinierte Versorgung. Die Besonderheit am Kapitalismus besteht darin, dass er sich vielerlei Strukturen, Prinzipien, Bewegungen und Bedürfnisse zu eigen macht – nicht zuletzt den Feminismus und die Demokratie. (Anm. d. Red.) 

…und die Weiterführung

Im Juli 2023 erhielt das Projekt durch eine Meldung eine neue Dimension: Visana, die im Mai angekündigt hatte, mit der Kasse Atupri zu einer neuen Einheit mit dem charmanten Namen «Atusana»[2] zu fusionieren, kündigte an, 11,1 Prozent des Kapitals des Swiss Medical Network (SMN) für 150 Millionen Franken zu erwerben, was den Wert der Gruppe auf 1,35 Milliarden Franken steigern würde. Der Grund: Visana und das SMN «beabsichtigen, in den nächsten Jahren weitere regionale integrierte Versorgungscluster in der ganzen Schweiz aufzubauen». Visana betont, dass diese Investitionen nicht von ihrer Grundversicherungssparte finanziert werden, sondern von der Visana Beteiligungen AG, unter deren Dach alle Gesellschaften der Gruppe zusammengefasst sind. Eine Konstruktion, die den Vorteil biete, dass sie die Geschäftsfreiheit erweitert – ohne sich der Kontrolle über die obligatorische Krankenversicherung unterwerfen zu müssen. Über die Finanzströme zwischen den Krankenversicherungsgesellschaften und Visana Beteiligungen wird hingegen geschwiegen. Verwaltungsratspräsident von Visana ist der Berner Nationalrat Lorenz Hess, derzeit Mitglied der Fraktion Die Mitte (nach SVP und BDP). Der Präsident des Verwaltungsrats des SMN ist der Walliser Raymond Loretan, ehemaliger Generalsekretär der CVP (1993-1997), der Vorläuferin der Mitte. Die Kommunikation scheint also optimal zu laufen.

Ein zweiter Schritt am Genfersee…

Das zweite Projekt machte erstmals Ende August 2023 von sich reden. Es beinhaltet das in Morges ansässige Ensemble Hospitalier de la Côte (EHC), das hauptsächlich in Genf ansässige Netzwerk von Gesundheitszentren Arsanté sowie die Krankenkassen CSS, Mutuel und Concordia. Das EHC umfasst neben dem Krankenhaus in Morges eine Privatklinik, die sich auf dem Krankenhausgelände befindet, ein Rehabilitationszentrum, drei Pflegeheime, drei medizinische Bereitschaftsdienste und 15 medizinische Zentren. Arsanté seinerseits fordert 13 Gesundheitszentren, 3 Apotheken, 2 Kliniken und 6 Kompetenzzentren. Eine finanzielle Querbeteiligung gibt es in diesem Fall offenbar nicht.

Die Kantone Genf und Waadt unterstützen das Projekt: «Diese Art von Projekt passt voll und ganz in das Legislaturprogramm 2022-2027 des Waadtländer Staatsrats. Denn indem neue Modelle zur Kostendämpfung, Qualitätssteigerung oder Förderung der Digitalisierung erprobt werden sollen», freut sich die Waadtländer Gesundheitsministerin (SP) Rebecca Ruiz, die ja selbst von LeTemps wie folgt zitiert wird: «Es wird Gegenstand einer Evaluation sein, um den wirklichen Mehrwert zu erkennen.»

Dieses Projekt will auch die Gesundheitsdienstleister nach dem Kopfpauschalenmodell[3] finanzieren und ein Netzwerk für integrierte Versorgung aufbauen. Der Gründer von Arsanté, Dr. Philippe Schaller, nimmt gegenüber LeTemps zu diesem Projekt folgendermassen Stellung: «Die Finanzierung nach Aufwand und Leistung, die die Fragmentierung des Gesundheitsangebots fördert, muss überdacht werden. Neue Vergütungsmodelle müssen erforscht werden, insbesondere für Senior:innen und chronische Patient:innen. Für diese Patient:innen ist unser System nicht geeignet, da es aufgrund der schlechten Kommunikation zwischen den Fachleuten zu unangemessenen Krankenhaustagen und Doppeluntersuchungen führt.» Dr. Philippe Schaller ist auch Gründer und Präsident des Delta-Netzwerks, das vor 30 Jahren gegründet wurde und sich als grösstes Pflegenetzwerk der Westschweiz profiliert hat. Auf der Website des Delta-Netzwerks lautet die erste Botschaft auch gleich ohne Umschweif: «Von welcher Prämiensenkung kann ich mit einem Delta-Vertrag profitieren?». Das nennt man wohl eine ‘sachgerechte’ Werbung, die der ‘Qualität der Pflege’ den ihr gebührenden Platz einräumt.

Die Rückkehr der Koordinierten Versorgung

2012 lehnte eine grosse Mehrheit der Wähler:innen eine Revision des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) ab, die die breite Einführung von Krankenversicherungsmodellen auf der Grundlage der sogenannten Koordinierte Versorgung oder Integrierte Versorgung ermöglichen sollte (siehe dazu den am 24. April 2012 auf alencontre.org veröffentlichten Artikel Integrierte Versorgung: Fragen und Antworten). Es war die erste verlorene Abstimmung von Bundesrat Alain Berset im Bereich der Krankenversicherung.

Zehn Jahre später, am 1. Januar 2023, trat dann doch die zigste KVG-Revision in Kraft, die unter Bersets Leitung ausgeheckt worden war, die sogenannten «Massnahmen zur Kostendämpfung – 1a», eine Art Abschiedsgeschenk, das uns Berset hinterlassen hatte. Bei der Revision lohnt sich insbesondere der Blick auf Artikel 59b, wonach das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) Pilotprojekte genehmigen kann. «Ein Pilotprojekt ist ein innovatives Projekt, das den Rahmen des KVG sprengt und die Erprobung neuer, noch nicht getesteter Modelle ermöglicht. Das Hauptziel von Pilotprojekten ist es, den Anstieg der Gesundheitskosten einzudämmen», erklärt das BAG dazu auf seiner Website. Das Ziel der ‘Experimente’ ist also klar: Kosten sparen und Punkt! Und das ist auch die Bedingung für die Versicherer, um das Projekt zu finanzieren: Ohne niedrigere Prämien als die Konkurrenz gibt es keinen Erfolg. Das Projekt im Genferseegebiet beruft sich ausdrücklich auf diesen Artikel 59b, und das Projekt im Jurabogen weist die entsprechenden Merkmale auf.

Sparen, sparen, sparen

Aber kann diese berüchtigte ‘Koordination’ der Gesundheitsleistungen und -institutionen, welche die Koordinierte Versorgung angeblich ermöglicht, überhaupt zu den angestrebten «Einsparungen» führen? Selbst ihr Verfechter Philippe Schaller, der am 24. August 2023 in der Morgensendung von La Première befragt wurde, ist da doch sehr vorsichtig: «Es ist immer schwierig zu sagen, ob [dieses Versorgungsmodell] Einsparungen bringen wird.» Zugegebenermassen kann man Schaller immerhin zugutehalten, dass er eine lange Erfahrung hat… und etwas mehr Zurückhaltung übt als etwa ein Antoine Hubert, der nie um einen guten Zungenschlag verlegen ist, um seine guten Geschäfte zu verkaufen.

Viel wahrscheinlicher ist nämlich, dass sich ein anderer Mechanismus durchsetzen wird: der Selektionseffekt. Gesunde Menschen lassen sich von Einschränkungen der Wahlfreiheit nicht abschrecken und fühlen sich nicht betroffen, sondern nutzen gerne die Gelegenheit, niedrigere Prämien zu zahlen und das Versicherungsmodell zu wechseln, wenn gesundheitliche Probleme auftreten. Da sie die Gesundheitsversorgung im Normallfall aber kaum in Anspruch nehmen, ist es für Versicherungen auch kein Problem, niedrigere Versicherungsprämien anzubieten. In diesem Fall führt die integrierte Versorgung jedoch zu keinen ‘echten’ Einsparungen, sondern nur zu einer Neuverteilung zwischen konkurrierenden Versicherungen. Beispielsweise scheint Helsana – immerhin der grösste Krankenversicherer der Schweiz – genau davon auszugehen, wenn sie gegenüber LeTemps am 4. September 2023 über das Projekt am Genfersee sagt: «In einem Kopfpauschalenmodell stimmt der Versicherte zu, einem Modell treu zu bleiben, das, wenn es einen attraktiven Prämienrabatt bieten sollte, die Wahlmöglichkeiten des Versicherten stark einschränkt. Die Tatsache, dass der Versicherte – auch im Rahmen des Experimentierartikels – jederzeit aussteigen kann, macht das Modell volatil.»

Bleibt zum Erreichen des «Sparens» die Option der reinen Kostenkomprimierung. Einige Grössenvorteile sind möglich. Aber es sind dann vor allem das Personal und die Patient:innen, die an vorderster Front der Einsparungen stehen werden.

So kündigte das Arc-Netz im Juni an, bis 2022 wieder schwarze Zahlen zu schreiben… und baute dazu kurzerhand 45 Stellen ab. «Das Réseau de l’Arc verschlankt und findet wieder positive Zahlen», titelte der Quotidien jurassien vom 21. Juni 2023. Diese sogenannte «Visionäre Kühnheit» klingt ganz nach den altbewährten Unternehmer:innenmethoden.

In der medizinischen Praxis wird der Prozess sicherlich langsamer verlaufen, aber dafür auch schwieriger nachzuweisen sein. Aber der Ansatzpunkt ist damit auch schon gegeben. Denn der Erwartungshorizont der Patient:innen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung ist weder präzise noch festgelegt: Was ist möglich? Was ist notwendig? Was ist die ‘gute Praxis’? Die Erwartungen hängen stark vom (Un-)Wissen und vom Kontext ab, wie jemand behandelt worden ist. 

Auf Seiten der Behandelnden gibt es immer wieder Entscheidungen, die in Unsicherheit getroffen werden. Eine zusätzliche Untersuchung oder eine andere Behandlung kann das Ergebnis der Behandlung nur in begrenztem Masse – und nicht systematisch – verändern. Häufig ist der Unterschied zwischen zwei Protokollen [Ablaufweisen; Anm. d. Red.] nicht ohne Weiteres messbar. In einem solchen Rahmen kann eine Institution wie ein Pflegenetz den Richtwert für die Intensität der Betreuung verschieben, ohne dass die negativen Auswirkungen sofort erkennbar sind. Und so schrittweise eine Art der medizinischen Behandlung institutionalisieren, deren Gangart an den neuen Versicherungsplan ‘angepasst’ wird.

Das Kapital gibt hierbei den Ton an

Gegen die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens!

Die BFS fordert ohne Umschweif und Kompromisse den Aufbau eines umfassenden öffentlichen Gesundheitssystems, das sowohl den Arbeiter:innen im Gesundheitswesen gute Arbeitsbedingungen und demokratische Mitsprache gewährt als auch allen einen einkommensgebundenen Zugang zur besten verfügbaren Behandlung garantiert. Denn Gesundheit ist keine Ware! Die Ausdehnung des Privatsektors im Gesundheitswesen und die Liberalisierung der Gesundheitsdienste müssen gestoppt werden! 

Diese beiden Projekte zeigen auch eine andere Realität auf: dass das Kapital rekonfiguriert gerade den Gesundheitssektor.Schauen wir uns das Ganze aber zunächst einmal von der Seite der Unternehmen an, die im Gesundheitswesen tätig sind. Schon allein die Liste der Standorte, die am Arc-Netzwerk oder am Genfersee-Projekt beteiligt sind, zeigt das Ausmass des Konzentrations- und Einverleibungsprozesses im privaten Pflegesektor: vom isolierten Spital oder der einzelnen Arztpraxis ist man als betroffene Person weit entfernt.

Diese Gruppen breiten sich in dem von der öffentlichen Hand hinterlassenen Vakuum aus. So war es der Kanton Bern und sein Gesundheitsminister, der SVP-Mann Pierre-Alain Schnegg, der das Krankenhaus des Berner Juras der SMN-Gruppe praktisch ‘geschenkt’ hat. Mit dem Kauf der Klinik La Providence in Neuchâtel, der Weigerung, den Gesamtarbeitsvertrag des Sektors zu respektieren, und der Entlassung der Personen, die gegen diese Entscheidung 2012/13 gestreikt hatten, war somit eine umfassende Ausbreitung des privaten Unternehmer:innentums im Gesundheitssektor eingeläutet worden. Der Weg für die Ausbreitung des SMN in diesem Kanton war aber tatsächlich schon zuvor vorbereitet worden, durch die von der Regierung beabsichtigte Schwächung der öffentlichen Krankenhäuser in Neuchâtel, insbesondere in La Chaux-de-Fonds, unter dem Vorwand des «Sparens». 

Dieser Konzentrations- und Einverleibungsprozess wird aber noch weiter voranschreiten: So kündigt das das Arc-Netzwerk seine Absicht an, auch in den Bereich der häuslichen Pflege zu expandieren. In Genf wirbt Arsanté bei Ärzt:innen. Eine der prominentesten Botschaften auf der Startseite seiner Website lautet: «Sie sind Ärzt:in? Sie haben ein Projekt im Gesundheitsbereich, in einer Gruppe oder alleine? Bereiten Sie sich auf Ihre Pensionierung vor? Arsanté ist da, um Sie zu begleiten. […] Über die administrativen Schritte hinaus bieten wir schlüsselfertige Einrichtungen an, die unter anderem Folgendes umfassen: den Einkauf von medizinischen und administrativen Ressourcen, die Anstellung von Pflegepersonal, die Kommunikation zur Aufnahme der Tätigkeit usw.» Genau so liest sich doch das Geschäftsmodell eines Franchise-Unternehmens, das versucht, bestehende Infrastruktur zu übernehmen, um seine Marke auf einem Markt durchzusetzen –  um nicht zu sagen seine Dominanz.

Hinter dieser Entwicklung steckt eine klare Logik: Die Einverleibung der Behandlungskette ermöglicht es, einen Pool von ‘gebundenen Kunden’ zu bilden. Insbesondere Arztpraxen würden ihre Patient:innen an die Krankenhäuser des Netzwerks überweisen und ihnen so helfen, ihre Auslastung zu verbessern oder beispielsweise ihre Geräte für die medizinische Bildgebung rentabel zu machen. Im Genferseegebiet arbeiten Genfer Arztpraxen bspw. mit einem Regionalkrankenhaus in Morges zusammen und können so an Krankenhausaufenthalten beteiligt werden, die billiger sind als die im Universitätskrankenhaus, da die Stückkosten eines Universitätskrankenhauses naturgemäss höher sind als die eines Regionalkrankenhauses. Dies sind für die Unternehmen konkretere Vorteile als die angeblichen ‘Koordinationsgewinne’ für die Patient:innen.

Für diese Entwicklungen sind jedoch Gelder erforderlich. Das SMN hat 2019 die US-amerikanische Gruppe Medical Property Trusts (MPT) in sein Kapital aufgenommen. MPT ist nach eigenen Angaben der zweitgrösste private Krankenhausbesitzer der Welt. Derzeit hält er 8,9% des Kapitals des SMN. Die Verbindung mit Visana ist ein zweiter frischer Wind für den SMN und stärkt seine Wachstumskapazität. 

Sich von anderen abheben und investieren

Auf der Seite der Versicherer zeigen sich zwei Dynamiken. Erstens ist der Markt für Krankenversicherungen gesättigt. In einer Region wie Lausanne gibt es im Jahr 2023 allein für die obligatorische Grundversicherung rund 130 (!) ‘verschiedene’ Angebote. Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen hat zu einer derartigen Marktaufteilung geführt, dass es für einzelne Unternehmen schwierig erscheint, noch weiter zu expandieren. Daher auch die Werbung, die nichts mehr mit dem zu tun hat, was eine Krankenversicherung überhaupt ist. Dahinter steckt das Bestreben der fast einheitlichen Unternehmen, sich zu unterscheiden. Die Konzentration unter den Kassen ist wiederum bereits sehr hoch, auch wenn Konsolidierungen wie die Fusion Visana-Atupri noch möglich sind.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Rückkehr zu einer Koordinierten Versorgung wie ein weiterer Versuch der Kassen, Profil zu gewinnen, indem sie ein altes, neu gestrichenes Feld besetzen. Der Werbegewinn gilt übrigens auch für die an den Projekten beteiligten Gesundheitsdienstleister. Und wenn diese ‘Experimente’ als Erfolg verkauft werden können, könnten sie in einigen Jahren als Argumente für einen neuen Versuch dienen, ‘Koordinierten Versorgung’ im Rahmen der Krankenversicherung zu verallgemeinern.

Der Einstieg von Visana beim SMN deutet aber auch auf eine weitere Dynamik hin: die Diversifikation des Investitionsportfolios. Der Pflegesektor ist hochprofitabel, weshalb er zu den bevorzugten Investitionsfeldern der grössten Akteure des globalen Kapitalismus gehört. Ein Beispiel: Im Juni 2023 wurde der internationale Konzern Mediclinic von einem Unternehmen übernommen, das der Familie Aponte gehörte. Mediclinic gehörte dem südafrikanischen Milliardär Johann Rupert, der den Luxusgüterkonzern Richemont (Cartier, Montblanc usw.) mit europäischem Hauptsitz in Genf leitet. Mediclinic umfasst 74 Kliniken weltweit, darunter in der Schweiz die 17 Kliniken von Hirslanden, der grössten privaten Krankenhausgruppe des Landes. Die Familie Aponte wiederum ist Eigentümerin der Reederei MSC, der weltweit grössten Reederei für Containerschiffe, die ihren Sitz ebenfalls in Genf hat.

Die Krankenversicherer verwalten grosse Geldbestände, die nicht ohne Zusammenhang mit unseren Beiträgen stehen. Investitionen in Gesundheitsdienstleister können für sie rentabel sein und ihnen gleichzeitig mehr Sichtbarkeit in ihrem eigentlichen Tätigkeitsfeld verschaffen. Warum sollte man nicht eine solche ‘koordinierte’ Anlagepolitik verfolgen? Visana scheint sich für diesen Weg entschieden zu haben. Es bleibt abzuwarten, ob dies ein allgemeiner Trend in der Branche ist.


Publiziert am 14. September 2023. Übersetzung durch die Redaktion.

[1] Antoine Hubert, laut dem KMU-Magazin (28.02.2023): „Nach einem unglaublichen Anfang, Höhen und Tiefen hat er in den letzten zwanzig Jahren eine solide Gruppe aufgebaut, die ihn auf die Liste der 300 reichsten Schweizer bringt, mit einem Vermögen, das vom Magazin Bilan auf 400-500 Millionen Franken geschätzt wird“.
Philippe Revaz präzisiert in einem Interview mit Antoine Hubert (Sendung #Helvetica von RTS vom 18. Februar 2023): „Er leitet rund 20 Privatkliniken des Swiss Medical Network und ein Dutzend Luxushotels (darunter das Bellevue in Bern) innerhalb der Aevis Victoria Gruppe [die auch in der Immobilieninfrastruktur tätig ist], die einen Jahresumsatz von rund einer Milliarde Franken erzielt.“ (Red.)

[2] Siehe die Ankündigung von RTS vom 7. Juni 2023. (Red.)

[3] Capitation/ Kopfpauschale: Der Arzt erhält eine jährliche Pauschale für jeden Patienten, den er behandeln muss. Diese Pauschale wird auf der Grundlage des Profils des Versicherten festgelegt und ist fix. (Red.)

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