Dass die AHV bald in arge finanzielle Schwierigkeiten kommen würde, wurde als Totschlagargument angeführt, um die AHV21-Reform durchzusetzen, die am 22. September 2022 angenommen wurde und am 1. Januar 2024 in Kraft trat. Die Reform erhöhte die Mehrwertsteuer zur Finanzierung der AHV und vor allem das Frauenrentenalter auf 65 Jahre. Die Prognosen, die die Bürgerlichen sowie die staatliche Abstimmungsbroschüre im Abstimmungskampf ins Feld führten, waren jedoch falsch. Die Ausgaben für die AHV wurden um 14,2 Milliarden Franken überschätzt! Gewerkschaften und andere Verbände haben nun Klagen eingereicht, um die Abstimmung über die AHV21-Reform zu annullieren.
von Agostino Soldini (Gewerkschafter VPOD)
Der „Rechenfehler“ des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) bei den Hochrechnungen für die AHV-Finanzen ist ein echter Skandal. Er bestätigt, dass die Bürgerlichen wirklich zu allem bereit sind, um ihre unsozialen Pläne umzusetzen. Denn die ganze Panne auf einen „Rechenfehler“ zu reduzieren, der sich aus der „Komplexität der verwendeten mathematischen Formeln“ ergibt, ist weitgehend missbräuchlich. Die Verwendung der fraglichen Projektionen ist das Produkt einer politischen Entscheidung. Im vorliegenden Fall sollte durch die extreme Dramatisierung der AHV-Finanzen den Bürger:innen Angst eingejagt werden, um AHV21 durchzubringen, die Vorlage, die die Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre zur Folge hatte.
Der Verantwortliche sitzt in seiner Villa in Straßburg
Die Verantwortlichen sind bekannt. Der erste war seit dem Bekanntwerden des Skandals in den Schlagzeilen: Stéphane Rossini, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) und langjähriger Politiker, bevor er zum Leiter des Amtes ernannt wurde. Der zweite wurde nie erwähnt. Er verkörperte jedoch von Anfang bis Ende die Kampagne für AHV21. Er zögerte nicht, basierend auf den Prognosen des BSV, den Teufel an die Wand zu malen. Es handelt sich um den ehemaligen SP-Bundesrat Alain Berset.
Berset war es auch, der seinen Parteifreund Stéphane Rossini an die Spitze des Amtes gesetzt hat. Aber keine Angst: Auch wenn er mit seinen irreführenden „Argumenten“ entscheidend dazu beigetragen hat, dass Arbeiterinnen, Krankenschwestern und Verkäuferinnen ein weiteres Jahr schuften müssen, wird er kaum belangt: Er kann weiterhin seine neue Villa Massol in Straßburg – ein Anwesen mit einer Wohnfläche von 950 m2 –, seine Hausangestellten und seinen privaten Chauffeur genießen.
Nicht 4 Milliarden, sondern 14,2 Milliarden Franken!
Der Direktor des BSV setzte seine Desinformationslogik fort. So sprach er bei der Bekanntgabe des „Rechenfehlers“ von einer Überschätzung der AHV-Ausgaben um 4 Milliarden Franken. Der kumulierte Gesamtbetrag beläuft sich jedoch auf 14,2 Milliarden! Die 4 Milliarden entsprechen nur der Überschätzung für ein Jahr, in diesem Fall 2033. Der „Rechenfehler“ bezieht sich aber auch auf die vorhergehenden Jahre. Außerdem behauptete er im Einklang mit den Unternehmer:innen, dass die „grundlegenden Trends unverändert“ blieben. Ein weiterer Trick: Die Differenz von 14,2 Milliarden Franken ist nicht gerade wenig. Zum Vergleich: Der Bundesrat rechnete mit Einsparungen von 4,9 Milliarden in zehn Jahren dank AHV21.
Die gesamte Presse unterstreicht das Ausmaß dieses „Fehlers“, wie beispielsweise die Tageszeitung Arcinfo, die von einem „astronomischen“ Betrag spricht (7. August 2024), oder 24 heures/Tribune de Genève, die ihn als „enormen Patzer“ bezeichnet (7. August 2024). Selbst die neue Chefin von Stéphane Rossini, Elisabeth Baume-Schneider – die mit großer Begeisterung gegen die 13. AHV-Rente kämpfte und dabei Wort für Wort die neoliberale Propaganda übernahm – musste zugeben, dass „dieser Fehler wichtig, bedeutend und schwerwiegend ist“ (La Liberté, 8. August 2024).
Die Affäre ist noch nicht entschieden
Wie auch immer, der Fall ist noch nicht entschieden. Es wurden mehrere Beschwerden eingereicht. Ziel ist es, die Abstimmung zur AHV 21 für ungültig erklären zu lassen. Die Gewerkschaft VPOD hat sich diesen Beschwerden angeschlossen. Sie wurden in mehreren Kantonen nach den geltenden Regeln eingereicht. Wir wissen jedoch bereits, dass die Kantone nicht für die Beurteilung zuständig sind und dass nach den unvermeidlichen Unzulässigkeitsentscheidungen der Kantone das Bundesgericht (BG) angerufen werden wird und entscheiden muss.
Ein echtes Armutszeugnis
Es ist alles andere als sicher, dass diese Klagen abgewiesen werden. Natürlich wissen wir genau, dass die „Justiz“ alles andere als neutral ist. Sie hat nichts damit am Hut, die Manöver und Machenschaften des Bundesrates zu verurteilen, die darauf abzielen, unsoziale Projekte im Dienste der Unternehmer:innen durchzudrücken. In diesem Fall ist die Verletzung der Bürger:innenrechte jedoch eklatant. Die Bundesverfassung garantiert in Artikel 34, Absatz 2 „die freie Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger und die getreue und sichere Äußerung ihres Willens“. Dieser Artikel wurde jedoch offensichtlich missachtet: Die Zahlen in der offiziellen Abstimmungsbroschüre zur AHV21, die an alle Wähler:innen verschickt wurde, waren falsch. Dort war von einem „Finanzierungsbedarf der AHV in den nächsten zehn Jahren in Höhe von rund 18,5 Milliarden Franken“ die Rede (Seite 25).
Diese Zahl wurde von Alain Berset während seiner gesamten Kampagne immer wieder als sein erstes und wichtigstes Argument angeführt. Alle verfügbaren Texte und Videos (Pressekonferenz des Bundesrats vom 27. Juni 2022, Debatte bei Infrarouge auf RTS am 7. September 2022 usw.) belegen dies. Im Lichte der in diesen Tagen bekannt gewordenen überhöhten Ausgabenschätzungen war das ein absolutes Armutszeugnis.
Die AHV steht alles andere als am Rande des Abgrunds: Im letzten Jahr erzielte sie einen Überschuss von fast 3 Milliarden Franken und verfügt über ein Rekordvermögen von fast 50 Milliarden Franken!
Massgebliche Prognosen
Zwar haben nicht alle Bürger:innen nach den Prognosen des BSV abgestimmt, doch angesichts des äußerst geringen Unterschieds zwischen den Ja-Stimmen (50,5%) und den Nein-Stimmen (49,5%) waren diese Prognosen ausschlaggebend für die Entscheidung. Die Analysen nach der Abstimmung bestätigen, dass „die finanzielle Zukunft der AHV zu sichern“ der Grund für die Wahl eines erheblichen Anteils derjenigen war, die mit „Ja“ gestimmt haben. Dabei hätten nur 15’598 zusätzliche Nein-Stimmen der fast 3 Millionen Wähler:innen ausgereicht, um die AHV 21 abzulehnen.
Günstiger Präzedenzfall
Darüber hinaus gibt es einen Präzedenzfall, der uns in die Karten spielen könnte: Das Bundesgericht hat das Ergebnis der Abstimmung über die von der CVP lancierte Initiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ (28. Februar 2016) für nichtig erklärt. Der „Fehler“ bezog sich damals auf die Anzahl der betroffenen Ehepaare. Der Entscheid des Bundesgerichts resultierte gerade aus der Tatsache, dass dieser „Fehler“ in einer knappen Abstimmung „die freie Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger und die getreue und sichere Willensäusserung“ in Frage stellte. Heute haben wir eine ähnliche Konstellation: Irreführende Zahlen und „Argumente“ waren ausschlaggebend für den Ausgang einer Volksabstimmung mit noch geringerem Stimmenabstand.
Kurz gesagt: Die Abstimmung über AHV21 muss annulliert und das Rentenalter der Frauen darf nicht erhöht werden. Mobilisieren wir uns, um dies zu erreichen, indem wir die Gerichtsbeschwerden mit einer breiten Volks-, Gewerkschafts- und feministischen Kampagne begleiten!