Vor dreissig Jahren übertrug das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) privaten Kassen, die von ihren finanziellen Interessen geleitet wurden, den öffentlichen Auftrag, die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) zu verwalten, die für die Gesundheit der Bevölkerung wie auch für die Praxis der Pflegefachkräfte von grundlegender Bedeutung ist. Die Bilanz dieser Einflussnahme ist katastrophal und hat sich Jahr für Jahr weiter verschlechtert. Schlimmer noch, die Verabschiedung der Einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) im November 2024 schafft die Voraussetzungen für eine weitere Stärkung der Macht der Kassen über die Krankenversicherung und das Pflegesystem. Darum braucht es einen radikalen Kurswechsel im Krankenversicherungssystem.
von Nils de Dardel, Jean-François Marquis, Romolo Molo und Charles-André Udry
Der gerade vom Parlament angenommene Antrag, der eine „Lockerung“ des Kontrahierungszwangs [Pflicht der Kassen in der Grundversicherung mit allen zugelassenen Leistungserbringenden, z.B. Ärzt:innen, einen Vertrag abzuschliessen; Anm. d. Red.] fordert, ist ein weiterer Schritt des Machtausbaus der Kassen. All diese Veränderungen werden unter dem Gesichtspunkt der „individuellen Verantwortung“ für die Verwaltung des „eigenen Gesundheitskapitals“ dargestellt.
Bisher sind alle Versuche gescheitert, aus diesem schädlichen System auszubrechen, z.B. durch die Einführung einer Einheitskasse (Initiative des Mouvement populaire des familles MPF am 11. März 2007, abgelehnt mit 71,2%), oder die schädlichsten Auswirkungen abzumildern, z.B. durch eine Begrenzung der von den Haushalten zu tragenden Prämien auf 10% des verfügbaren Einkommens (Initiative der SP am 9. Juni 2024, abgelehnt mit 55,47%).
Die Lobby der Krankenkassen ist sehr mächtig und stützt sich auf ihren neuen Dachverband prio.swiss. Sie kann auf treue Multiplikatoren zählen, um Angst zu schüren und Desinformationen zu verbreiten, sowohl in Unternehmer:innenkreisen als auch unter den bürgerlichen politischen Kräften.
Die Resonanz auf Initiativen wie die des MPF oder der Prämienobergrenze hat jedoch im Laufe der Zeit zugenommen. Siehe zum Beispiel die Umfrage des Wirtschaftsprüfers Deloitte vom 12. Juni 2024: „65% der befragten Personen sind für die Abschaffung des aktuellen Modells. Die Unterstützung für eine öffentliche Einheitskasse ist in der Westschweiz und im Tessin sowie bei den 30- bis 44-Jährigen besonders ausgeprägt.“ (Le Temps).
Verschlechterungen im Gesundheitswesen
Daher ist es heute notwendig, eine Kampagne zu starten, um die Krankenversicherung in eine andere Richtung zu lenken. Um ihre Ziele zu definieren, muss man von den vier grossen Auswirkungen ausgehen, die durch das derzeitige Gesetz und die Politik der Krankenkassen hervorgerufen werden:
- Unsoziale Finanzierung: Die Belastung durch die unsozialen Kopfprämien wird für die Bevölkerung mit niedrigen und mittleren Einkommen zunehmend wirtschaftlich untragbar. Sie ist ein entscheidender Faktor für die Verringerung der Kaufkraft oder sogar für die Verarmung.
- Einschränkung der Versorgung: Die Versicherungsmodelle der sogenannten „integrierten Versorgung“, die von den Versicherungen als Mittel zur Verringerung dieser Belastung verallgemeinert wurden, haben zur Folge, dass ein immer grösserer Teil der Bevölkerung nur noch eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung hat. Dies verstärkt das Phänomen, dass Menschen aus finanziellen Gründen auf Pflege verzichten, und trägt dazu bei, die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Pflege, Gesundheit und letztlich Lebenserwartung zu vergrössern.
- Kostenfixierung: Die Fokussierung der Krankenkassen auf die Kosten trägt zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals bei und macht es ihnen immer schwerer, eine qualitativ hochwertige Pflege zu gewährleisten. Die Umsetzung der Initiative für eine starke Pflege (angenommen am 28. November 2021 mit 61%), die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals fordert, wird dadurch unmöglich gemacht. Die Konflikte der letzten Monate um die Vergütung von Physiotherapeut:innen, die Rückerstattung von Notfalltaxen oder den Taxpunktwert von Genfer Kinder- und Allgemeinärzt:innen sind Beispiele für Interventionen der Krankenkassen, bei denen sie im Namen der Kosten versuchen, Billigleistungen durchzusetzen.
- Macht der Kassen: Die wachsende Macht der privaten Krankenkassen und die auf „Wirtschaftlichkeit“ fokussierten Finanzierungsmechanismen führen insbesondere im Krankenhausbereich zu einem verzerrten Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen, die die von ihnen angebotenen Leistungen auswählen können, die für sie rentabel sind, und öffentlichen oder halböffentlichen Anbieter:innen, die einen Universaldienst für die gesamte Bevölkerung an sieben Tagen in der Woche und rund um die Uhr gewährleisten müssen. Dies führt zu einer schrittweisen Schwächung des öffentlichen Dienstes im Gesundheitswesen und seiner Fähigkeit, den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden.
Koalition für ein solidarisches und demokratisches Gesundheitssystem
Im Gegensatz zu diesen vier Dynamiken kann es möglich sein, eine soziale Koalition aus Arbeiter:innen-/Versichertensektoren und Berufskreisen mit ihren Gewerkschaften, Berufs- und Interessenverbänden und mit der Unterstützung der politischen Kräfte, die sich für ein solches Projekt einsetzen, aufzubauen. Darüber hinaus unterstreichen die engen Verbindungen zwischen den Themen Gesundheit/Arbeit, Bildung/Gesundheit, Gesundheit/Umwelt, „Patientenbeteiligung an der Gestaltung des Gesundheitssystems“ die Möglichkeit, eine solche Koalition auf soziale Sektoren auszuweiten, die sich für die Umwelt, Verkehr/Mobilität und die Arbeitsbedingungen einsetzen. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie man grosse Teile der eingewanderten Lohnabhängigen, die unter den steigenden Krankenversicherungsprämien leiden, eine symbolische Stimme verleihen kann, wenn es um die Abstimmung und die Umsetzung einer Initiative geht. Dies könnte in einigen Gemeinden geschehen.
Die Entstehung und Bildung einer solchen Koalition ist unerlässlich, um einen alternativen Pol in der öffentlichen Debatte zu schaffen und die privaten Krankenkassen und ihre Unterstützer:innen in die Schranken zu weisen. Die folgenden Vorschläge, die auch einen Vorschlag für eine Volksinitiative strukturieren könnten, können die Bildung einer solchen Koalition ermöglichen:
- Die soziale Finanzierung der Krankenversicherung: Dies ist die wichtigste unmittelbare Herausforderung für die Mehrheit der Bevölkerung. Es erfordert die Einführung des Prinzips einer einkommensabhängigen Finanzierung. Ein Vorschlag, der diese Änderung des Finanzierungsmodus auf kantonaler Ebene ermöglicht, ist unter dem Blickwinkel der erhöhten Gewinnchancen zu bewerten, die er mit sich bringen könnte.
- Die Einführung einer Einheitskasse: Es soll eine Kasse eingeführt werden, die von der öffentlichen Hand geschaffen wird und die derzeitigen privaten Kassen ersetzt. Diese Änderung ist unerlässlich: Öffentliche Kassen, die zu den bestehenden Kassen hinzukommen, würden die Dynamik in der Krankenversicherung nicht verändern. Eine Option für kantonale Kassen, die sich auf nationaler Ebene koordinieren, könnte eine Möglichkeit sein, die Änderung des Prinzips auf eine breiter akzeptierte Art und Weise darzustellen.
- Die demokratische Kontrolle über die Einheitskasse(n): Die Steuerung dieser Einheitskasse(n) soll durch Organe ausgeführt werden, die sich zu gleichen Teilen aus Vertreter:innen der öffentlichen Hand, der Patient:innenverbände, der Personal-/Berufsverbände und der Organisationen der Leistungserbringer:innen zusammensetzen. Dieses Prinzip war in der Initiative des MPF für eine Einheitskasse enthalten.
Eine Einheitskasse stellt potenziell eine grosse Konzentration von Macht über die Gesundheitsdienste dar, die missbraucht werden kann, was eine der Grundlagen für das Misstrauen verschiedener Berufskreise ist. Eine demokratische Kontrolle stellt in dieser Hinsicht eine unverzichtbare Absicherung dar, die dazu beitragen kann, dass sich diese Kreise zusammenschliessen, und die die Chancen erhöht, dass die Qualität der Versorgung tatsächlich im Mittelpunkt der Ziele der Krankenversicherung steht.
Diese drei Punkte sind für die Kohärenz des Projekts von entscheidender Bedeutung. Sie könnten durch einen vierten ergänzt werden, der speziell auf die vom KVG geförderte Marktlogik abzielt, indem er eine höhere Finanzierung für öffentliche oder halböffentliche Leistungserbringer:innen im Vergleich zu privaten Unternehmen vorsieht, insbesondere im Krankenhausbereich, damit sie ihre Aufgabe der Grundversorgung unter Bedingungen erfüllen können, die mit einer qualitativ hochwertigen Versorgung und guten Arbeitsbedingungen vereinbar sind.