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Palästina: Mit den Palästinenser*innen, gegen die Besatzung

Die grossen Medien und die selbsternannten Analysten des Nahen Ostens fragen sich zur Zeit unisono: Wie können wir den aktuellen Anstieg der Angriffe durch Palästinenser*innen im Westjordanland, in Jerusalem und in Israel verstehen? Warum musste die „prekäre Ruhe“ einem „Wiederaufleben der Gewalttaten“ weichen? Kann die israelische Regierung die Situation unter Kontrolle bekommen?
von Julien Salingue

Sie „leben“ unter der Besatzung

Einmal mehr wird die Aufmerksamkeit auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen gerichtet, nachdem Israelis verletzt oder getötet wurden. Als ob zwischen zwei Messerangriffen oder zwischen zwei Raketenangriffen die „Gewalttaten“ aussetzen würden. Als ob die Aneignung von palästinensischen Gebieten durch Israel, die militärische Besatzung und die Kolonialisierung keine Gewalttaten wären. Als ob die Gaza-Blockade eine friedliche Massnahme wäre.
Wie so oft muss man wiederholen, dass die Palästinenser*innen seit Jahrzehnten unter einer Besatzung leben. Täglich sind sie mit einer diskriminierenden, expansionistischen und repressiven Politik des israelischen Staates konfrontiert. Es gab in den letzten Jahren keinen „Friedensprozess“, sondern einen kontinuierlichen Kolonisierungsprozess. Dieser beinhaltet Vertreibungen, Landbeschlagnahmungen, Hauszerstörungen und Inhaftierungen.
In einer „normalen“ Zeit vergeht keine Woche, ohne dass palästinensische Kundgebungen von der israelischen Armee ins Visier genommen werden, ohne dass Bewohner*innen der Westbank Opfer von Übergriffen der Siedler*innen werden, ohne das Duzende von Palästinenser*innen mitten in der Nacht oder frühmorgens mitgenommen und ohne Prozess in Militärgefängnissen inhaftiert werden.
Auf die Frage „Warum diese Gewalttaten von Seiten der Palästinenser*innen?“ hat man deshalb manchmal tatsächlich Lust zu antworten: „Warum nicht?“

Lass dich kolonisieren und schweig!?

Die israelische Journalistin Amira Hass schrieb in einer Kolumne in der Zeitung Haaretz vom 6. Oktober: „Die Palästinenser kämpfen für ihr Leben, während hingegen Israel für die Besatzung kämpft.“
Weiter schrieb sie: „Die jungen Palästinenser bringen keine Juden um, weil sie Juden sind, sondern weil wir ihre Besatzer, ihre Folterknechte, ihre Gefängniswärter, die Diebe ihrer Länder und ihres Wassers sowie die Zerstörer ihrer Häuser sind, weil sie es sind, die sie ins Exil geschickt haben und die ihren Horizont verschliessen. Die jungen Palästinenser, rachsüchtig und hoffnungslos, sind bereit, ihr Leben zu opfern und ihrer Familie einen enormen Schmerz zuzufügen, weil der Feind, dem sie gegenüberstehen, täglich zeigt, dass seine Grausamkeit keine Grenzen kennt.“
Welche Perspektiven werden den aufständischen Palästinenser*innen von jenen geboten, die ihre Aktionen kritisieren und eine „Rückkehr zur Ruhe“ fordern? Keine. Bis auf das Fortbestehen eines Herrschafts- und Unterdrückungssystems, gegen das sie nicht rebellieren dürfen und dem sie nur mit einer einzigen Haltung begegnen dürfen: Unterwürfigkeit und Schweigen in der Hoffnung, dass die Dinge sich früher oder später verbessern werden. In anderen Worten: „Lass dich kolonisieren und schweig!“

Die Revolte der Palästinenser*innen ist legitim

Zwischen dem 1. und dem 11. Oktober sind vier Israelis durch Messerangriffe getötet und ungefähr zehn verletzt worden. Gleichzeitig sind 24 Palästinenser*innen getötet und 1300 verletzt worden, durch scharfe Munition oder Gummischrot. Das entspricht durchschnittlich 130 getöteten oder verletzten Personen pro Tag. Am 11. Oktober, während eines einzigen Tages, wurden 75 Palästinenser*innen während Kundgebungen in der Westbank, in Jerusalem und im Gazastreifen von scharfer Munition getroffen. Diese Zahlen zeigen nicht nur den Umfang der israelischen Repression, die täglich härter wird, sondern und in erster Linie auch das ungleiche Kräfteverhältnis. Und dieses verschiebt sich nocht weiter. Denn nach einem Regierungsentscheid vom 14. Oktober ist nun die Armee auch in Jerusalem neben den Polizeikräften präsent. Neue Checkpoints wurden im östlichen Teil Jerusalems bereits aufgestellt.
Es ist heute schwierig abzuschätzen, welches Ausmass die gegenwärtige Revolte annehmen wird, insbesondere, weil sie sich durch eine Anhäufung von individuellen Taten ohne jegliche Koordinierung und Strategie durch die politischen Fraktionen der Palästinenser*innen kennzeichnet. Eines ist jedoch bereits jetzt klar: Die israelische Regierung hat sich einmal mehr dazu entschieden, die Verantwortung von sich zu weisen und sich als Opfer darzustellen, auch wenn damit die Provokationen, die Vermischungen und die Aufwiegelung nur noch zu mehr Hass werden. Es ändert sich aber nichts daran, dass die Wut, die Rebellion sowie der Widerstand der Palästinenser*innen legitim sind und ihnen niemand verbieten kann, für ihre Rechte zu kämpfen. Wir waren, wir sind und wir werden weiterhin in diesem Kampf auf ihrer Seite sein.
(Veröffentlicht in der Zeitschrift „L’Anticapitaliste“ von der NPA vom 14. Oktober 2015)

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