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Brasilien: Die Spiele der Vertreibung und Militarisierung

Zwischen dem 5. und 21. August wurden in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen. Neben der permanenten Berichterstattung über die sportlichen Ereignisse gerieten die sozialen und ökonomischen Konsequenzen nahezu in Vergessenheit. Während der Anlass nach 16 Tagen zu Ende geht, muss die lokale Bevölkerung jedoch weiterhin unter den Folgen der Militarisierung und der urbanen Verdrängung leiden. Dieser Artikel von Raul Zibechi zeigt, wie sich die autoritären Tendenzen in der brasilianischen Gesellschaft durch die Austragung der olympischen Spiele verstärkt haben. (Red.)
von Raul Zibechi
Die massive Militärpräsenz in den Strassen Rio de Janeiros während der Olympischen Spiele ist nur ein Anzeichen unter vielen für eine allgemeine Tendenz, die sich in der brasilianischen Gesellschaft bemerkbar macht.
Laut offiziellen Zahlen wird Rio de Janeiro rder Olympischen Spiele von 68’000 Sicherheitsbeamten bewacht, sprich sieben Soldaten pro Sportathlet*in (insgesamt 10’5000 Sportler*innen nehmen an den Spielen teil). Die 20’000 weiteren Soldaten, welche die anderen Städte, die Flughäfen, die Grenzen und die Busbahnhöfe bewachen, sind nicht Teil dieser Statistik. Die Gesamtzahl übertrifft jene der Sicherheitskräfte, welche den olympischen Spielen in London im Einsatz waren, um das Doppelte. Die Zahl der Sicherheitskräfte während der Olympiade in Peking wird jedoch nicht erreicht. Damals waren 110’000 Soldaten im Einsatz. Hinzu kommen weitere erwähnenswerte Zahlen: 12 grosse Schiffe, 50 kleinere Boote und 28 Helikopter sind in Brasilien im Einsatz.
Vor nicht einmal einer Woche hat die NGO Justicia Globa einen wichtigen Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen in der Olympiastadt veröffentlicht. Dieses 44-seitige Dokument unterstreicht schon zu Beginn “das Leiden einer ganzen Stadt sowie den Schmerz, der stetig anwächst und der während der jahrelangen Vorbereitungen des grössten Sportanlasses der Welt erlitten wurde”. Die Stadt „verwandelte sich in eine Handelsniederlassung für die grossen Konzerne der Baubranche, der Unternehmer*Innen, der Transportbranche und des Privatkapitals”. Für die Lohnabhängigen bedeutete die Vorbereitung der Spiele jedoch eine “Verstärkung der sozialen und räumlichen Segregation, der Kontrolle und Privatisierung des öffentlichen Raumes sowie der Unterdrückung der armen und schwarzen Bevölkerung”.
Um die Bauarbeiten für die Spiele erst möglich zu machen (Vergrösserung der Flughäfen, Häfen sowie der Autobahnen und Schnellstrassen), wurden 77’000 Personen vertrieben. Dies stellt “die grösste Politik der gewaltsamen Vertreibung in der Geschichte der Stadt dar”. Hinzu kommen eine Politik der urbanen Kontrolle, was eine Repression und Vertreibung der Strassenverkäufer*innen bedeutet, “die erzwungene Verdrängung der Obdachlosen, die Masseninhaftierung sowie den Einsatz von Militärkräften in den Favelas und den Quartieren der Peripherie“.
Aus städtebaulicher Sicht haben die olympischen Spiele und die enormen Ausgaben des Staates die urbane Struktur verändert: Das Zentrum, welches früher seine Hauptachse an der Bucht von Gunabara und dem Hafen hatte, verschob sich nach Barra da Tijuca, ein reiches und privilegiertes Quartier im Westen. Dieses Quartier ist einem brutalen Prozess der Immobilienspekulation und der Vertreibung der armen Bevölkerung ausgesetzt. Gewisse Favelas, darunter jene von Metro Mangueira in der Nähe des Stadiums Maracana, wurden mit dem Vorwand des Baus eines Parkplatzes gänzlich umgesiedelt.
Das Beispiel der Vila Autodronoma versinnbildlicht diesen Prozess am deutlichsten. Es handelt sich hierbei um eine Fischergemeinschaft, die 1969 in jenem Gebiet entstanden ist, auf dem das olympische Dorf gebaut wurde. Eine brutale Vertreibung liess gerade noch 20 von insgesamt 600 Familien zurück. Während des Vertreibungsprozesses wurde sogar ein Fünfsternehotel gebaut. Nach dem Ende der Spiele und der teilweisen Zerstörung der Unterkünfte der Athleten, werden die wichtigsten Unternehmer*innen und die Immobilienfirmen eine prunkvolle Operation starten, die ihnen Millionen einbringen wird.
Das “Olympiagesetz”: ein Ausnahmezustand
Am 26 Juli haben vier Menschenrechtsorganisationen vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf die Rechtsverletzungen denunziert, welche im Laufe der Arbeiten für die Olympischen Spiele begangen wurden. Ausserdem kritisierten sie die aktuelle Militarisierung durch die Ankündigung der Besetzung von sechs Favelas.
Gleichzeitig haben sie die mangelnde Transparenz bei den öffentlichen Ausgaben, besonders im Bereich der öffentlichen Mobilität, sowie die Ausrufung des “Katastrophenzustandes” durch den Gouverneur von Rio denunziert. Die Ausrufung dieses „Katastrophenzustandes“ führte dazu, dass der brasilianische Bundestaat nahezu eine Milliarde Euro für die Spiele ausgab, während gleichzeitig Kürzungen in den wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen vorgenommen und die Gehälter reduziert wurden.
Laut dem Institut für Alternative Politik für Südamerika hat der Bundestaat von Rio de Janeiro zwischen 2013 und 2016 das Bildungsbudget von 12% auf 10% reduziert, hingegen stiegen die Ausgaben für die Sicherheit von 10% auf 15% an.
Das Volkskomitee der Weltmeisterschaft und der Olympiade, bei dem sich verschiedene populäre Organisationen aus unterschiedlichen Städten beteiligen, hat zwischen dem 1.-5. August zu Widerstandstagen gegen die Spiele der Exklusion aufgerufen. Im Laufe dieser Tage fanden im Zentrum der Stadt Debatten, Workshops und Strassenaktionen statt. Dabei wurde die Konsolidierung einer segregierten Stadt, in der die Ungleichheit ständig zunimmt, angeprangert.
Was die meisten Leute jedoch verkennen – weil die Medien sich Mühe geben, es zu verdecken – ist, dass die Olympiade (sowie auch die Fussballweltmeisterschaft 2014) die Einführung von Ausnahmegesetzen bedeuteten, welche die Rechte der Menschen auf ernsthafte Weise beschneiden. Am 10. Mai dieses Jahres, während gleichzeitig ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff [seit 2011 Präsidentin, am 12. Mai für sechs Monate von ihrem Amt suspendiert] in Gang war, hat die damalige Präsidentin das Gesetz 13.263 unterzeichnet, welches unter dem Namen “Olympiagesetz” bekannt ist und das laut den Kritiker*innen im Widerspruch zur bestehenden Rechtsordnung steht.
Dieses Gesetzt verbietet das Aufhängen von Plakaten mit “beleidigenden Botschaften” in den offiziellen Anlagen sowie von Fahnen, “die nicht einer feierlichen und freundschaftlichen Veranstaltung entsprechen”. In anderen Worten: Proteste und Mobilisierungen in der Nähe von Anlagen, in denen die Wettkämpfe stattfinden, sind nicht erlaubt. Dieses Gesetzt hat dieselbe Stossrichtung wie das Antiterrorgesetzt, das im vergangenen Jahr eingeführt wurde und welches das Demonstrationsrecht beschneidet und die sozialen Bewegungen kriminalisiert.
Die Spiele werden zwar zu Ende gehen, die Gesellschaft wird jedoch polarisiert und militarisiert bleiben. Während durch die Bauarbeiten und die Zerstörung des urbanen Netzes zugunsten der grossen Unternehmen ein Vor- und ein Nachher erkennbar ist, wird die Militär- und Polizeipräsenz bleiben.
Es ist daher kein Zufall, dass eine neue Sicherheitspolitik zur Kontrolle der Favelas gleich nach der Fussballweltmeisterschaft umgesetzt wurde. Im Jahr 2008 wurde die erste “friedenschaffende Polizeieinheit” (UPP) in der Favela Santa Maria geschaffen. Diese Politik hat sich seit 2010, als Rio als Austragungsort der Olympiade bestimmt wurde, intensiviert.
Zwischen 2008 und März 2014 wurden 38 UPP gebildet – alle in Favelas unter dem Vorwand der Bekämpfung des Drogenhandels. Die UPP sind so etwas wie befestigte Kommissariate, die das Quartier militärisch besetzen, ohne dabei massgeblich den Drogenhandel einzuschränken. Die schwerwiegendste Folge dieser Politik betrifft die Beleidigungen und Belästigungen bei rassistischen und sexistischen Polizeikontrollen. Wenn eine Gruppe von Jugendlichen ein Fest in der Favela veranstalten möchte, muss sie zuerst die Bewilligung der UPP erhalten, um den Alkoholkonsum zu regulieren und Musikstile wie z.B. Funk zu beschränken oder zu verbieten. Denn die Polizisti*innen sind der Ansicht, dass diese Musik den Drogenhandel fördert.
Faktisch unterscheiden sich die Gesetze in den Favelas von denjenigen in der Stadt, weil die armen Quartiere unter einem permanenten Ausnahmezustand leben. Die Spiele haben diesen Ausnahmezustand nicht kreiert, sie haben ihn jedoch konsolidiert und im während der Spiele zu einem extremen Ausmass anwachsen lassen. Ein Schritt zurück wird sehr schwierig sein. Aus all diesen Gründen ist die Hälfte der Brasilianer*innen gegen die Olympischen Spiele und 63% ist überzeugt, dass sie mehr negative als positive Folgen haben werden.
Übersetzung aus dem Spanischen durch die BFS.

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