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Die Sache mit der israelischen Selbstverteidigung: die Suez-Expedition von 1956

«Israel ist gezwungen, sich zu verteidigen», dieses Argument wurde und wird immer wieder vorgebracht, um sämtliche militärischen Einsätze Israels zu rechtfertigen. Die israelische Aggression von 1956, mit der die Invasion Ägyptens durch die beiden Kolonialmächte Frankreich und Grossbritannien vorbereitet werden sollte, zeichnet aber ein ganz anderes Bild.

von José Sanchez (BFS Neuchâtel)

Wer sich mit dem brutalen Vernichtungskrieg des Staates Israel in Gaza seit dem 26. Oktober 2023 auseinandersetzt, ist rasch mit der Behauptung konfrontiert, dass Israel sich nur verteidige. Es lässt sich nicht abstreiten, dass der Staat Israel – anders als etwa Russland – durchaus von Organisationen in benachbarten Gebieten angegriffen wird, die seine Zerstörung im Sinn haben. Andererseits kann wohl kaum die gesamte palästinensische Bevölkerung als Bedrohung für die Existenz Israel behauptet werden. Das ist nicht nur eine rassistische Pauschalisierung. Es legitimiert auch völkerrechtswidrige Angriffe auf Zivilist:innen und Geflüchtete. Aktuell bereitet sich etwa die Stadt Rafah im Süden Gazas auf eine mögliche israelische Offensive vor. Dorthin sind seit dem 26. Oktober ein Grossteil der Binnengeflüchteten aufgrund des israelischen Terrors geflohen.

Das Narrativ, wonach Israel sich bloss verteidige, ist alt. Und ein Blick in die Geschichte zeigt auf, wie ungenau es der Staat Israel mit der Definition von Verteidigung nimmt.

Die Bedeutung des Suezkanals

Im Juni 1956 wählte Ägypten einen neuen Präsidenten, Gamal Abdel Nasser. Er kündigte am 26. Juli 1956 die sofortige Verstaatlichung des Suezkanals an und erklärte, dass er ein unabhängiges Land im Dienste seiner Bevölkerung aufbauen wolle. Als strategische Passage für maritime und militärische Kommunikation war der Suezkanal bis dato im Besitz einer anglo-französischen Gesellschaft gewesen, die auch ein Gebiet im Landesinneren auf beiden Seiten des Kanals kontrollierte.

Zur genaueren historischen Kontextualisierung muss man wissen, dass sich 1945 alle Kolonialreiche starken inneren Anfechtungen ausgesetzt sahen. Nach der Revolution in Ägypten 1919 hatte Grossbritannien versucht, seine Kolonialansprüche pragmatischer zu gestalten. So unterstützte Grossbritannien 1922 die Errichtung eines neuen, formal unabhängigen Königreichs: das sogenannte (Neue) Ägyptische Reich (1922-1953). Am 18. Juni 1953 endete aber auch diese Monarchie in Ägypten und mit ihr die britische Fremdherrschaft. Ein Militärputsch brachte eine neue Generation von Nationalisten an die Macht. Unter Muhammad Nagib und Gamal Abdel Nasser wurde die Republik ausgerufen – wenn auch de facto ein Einparteienstaat und eine Militärdiktatur errichtet wurden, deren Folgen bis heute die ägyptische Politik bestimmen und die ägyptische Bevölkerung unterdrücken. Diese Entwicklungen müssen aber auch vor dem Hintergrund der dekolonialen Kämpfe des Globalen Südens während der damaligen Zeit verstanden werden. Ägypten strebte damals eine panarabische Befreiungs- und Modernisierungsbewegung unter seiner eigenen Führung an. Das Loslösung von der wirtschaftlichen und politischen Bevormundung durch Grossbritannien ging jedoch nur schwer voran.

Nassers Vision eines «Arabischen Sozialismus»

Ägyptens Präsident Nasser erkannte, dass die überall in der Welt ausbrechenden nationalen Befreiungskämpfe einen politischen Raum geschaffen hatten, der neue Kräfte begünstigen und teilweise auch an die Macht bringen würde. Nasser war klar: Die arabische Welt könne diese Situation gut nutzen.

Nasser strebte, in seinen Worten, so etwas wie einen «Arabischen Sozialismus» an. Dies war kein Sozialismus im eigentlichen Sinne, da Privateigentum anerkannt und eine evolutionäre und harmonische Entwicklung anstatt eines Klassenkampfes propagiert wurde. Ausserdem sollte dieser Arabische Sozialismus als eine Revolution von oben erfolgen und sowohl der arabische Nationalismus als auch der Islam hatten eine mobilisierende Bedeutung.

Nasser wollte die immensen Gewinne aus dem Betrieb des Suezkanals behalten, um das Land zu modernisieren und die Grundbedürfnisse einer sehr armen Bevölkerung zu befriedigen. Das Assuan-Staudammprojekt, das die Überschwemmungen des Nils regulieren und Strom erzeugen soll, erforderte eine gigantische Finanzierung. Als die ausländischen Banken unannehmbare Bedingungen stellten und die USA die Finanzierung ablehnten, forderte Nasser den Abzug der britischen Truppen, die die Suez-Kanalzone besetzt hielten, und kündigte die Verstaatlichung des Kanals an. In Ägypten und in der arabischen Welt brach Jubel aus. Nasser wurde als ein Staatschef gefeiert, der endlich dem Westen die Stirn bietet und konkrete Massnahmen ergreift. In London und Paris hingegen herrschte Bestürzung. Die Angst vor einer Ausbreitung des arabischen Nationalismus mit der drohenden Verstaatlichung der Ölressourcen und dem Verlust der militärischen Kontrolle über den Nahen Osten rechtfertigten für die Eliten des Globalen Nordens eine sofortige Reaktion. Die Notwendigkeit einer militärischen Intervention war rasch ausgemacht

Nassers militärische Niederlage und politischer Triumph

Frankreich wollte auch die materielle Unterstützung Ägyptens für die FLN (Nationale Befreiungsfront Algeriens) verhindern, also an jene Organisation, die den Unabhängigkeitskrieg in Algerien gegen Frankreich anführte. So kam es zum Bündnis zwischen Frankreich und Grossbritannien. Dieses Bündnis spiegelte die Bedeutung der Interessen wider, die auf dem Spiel standen. Grossbritannien wurde damals von einer konservativen Regierung angeführt, Frankreich von einer sozialistischen Regierung mit Guy Mollet an der Spitze. Doch dieser Unterschied scheint keine Rolle gespielt zu haben, als es um den Erhalt des Restes der beiden Kolonialreiche ging.

Guy Mollet bezog rasch Israel in diese Allianz gegen Ägypten mit ein. Der Plan war, dass der anglo-französischen Invasion Ägyptens eine israelische Besetzung des Sinai vorausgehen würden. Bemerkenswerterweise ging Frankreich in seinem Ziel, die kolonialen Strukturen zu bewahren, so weit, dass es Israel mit modernen Waffen belieferte, von Panzern und Flugzeugen bis hin zu den ersten Elementen zur Herstellung von Atomwaffen. Der Sinai wurde durch israelische Überraschungsangriffe besetzt. Die zuvor in Port Said gelandete britisch-französische Armada bot dabei Luftdeckung. Nicht nur waren Ägyptens Streitkräfte hoffnungslos unterlegen, die drei angreifenden Staaten hatten auch den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite.

Politisch gesehen wurde die Operation jedoch zu einem Desaster. Frankreich und England mussten ihre Truppen schliesslich zurückziehen und den endgültigen Kontrollverlust über den Suezkanal eingestehen. Ihre Aggression verlieh den nationalistischen und progressiven Ideen in der arabischen Welt politischen Auftrieb. Die Idee der Unabhängigkeit gewann an Legitimität. Die neuen Regime sprachen sogar vom Übergang zum Sozialismus. Um auch ökonomisch unabhängig zu werden, war klar, dass der Reichtum der Länder zur Bekämpfung der Armut eingesetzt werden muss.

Israels Rolle im westlichen Imperialismus

Israels Beteiligung an diesem imperialistischen Bündnis gegen Ägypten verdeutlicht wiederum Israels Rolle als Vorposten bei der Verteidigung der westlichen wirtschaftlichen und militärischen Interessen. Natürlich hätte der Sturz Nassers die konservativen Kräfte in den Monarchien des Nahen Ostens so weiter gestärkt. Aber das ist wohl die Art und Weise, wie Israel die Aufrechterhaltung der Stabilität in der Region mit der Zerschlagung jeglicher Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit sorgen verknüpft. Das Abkommen, das zwischen England, Frankreich und Israel unterzeichnet worden war und im Oktober 1956 zur sogenannten Suezkrise bzw. dem Suezkrieg geführt hatte, wirft also ein kritischeres Licht auf die Selbstdarstellung Israels als Staat, der nur dem Sachzwang der eigenen Selbstverteidigung nach handelt. Den neuen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zu erschiessen, der einfach nur die Kühnheit besass, den Suezkanal «brutal» zu verstaatlichen, kann wohl nicht einer Selbstverteidigung im eigentlichen Sinne entsprechen.


Lektüreempfehlung: «Les secrets de l’expédition de Suez. 1956» von Denis Lefebvre (Ed Perrin 2010)

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