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Mexiko: López Obrador gewinnt die Präsidentschaftswahl. Ist das jetzt Demokratie?

Am Sonntag wurde der linke Andrés Manuel López Obrador mit seiner Bewegung MORENA in Mexiko zum Präsidenten gewählt. Er erzielte mit 53% das beste Resultat in der mexikanischen Geschichte. Doch wem nützt ein linker Präsident in einem Land, welches im Korruptionssumpf versinkt und von einem blutigen Konflikt erschüttert wird, indem Staat und Drogenkartelle kaum auseinanderzuhalten sind und vor allem die Ärmsten Opfer von brutalen Gewalttaten werden? Ein PRT[1]-Sympathisant und Herausgeber des Student*innenmagazins „Los Heraldos Negros“ erklärt, weshalb López Obrador der mexikanischen Elite nützen wird, um ihre Legitimitätskrise zu überwinden, und andererseits trotzdem die Bedingungen von vielen Menschen in Mexiko verbessern könnte. (Red.)

von Gerardo Rayo; aus Los Heraldos Negros

Bourgeoiser Parteien-Filz und sein Umgang mit Gegner*innen

Die mexikanischen Eliten zeichnen sich seit der Unabhängigkeit von Spanien durch ihre enge Verbindung zum politischen System aus, durch die sie regieren ‚lassen’. Sie klammern sich auf tausend und eine Art an die politische Macht, weil sie wissen, dass ihre Privilegien davon abhängen. Keine Elite hat in Mexiko ihren Reichtum aufgebaut, ohne dass damit das Leid der Bevölkerung einhergegangen ist.

Jedes Mal, wenn zum bestehenden politischen System Alternativen im Rahmen der Legalität entstehen, tun diese Eliten alles Mögliche, um den Aufstieg neuer politischer Persönlichkeiten zu verhindern, indem sie sie zwingen, die Macht zu teilen. Francisco I. Madero[2] war bei weitem kein Revolutionär. Aber er war ein Politiker, der begriff, dass die degenerierten Eliten aus der Zeit des Porfiriato[3] einem System mit freien, demokratischen Wahlen weichen mussten. Dies war eine elementare Forderung, die nicht erfüllt wurde und dann zum Wirbelsturm der mexikanischen Revolution führte. Diese Eliten aus dem Porfiriato, mit der sich die heutigen Eliten vergleichen und rühmen, waren unfähig ihren eigenen Untergang kommen zu sehen.

Ein politisches und soziales System, das nur einem Teil der Bevölkerung zugänglich ist, kann im Zuge sozialer Revolutionen zusammenbrechen, wenn die Bedingungen von Elend und Ausbeutung so unerträglich sind, dass die Bevölkerung gewillt ist, den Kurs zu ändern. Trotzki bezeichnete diesen Prozess als die “Methode der sukzessiven Annäherung”, das heißt, die Bevölkerung versucht immer wieder, ihre Übel im Rahmen der Legalität zu lösen. Wenn das nicht funktioniert, versucht die Bevölkerung dies durch Druck, der durch Streiks und Straßenkämpfe erzeugt wird. Wenn das auch nicht funktioniert, greift sie auf die letzten Mittel zurück, nämlich die offene Konfrontation mit den Verteidigern des Status Quo[4].

Arbeiter*innen und Bäuer*innen haben sich in Mexiko stets am Letzteren orientiert. Der Kampf auf den Straßen fand gegen verschiedene Regierungen statt. Gegen Regierungen der Partei der institutionalisierten Revolution PRI (von 1929 bis 2000 und von 2012 bis 2018 an der Macht. Anm. d. Red.) und der Partei der Nationalen Aktion PAN (von 2000 bis 2012. Anm. d. Red.). Diese Regierungen sind in den Auseinandersetzungen nie auf Forderungen der Unterdrückten eingegangen. Sie haben sich immer wieder auf einen offenen Konflikt eingelassen. Einige Beispiele: Der Aufstand der zapatistischen EZLN am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA (Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, den USA und Kanada; Anm. d. Red.), der Kampf der mexikanischen Elektriker*innengewerkschaft während der Auflösung des Staatlichen Stromwerkes LyFC im Zentrum des Landes 2009 oder die streikenden Lehrer*innen der Gewerkschaft CNTE im Bundesstaat Oaxaca, die 2006 im Begriff waren, den ruchlosen PRI-Gouverneur Ulises Ruiz zu stürzen. Dieser Lehrer*innenstreik führte zu einem Prozess der Selbstorganisation von unten, der in der Volksversammlung der Völker von Oaxaca (APPO) konsolidiert wurde. Oder als letztes Beispiel die nationalen und internationalen Proteste nach dem ‚Verschwinden’ der 43 Lehramtsstudent*innen von Ayotzinapa im Jahr 2014.

“Mexiko hat derzeit eine Menschenrechtskrise, die dringend angegangen werden muss.”

Obwohl der Neoliberalismus sowieso schon eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung darstellt, wird er im Falle Mexikos seit 2006 durch den “Krieg gegen die Drogen” verschärft. Es dauerte keine 30 Jahre, um einerseits den Sozialstaat in Mexiko fast vollständig abzubauen und andererseits das Land zu militarisieren. Es ist eine Situation, die die politische Unterdrückung systematisch und in vielen Formen wie Mord,  dem sogenannten Verschwinden, Folter und Entführung von Aktivist*innen und Journalist*innen gefördert hat. So war der “Krieg gegen die Drogen” der perfekte Vorwand, um die Neoliberalisierung des Landes zu vollenden. Denn der Drogenhandel wurde nicht gestoppt, aber die Gewalt gegen die Bevölkerung wurde ausgebaut. Es wurden nur bestimmte Kartelle bekämpft. Viele Drogenkartelle sind mit den Behörden auf allen Ebenen (Bund, Teilstaaten und Gemeinden) verflochten. Diese Verbindungen reichen bis hoch zur Regierung.

Diese Gewalt gegen die Bevölkerung hat in der modernen Geschichte des Landes beispiellose Ausmaße angenommen. Sie geht einher mit schwachen staatlichen Institutionen und Korruption. Die Machthaber haben in ihrer Untauglichkeit rein gar nichts dagegen unternommen, was zu einer Missachtung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit geführt hat. Dieses Thema kam in den zentralen Punkten der Wahlkampfprogramme der Parteien, die um die Präsidentschaft kämpften nicht vor. Mexiko hat derzeit eine Menschenrechtskrise, die dringend angegangen werden muss. Aus Sicht derjenigen Parteien, die sich zur Wahl gestellt haben, geschehen diese Menschenrechtsverletzungen jedoch zufällig und unbeabsichtigt.

Andererseits funktionieren die staatlichen Institutionen – einst durch die PRI geschaffen und an ihre eigenen Bedürfnisse angepasst – so, dass illegale Praktiken wie Diebstahl von Wahlurnen, Stimmenkauf und Schwarzgeld für Kampagnen Teil der Wahlkampfkultur jeder politischen Partei in Mexiko sind.

Diejenigen, die glauben, es sei möglich, Demokratie in Mexiko allein mit Wahlen aufzubauen, geben sich einer Illusion hin. Diese Illusion hilft, das gegenwärtige politische Regime am Leben zu erhalten. Die bürgerliche Demokratie, mehr als zwei Jahrhunderte nach der Französischen Revolution, hat gezeigt, dass sie nirgendwo funktioniert hat. Demokratie im bürgerlichen Sinne bedeutet das Regieren der Eliten (wirtschaftliche, politische oder intellektuelle) über die Mehrheit der Bevölkerung. Die bürgerliche Demokratie ist eine Simulationsübung, an der sich die Mehrheiten dadurch beteiligen, indem sie für ein politisches Projekt der Eliten stimmen.

Wahlbetrug gehört in Mexiko zum politischen ‘business as usual’

Insbesondere mexikanische Institutionen wie das Nationale Wahlinstitut (INE, ehemals IFE) unter der Leitung des Rassisten Lorenzo Córdova[5] und das Wahlgericht (TEPJF), das die Kandidaturen von Margarita Zavala und Jaime ‚el Bronco’ Rodríguez (beide parteilos) mit Tausenden von falschen und  doppelten Unterschriften und sogar Todesfällen ermöglichten, sind nicht in der Lage, das Grundrecht auf Wahlen und Abstimmungen zu garantieren. Den Eliten ist es egal, was die Mehrheit sagt oder entscheidet, wenn diese Mehrheit ihre Pläne nicht gutheisst. Sowohl das INE als auch das TEPJF sind, Institutionen, die es ermöglichen, Wahlbetrug durchzuführen, zu unterstützen und dabei sogar noch ein demokratisches Erscheinungsbild aufrecht zu erhalten. Man braucht sich nur die Betrügereien von 1988 gegen das Wahlbündnis „Frente Democrático Nacional“ unter der Führung von Cuauhtémoc Cárdenas anzusehen. Oder den Wahlbetrug von 2006 gegen Andrés Manuel López Obrador, damals noch Kandidat der Partei der Demokratischen Revolution (PRD[6]), bei denen die angefochtenen Resultate nicht neu ausgezählt wurden. Und in jüngster Zeit die Wahl von 2012, bei der durch rücksichtslosen Stimmenkauf die Wahl der PRI begünstigt wurde.

2018 scheint sich im Land nichts geändert zu haben. Diejenigen, die auf einen demokratischen Wandel durch die Wahlurne setzen, wiederholen die illusorischen Formeln von 2012, als die Jugendbewegung „Yo soy 132“[7] offen gegen die Rückkehr der PRI in die Regierung demonstrierte. Sobald der Wahlbetrug der PRI über die Bühne und Peña Nieto im Amt war, verschwand diese Bewegung auf die gleiche Weise, wie sie entstanden ist. Heute gibt es aus nationaler Ebene nicht einmal mehr eine solche Organisationsform von Unterdrückten oder Jugendlichen.

Aus diesem Grund und obwohl die mexikanische Bevölkerung weiß, dass Andrés Manuel López Obrador zum Präsidenten gewählt wird, können sowohl die PRI als auch die PAN ihre letzte Karte ausspielen und durch einen weiteren Wahlbetrug eine MORENA-Regierung mit López Obrador als Präsident verhindern.[8] Hinter der Logik von PRI und PAN steckt folgender Gedankengang: Sie verachten die Unterdrückten Mexikos. Die Unterdrückten sehen sie nur als Zahlen in den Wahlresultaten, die dieses oder jenes Projekt unterstützen.

Die Unterdrückten waren jedoch historisch gesehen diejenigen, die zum Untergang zahlreicher politischer Regime und Eliten führten. Die Unterdrückten waren bereit, die Wahlergebnisse 1988 oder 2006 mit Waffengewalt gegen den Wahlbetrug zu verteidigen. Es ist wahrscheinlich, dass die herrschenden Eliten und Parteien nicht in der Lage sein werden, sich selbst zu retten, selbst wenn alle verfügbaren Kräfte inklusive der Armee aufgeboten werden. Ein Merkmal sozialer Revolutionen ist ihre Fähigkeit, schnell in die Offensive zu gehen und die Mauern des alten politischen Systems niederzureißen, indem sie die Verteidiger der Vergangenheit besiegen.

López Obrador kann dem Bürgertum nützen, um seine Legitimitätskrise zu überwinden

Das Beste, was dem politischen System in Mexiko passieren kann, ist, dass Andrés Manuel López Obrador gewinnt. Dies würde keinen Bruch mit dem Neoliberalismus bedeuten. Zudem könnte die schwerwiegende Wirtschafts-, Politik- und Legitimitätskrise, die derzeit im Land herrscht, für einige Zeit gelindert werden. Andererseits würde López Obradors Wahl für die Menschen, die in diesem Land für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen und gekämpft haben, günstigere Voraussetzungen für ihre Entwicklung ermöglichen. Auch wenn das nicht bedeuten würde, dass die Erfüllung ihrer Forderungen gewährleistet wäre.

Selbst wenn López Obrador Präsident werden sollte, ist ganz klar, dass “der demokratische Übergang” ein Mythos bleibt, wie es im Jahr 2000, in Chile nach der Pinochet-Diktatur oder in Spanien nach dem Tod von Diktator Franco der Fall war. Es wäre eine Simulation einer anderen Regierungsform mit denselben Beamten wie bisher, die den Staatsapparat steuern.

Andererseits könnte dieses Szenario das endgültige Begräbnis der linken Strömung rund um López Obrador sein. Es könnte zu einer Degeneration der Position und einer fast endgültigen Niederlage führen, wie dies bei Syriza in Griechenland der Fall war. Die Bevölkerung setzte hohe Erwartungen in Syriza, dass diese den vom Internationalen Währungsfond und der Europäischen Union durchgeführten Sozialabbau stoppen würde. Aber diese Erwartungen wurden enttäuscht. Und Syriza war unfähig an der Situation etwas zu ändern. Dies führte zu einem Rückzug der griechischen Linken, von dem sie sich bis heute noch nicht erholen konnte. Als die französischen Revolutionäre 1793 König Ludwig XVI. enthaupteten, dachten sie, dass sich die Monarchie nie von einem so schweren Schlag erholen würde. Ein paar Jahre später erfuhren sie, dass die Guillotine nicht die vollständige Zerstörung der Monarchie garantieren konnte. Auch wenn López Obrador regieren wird, werden die mexikanischen Eliten, die PRI und die PAN nicht verschwinden. Sie werden in jedem möglichen Moment damit drohen López Obrador zu stürzen und an die politische Macht zurückzukehren. Sie nennen es Demokratie, aber das ist es nicht. Und das wird es auch nicht sein, bis die Unterdrückten aktiv am Aufbau ihres eigenen Schicksals beteiligt sind.

Übersetzung durch die Redaktion.


[1]Partido Revolucionario de los Trabajadores (Revolutionäre Arbeiterpartei) (Anm. d. Red.)
[2]Nachdem Porfirio Díaz (vgl. nächste Fussnote) 1910 gestürzt wurde und die mexikanische Revolution begann, war Madero von 1911 bis zu seiner Ermordung 1913 Präsident Mexikos.
[3]Als Porfiriato wird in Mexiko die Diktatur unter General Porfirio Díaz von 1876 bis 1911 bezeichnet. (Anm. d. Red.)
[4]León Trotsky, Historia de la Revolución Rusa, V. 1, trad. Andreu Nin, México, Juan Pablos Editor, 1972, pp. 13-19. (Anm. d. Autors). Spanischsprachige Ausgabe von Trotzkis Buch Geschichte der Russischen Revolution. (Anm. d. Red.)
[5]Córdova hat sich abschätzig und rassistisch über Indigene ausgelassen. Die überwiegende Mehrheit der Mexikaner*innen ist (teilweise) indigener Abstammung. Córdova selbst spanischstämmig, wie viele in der Elite des Landes. Vgl. https://www.proceso.com.mx/404753/audioescandalo-en-el-ine-cordova-se-mofa-de-indigenas(Anm. d. Red.)
[6]Die PRD war eine Linksabspaltung von der PRI. Sukzessive wurde auch sie ins bestehende, politische System integriert. Deshalb verliess López Obrador die PRD und gründete 2014 die Bewegung MORENA, mit der er letzten Sonntag die Wahlen gewann. (Anm. d. Red.)
[7]„Yo soy 132“ war eine Protestbewegung die eng mit den Indignad@s im spanischen Staat, der Occupy-Bewegung und dem arabischen Frühling verbunden war. Der Name bedeutet „Ich bin 132“ und bezieht sich auf die ersten 131 Protestierenden. (Anm. d. Red.)
[8]Das ist nicht geschehen. Der Artikel erschien unmittelbar bevor klar war, dass López Obrador mit grossem Vorsprung zum Präsidenten gewählt wurde. (Anm. d. Red.)

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