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Ankommende auf Lampedusa: Solidarität und Widerstand angesichts der Aufnahmekrise in Europa

Nachdem eine Rekordzahl von Migrant:innen auf Lampedusa angekommen ist, drückt die Zivilgesellschaft ihre tiefe Besorgnis über die Sicherheitsmassnahmen der europäischen Staaten und die Aufnahmekrise aus. Gleichzeitig bekräftigt sie aber auch ihre Solidarität mit den Menschen, die in Europa ankommen.

Gemeinsame Erklärung (18. September 2023); aus à l’encontre

Mehr als 5000 Menschen und 112 Boote wurden am Dienstag, den 12. September, auf der italienischen Insel Lampedusa erfasst. Die Boote, von denen die meisten selbstständig [*] ankamen, waren von Tunesien oder Libyen aus gestartet. Insgesamt haben seit Jahresbeginn mehr als 118.500 Menschen die italienische Küste erreicht, fast doppelt so viele wie die 64.529, die im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 erfasst worden waren [1]. Doch auch die Anhäufung von Zahlen lässt uns nicht vergessen, dass hinter jeder Zahl ein Mensch, eine individuelle Geschichte steht und dass immer noch Menschen ihr Leben verlieren, wenn sie versuchen, nach Europa zu gelangen.

Auch wenn Lampedusa seit langem ein Ziel für die Boote von Hunderten von Menschen ist, die in Europa Zuflucht suchen, fehlt es der Insel weiterhin an Aufnahmeeinrichtungen. Am Dienstag [12. September] forderte die chaotische Rettung aus einem Boot den Tod eines fünf Monate alten Babys. Dieses war ins Wasser gefallen und sofort ertrunken, während Dutzende Boote weiterhin im Handelshafen anlegten. Mehrere Stunden lang sassen Hunderte von Menschen ohne Wasser und Nahrung auf dem Pier fest, bevor sie in den Hotspot von Lampedusa gebracht wurden.

Der Hotspot, ein Sortier- und Verteilungszentrum, in dem neu ankommende Personen von der lokalen Bevölkerung ferngehalten und voridentifiziert werden, bevor sie auf das Festland gebracht werden, hat mit seinen 389 Plätzen absolut keine Kapazität, um die Menschen, die täglich auf der Insel ankommen, würdig zu empfangen. Seit Dienstag ist das Personal des Zentrums mit der Anwesenheit von 6000 Menschen völlig überfordert. Das Rote Kreuz und Mitarbeiter:innen anderer Organisationen wurden aus ‘Sicherheitsgründen’ daran gehindert, das Zentrum zu betreten.

Am Donnerstagmorgen [14. September] begannen viele Menschen aufgrund der unmenschlichen Bedingungen, unter denen sie dort festgehalten wurden, über die Zäune zu springen und aus dem Hotspot zu fliehen. Da die italienischen Behörden nicht in der Lage waren, eine menschenwürdige Aufnahme zu bieten, sprang die lokale Solidarität ein. Viele Einwohner:innen schlossen sich zusammen und organisierten Lebensmittelverteilungen für die Geflüchteten in der Stadt [2].

Verschiedene Organisationen prangern auch die politische Krise in Tunesien und die humanitäre Notlage in der Stadt Sfax an, von wo aus die meisten Boote nach Italien ablegen. Derzeit schlafen etwa 500 Menschen auf dem Beb-Jebli-Platz und haben praktisch keinen Zugang zu Nahrung oder medizinischer Hilfe [3]. Die meisten von ihnen mussten aus dem Sudan, Äthiopien, Somalia, dem Tschad, Eritrea oder Niger fliehen. Seit den rassistischen Äusserungen des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed wurden viele Migrant:innen aus ihren Häusern vertrieben und haben ihre Arbeit verloren [4]. Andere wurden in die Wüste deportiert, wo einige von ihnen verdursteten.

Während diese Massendeportationen weitergehen und sich die Lage in Sfax kontinuierlich verschärft, schloss die EU (Europäische Union) vor drei Monaten ein neues Abkommen mit der tunesischen Regierung, um «effektiver in den Bereichen Migration», Grenzschutz und «Kampf gegen den Schmuggel» zusammenzuarbeiten, und zwar mit einem Paket von über 100 Millionen Euro. In voller Kenntnis der Gräueltaten der tunesischen Regierung und der Angriffe der tunesischen Küstenwache auf Migrantenboote stimmte die EU dem neuen Abkommen zu [5]

Derweil beobachten wir mit Sorge, wie die verschiedenen europäischen Regierungen ihre Grenzen schliessen und weiterhin das Asylrecht und die grundlegendsten Menschenrechte verletzen. Während der französische Innenminister [Gérald Darmanin] ankündigte, die Kontrollen an der italienischen Grenze verstärken zu wollen, erklärten auch mehrere andere EU-Mitgliedstaaten, dass sie ihre Tore schliessen würden. Im August beschlossen die deutschen Behörden, die Umsiedlungsprozesse für Asylsuchende, die im Rahmen des «freiwilligen Solidaritätsmechanismus» aus Italien nach Deutschland kommen, zu stoppen [6].

Alles über das «Asyl- und Migrationspaket» der Europäischen Union

«Das neue Asyl- und Migrationspaket» ist ein Vorschlag der Europäischen Kommission, der im September 2020 vorgelegt und seither in der Europäischen Union (EU) diskutiert wird, um die gemeinsamen Regeln zwischen den Mitgliedsstaaten in den Bereichen Asyl und Migration zu reformieren, die bislang durch eine Reihe von Verordnungen und Richtlinien organisiert waren. Er besteht aus fünf Legislativvorschlägen und vier Empfehlungen, die einen Teil dieser gemeinsamen Regeln ersetzen sollen, um, wie es die Kommission sagt, «ein System zu schaffen, mit dem die Migration langfristig gesteuert und normalisiert werden kann und das gleichzeitig vollständig in den europäischen Werten und im Völkerrecht verankert ist». Der Pakt basiert auf der Annahme, dass die EU durch den Migrationsdruck bedroht sei, und soll die Mitgliedstaaten, die seit der sogenannten «Migrationskrise» von 2015 besonders gespalten sind, wieder auf ein gemeinsames Ziel einschwören: «Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt», die mit «einer grossen Anzahl irregulärer Ankünfte» verbunden sind, besser standhalten zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt das Paket nichts grundlegend ‘Neues’ vor, sondern setzt die bisherige Politik fort: Unter den vorgeschlagenen Massnahmen bevorzugt er zum einen die Abschreckung der Geflüchteten vor der irregulären Ankunft in Europa, zum anderen verstärkte Kontroll- und Sortierverfahren an den Grenzen, um möglichst viele von ihnen abzuschieben, und schliesslich die autoritäre Verteilung derjenigen, die als asylberechtigt anerkannt werden, innerhalb der freiwilligen Mitgliedstaaten, während die sich die anderen Mitgliedstaaten durch einen komplizierten Mechanismus finanzieller Kompensation von dieser Verpflichtung befreien können. Weit davon entfernt, das «ausgewogene und humane Programm» vorzuschlagen, das die Europäische Kommission verspricht, verstärkt das Paket die Logik des Sortierens, Einsperrens und Ausgrenzens und zeigt die Hartnäckigkeit der EU, den Schutz ihrer Grenzen über den Schutz der Vertriebenen zu stellen, unter Missachtung ihrer Grundrechte. . 

Als die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am Sonntag von der italienischen Premierministerin Meloni nach Lampedusa eingeladen wurde, kündigte sie einen 10-Punkte-Aktionsplan an, der diesen ultra-sicherheitspolitischen Kurs weiterführt. Verschärfung der Kontrollen auf See auf Kosten der Rettungspflicht, Erhöhung des Tempos der Abschiebungen und Verstärkung des Prozesses der Auslagerung der Grenzen… alles alte Rezepte, die die Europäische Union seit Jahrzehnten anwendet und die sich als gescheitert erwiesen haben, da sie die Krise der Solidarität und die Situation der Migrant:innen nur noch verschlimmert haben.

Die unterzeichnenden Organisationen rufen zu einem offenen und aufnahmebereiten Europa auf und drängen die EU-Mitgliedstaaten, sichere und legale Zugangswege sowie menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu schaffen. Wir fordern dringende Massnahmen auf Lampedusa und die Einhaltung internationaler Gesetze, die das Recht auf Asyl schützen. Wir sind erschüttert über das anhaltende Sterben auf See, das durch die Grenzpolitik der EU verursacht wird, und drücken unsere Solidarität mit den Menschen auf der Flucht aus!

Unterzeichnet durch:

  • Afrique-Europe-Interact
  • Alarme Phone Sahara (APS)
  • Alarme Phone Sahara – Mali
  • Alternative Espaces Citoyen – Niger
  • Anafé (association nationale d’assistance aux frontières pour les personnes étrangères)
  • Another Europe is Possible
  • ARCOM – association des réfugiés et communautés migrantes au Maroc
  • Are You Syrious ?
  • Associazione studi giuridici sull’immigrazione (ASGI)
  • Association AFRIQUE INTELLIGENCE
  • Association Beity
  • Association d’aide des Migrants en Situation Vulnérable (AMSV) Oujda / Maroc
  • Association des Etudiants et Stagiaires Africains en Tunisie (AESAT)
  • Association Féministe Tanit
  • Association Lina Ben Mhenni
  • Association de solidarité avec les travailleurS/euses immigré.es (ASTI) des Ulis / France
  • Association pour la promotion du droit à la différence (ADD)
  • Association pour les Migrants-AMI, Nîmes, France
  • Association Sentiers-Massarib
  • Association Tunisienne de défense des libertés individuelles (ADLI)
  • Association Tunisienne pour les droits et les libertés (ADL)
  • Aswat Nissa
  • Avocats Sans Frontières (ASF)
  • Association Damj
  • BELREFUGEES, Plateforme Citoyenne / Belgium
  • borderline-europe- Menschenrechte ohne Grenzen
  • Boza Fii – Sénégal
  • CCFD-Terre Solidaire
  • CGTM Mauritanie
  • Chkoun Collective
  • Coalition des Associations Humanitaires de Médenine
  • Collectif Droit de Rester, Lausanne
  • Comité de Vigilance pour la Démocratie en Tunisie – Belgique
  • Comité pour le respect des libertés et des droits de l’homme en Tunisie (CRLDHT)
  • CompassCollective
  • Connexion
  • Damj l’association tunisienne de la justice et légalité
  • DZ Fraternité
  • Emmaüs Europe
  • European Alternatives
  • Fédération des tunIsiens citoyens des deux rives (FTCR)
  • Groupe de Recherche et d’Actions sur les Migrations (GRAM), Bamako / Mali
  • Groupe d’information et de soutien des immigré·es (Gisti)
  • iuventa-crew
  • Jeunesse Nigérienne au service du Développement Durable (JNSDD) – Agadez / Niger
  • Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
  • La Cimade
  • La coalition tunisienne contre la peine de la mort
  • LasciateCIEntrare
  • Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l’Homme (LADDH)
  • Ligue des droits de l’Homme (LDH) – France
  • Ligue tunisienne des droits de l’homme (LTDH)
  • Maldusa
  • medico international
  • MEDITERRANEA Saving Humans
  • Mem.med:mémoire Méditerranée
  • Migrants’ Rights Network
  • migration-control.info project
  • Migreurop
  • MV Louise Michel
  • Paris d’Exil
  • Pro-Asyl
  • Push-Back Alarm Austria
  • r42-SailAndRescue
  • Refugees in Libya
  • Refugees in Tunisia
  • ResQ – People Saving People
  • RESQSHIP
  • Salvamento Marítimo Humanitario (SMH)
  • Sea-Watch
  • Seebrücke – Schafft sichere Häfen
  • Solidarité sans frontières (Sosf)
  • SOS Balkanroute
  • SOS Humanity
  • Statewatch
  • Tunisian Forum for Social and Economic Rights (FTDES)
  • Union des travailleurs immigrés tunisiens (UTIT)
  • United4Rescue
  • Vivre Ensemble | asile.ch
  • Watch the Med Alarm Phone
  • Welcome to Europe network
  • Zusammenland gUG/ MARE*GO

[1] Reuters, « Italy’s Lampedusa island hit with record migrant arrivals », 12 septembre 2023,https://www.reuters.com/world/europe/italys-lampedusa-island-hit-with-record-migrant-arrivals-2023-09-12/

[2] Maldusa, “Lampedusa’s Hotspot System : From Failure to Nonexistence”, 14 septembre 2023, https://www.maldusa.org/l/lampedusas-hotspot-system-from-failure-to-nonexistence/

[3] Déclaration « Urgence humanitaire au Gouvernorat de Sfax : la société civile tire la sonnette d’alarme face à une situation inacceptable”, 14 septembre 2023, https://euromedrights.org/publication/urgence-humanitaire-au-gouvernorat-de-sfax-la-societe-civile-tire-la-sonnette-dalarme-face-a-une-situation-inacceptable/

[4] Migration-control.info-project, « Mass deportations and EU externalisation in Tunisia : Press Review and Critics », 2 août 2023 https://migration-control.info/en/blog/mass-deportations-and-eu-externalisation-in-tunisia-overview-press-review-and-critics/

[5] Alarm Phone, « Politiques meurtrières en Méditerranée : pour que cessent ces naufrages consciemment provoqués au large de la Tunisie”, 19 décembre 2022 https://alarmphone.org/fr/2022/12/19/politiques-meurtrieres-en-mediterranee/

[6] La Repubblica,  » Migranti, da Berlino stop ad accoglienza dei richiedenti asilo dall’Italia », 12 septembre 2023 https://www.repubblica.it/cronaca/2023/09/12/news/migranti_da_berlino_stop_ad_accoglienza_dei_richiedenti_asilo_dallitalia-414254801/

[*] Cécile Debarge schreibt im Mediapart vom 17. September: «Seit Montag hat das von der NGO Sea Watch gecharterte Schiff Aurora 84 Migranten im Hafen von Catania an Land gebracht, die Ocean Viking von SOS Méditerranée hat 68 Migranten in den Hafen von Ancona gebracht, und in Lampedusa haben die Sea Punk 1, die Nadir und die ResQ People jeweils 44, 85 und 96 Personen an Land gebracht. Diese lächerlichen Zahlen zur Gesamtzahl der in Italien angekommenen Menschen sind nichts Aussergewöhnliches. Nach den Zahlen der Openpolis Foundation machten die von NGOs durchgeführten Rettungsaktionen im Jahr 2022 etwa 10% der gesamten Ankünfte aus. In diesem Sommer und in den letzten Monaten ist ihre Präsenz im zentralen Mittelmeer auf ein Minimum geschrumpft. Und dennoch gingen die Ankünfte weiter. In autonomer Weise.» Eine Feststellung, die den Rechtfertigungsdiskurs der Sicherheitskampagne entkräftet, der die polizeilichen Massnahmen gegen Geflüchtete als durch einen «Krieg gegen die Schlepper» motiviert darstellt. Im Schatten dieses «Krieges» wird ein juristischer und administrativer Kampf – unter anderem von der Regierung Meloni, legitimiert durch die EU und ihre Vertreter – gegen die verschiedenen Organisationen geführt, die sich der Rettung von Migrant:innen widmen. (Red. A l’Encontre) (Réd. A l’Encontre)

Übersetzt durch Redaktion BFS

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