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Iran: Heftige Proteste der Lohnabhängigen

Im Januar 2018 kam es im Iran zu landesweiten Aufständen breiter Bevölkerungsteile. Auch 11 Monate danach ist die iranische Regierung unfähig, die Ursachen, welche die Proteste ausgelöst haben, anzugehen. Stattdessen verschlimmert sich die soziale und ökonomische Lage vieler Lohnabhängigen weiter. Seit mehr als einem Monat streiken die Arbeiter*innen der grossen industriellen Zentren im Süden des Landes erneut.

von Nima Pour Jakub*

Die neue Welle der Proteste der Lohnabhängigen hat am 5. November 2018 in der Zuckerfabrik Haft-Tapeh in der südwestlichen Stadt Schusch begonnen. Die gesamte Anlage liegt 14 Kilometer ausserhalb der Stadt und ist 24’000 Hektar gross. Sie wurde 1959 mit Hilfe amerikanischer Investoren erbaut und sollte ein wichtiges Standbein der iranischen Landwirtschaft werden.

Seit 2010 schreibt die Fabrik jedoch Verluste und hat erhebliche Schulden angehäuft. Schon 2005 hatten Angestellte von Haft-Tapeh protestiert, nachdem sie drei Monate lang keinen Lohn mehr erhalten hatten. Proteste und Streiks kamen in den letzten 20 Jahren immer wieder vor.

2012 versuchten die Besitzer von Haft-Tapeh, die Produktion mittels modernerer Maschinerie profitabler zu machen, dennoch ging sie nach drei Jahren Bankrott. 2015 wurde die Fabrik nach einer Auktion an zwei Firmen (Zeus und Ariak-Lorestan) zum Preis von 60 Milliarden Rial (damals circa 15 Mio. CHF) verkauft. Dies, obwohl ihr tatsächlicher Wert auf rund 2900 Milliarden Rial (damals knapp 725 Mio. CHF) geschätzt wurde. Ayyub Asadbeigi, Mitglied des Verwaltungsrates von Haft-Tapeh, verkündete noch im selben Jahr vor protestierenden Arbeiter*innen, dass er noch 11 andere Fabriken besässe und dort überall Löhne ausbezahle. Doch hier sei die Lage schwierig. Einige Arbeiter*innen erhielten während 16 Monaten keinen Lohn mehr.

Die Arbeiter*innen protestierten seither immer wieder. Das Versprechen des Unternehmens, bis Jahresende 2017 alle Löhne auszuzahlen, blieb unerfüllt. Am 7. März 2018 sprach Rostami Chegni, der neue Besitzer der Fabrik, zu den protestierenden Arbeiter*innen und reklamierte über die regelmässigen Streiks. Über die ausstehenden Löhne hingegen verlor er kein Wort.

Verstaatlichung oder Räte: Eine neue Qualität der Proteste

Obwohl Proteste und Streiks also seit Jahrzehnten zur Geschichte der Zuckerfabrik gehören, ist die aktuelle Welle der Proteste bemerkenswert. So fordern die Arbeiter*innen vermehrt, die Verwaltung der Fabrik an einen Arbeiterrat zu übergeben. Alternativ dazu schlagen sie auch vor, den Betrieb zu verstaatlichen und durch einen Arbeiterrat zu überwachen.

Seit fast einem Monat demonstrieren nun Arbeiter*innen von Haft-Tapeh auch vor dem Regierungssitz in Schusch und fordern die Lokalregierung zum Handeln auf. Auch auf Grund der ökonomischen Bedeutung der Zuckerindustrie in der Region ist die Sympathie der lokalen Bevölkerung mit den Streikenden gross.

Am 18. November 2018 nahm der iranische Geheimdienst 18 Arbeiter und eine Aktivistin fest. 17 Arbeiter wurden in den darauffolgenden Tagen wieder freigelassen, doch Esmail Bakhshi, ein Vertreter der Arbeiter*innen sowie die Aktivistin Sepideh Gholian, die an Demonstrationen teilgenommen hatte und journalistisch tätig war, blieben inhaftiert.

https://www.facebook.com/iranianprotestslive/videos/488350101573796/

Im Video rufen die Menschen: „Freiheit für alle inhaftierten Haft-Tapeh-Arbeiter*innen“, „Studierende und Arbeiter*innen, vereinigt euch!“ und „Drohungen und Gefangenschaft funktionieren nicht mehr!“

Verhaftungen und Folter

Laut Berichten einer vor Ort tätigen Gewerkschaft wurden die zwei Inhaftierten heftig gefoltert und mussten auf Grund ihrer Verletzungen ins Krankenhaus nach Ahwaz gebracht werden. Am 4. Dezember 2018 verhaftete der Geheimdienst Asal Mohammadi, eine Studentin, welche die Protestierenden unterstützt. Sie wurde ebenfalls nach Schusch gebracht.

Auch Ali Nejati, ebenfalls Mitglied der Haft-Tapeh-Gewerkschaft, wurde schon am 29. November 2018 festgenommen. Ali Nejati gehört zu einer Gruppe von Arbeitern, die sich 2007 zusammenschlossen und eine neue Gewerkschaft gründeten. Er sass dafür schon jahrelang im Gefängnis.

Der ebenfalls gewerkschaftlich aktive Esmail Bakhshi wurde auf Grund der Proteste seiner Kolleg*innen am 12. Dezember 2018 wieder freigelassen. Er ist wegen „Störung der öffentlichen Ordnung,“ „Verschwörung und Absprachen gegen die nationale Sicherheit“ sowie „Teilnahme an der Bildung einer Gruppe, die die nationale Sicherheit stören will“ angeklagt und wird wahrscheinlich vor ein Revolutionsgericht gestellt. Sepideh Gholian wurde am 18. Dezember 2018 gegen Kaution freigelassen. Asal Mohammadi ist nach wie vor in Haft.

Die Proteste weiten sich aus

Die Proteste um die Haft-Tapeh-Fabrik sind kein Einzelfall. Auch Arbeiter*innen der Ahwaz Stahlfabrik traten am 10. November 2018 in den Streik und protestierten gegen das Ausbleiben von Lohnzahlungen, die Privatisierung der Fabrik sowie Rohstoffmangel.

Auch die Stahlarbeiter*innen wehrten sich nicht nur mittels einer Arbeitsniederlegung, sondern organisierten Demonstrationen in der Stadt Ahwaz sowie vor der Bezirksregierung. Sie informierten die lokale Bevölkerung über ihre Situation und ihre Anliegen. Nach 20 Tagen fanden vor der Moschee Gespräche zwischen den Arbeiter*innen und einem hohen Regierungsbeamten statt.

Vergangene Woche wurden über 20 Arbeiter*innen vom Geheimdienst vorgeladen, bedroht und eingeschüchtert. Meytham Al Mahdi wurde am 11. Dezember 2018 vor seinem Haus festgenommen. Obwohl er am Tag darauf wegen der Proteste seiner Kolleg*innen wieder freigelassen wurde, wurde er am 18. Dezember 2018 erneut festgenommen und zusammen mit 40 anderen Arbeiter ins Gefängnis in Ahwaz gebracht.

Solidarisierung der Bevölkerung

Die jüngsten Proteste in Schusch und Ahwaz unterscheiden sich in mancher Hinsicht von früheren. In beiden Fällen gelang es, Solidarität zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen zu wecken. Lehrer*innen solidarisierten sich offen mit den Streikenden, hielten Reden, setzten sich für sie ein. Auch Arbeiter*innen anderer Fabriken publizierten Solidaritätsbotschaften. Am 18. Dezember 2018 demonstrierten pensionierte Lehrer*innen vor dem Parlament in Teheran. Sie verlangten u.a. die Freiheit für die inhaftierten Arbeiter*innen.

Doch die stärkste Solidaritätswelle kam von Seiten der Studierenden. In mehreren Protesten und Versammlungen rund um den 7. Dezember 2018 – dem Tag der Studierenden im Iran – fanden Solidaritätsbekundungen mit der Streikbewegung statt.

Die Reaktion der Regierung

Es ist kaum verwunderlich, dass die Regierung der islamischen Republik über die Ausweitung der Proteste besorgt ist und auch diejenigen Kräfte ins Visier ihrer Repression nimmt, die sich solidarisch zeigen. Am 10. Dezember 2018 wurden Reza Shahabi, Hassan Saidi und drei weitere Aktivisten in Teheran festgenommen. Reza Shahabi und Hassan Saidi sind zwei Mitglieder der Gewerkschaft der Busfahrer*innen in Teheran. Reza Shahabi sass auf Grund seines politischen und gewerkschaftlichen Engagements schon sechs Jahre im Gefängnis. Glücklicherweise wurden alle am Tag darauf freigelassen, nachdem sich ihre Familien und Kolleg*innen vor dem Evin-Gefängnis versammelt hatten.

Am 5. Dezember 2018 wurde der 70-jährige Aktivist Asghar Firouzi in Maschhad festgenommen und nach 12 Tagen gegen Kaution freigelassen. Er sass schon in den 1980er Jahren lange im Gefängnis und hat die Massenhinrichtungen der politischen Gefangenen im Sommer 1988 überlebt.

Schliesslich wurde auch Behnam Ebrahimzadeh am 12. Dezember 2018 vor seinem Haus festgenommen. Behnam Ebrahimzadeh ist ein bekannter Aktivist im Iran und hat wie viele andere schon Jahre hinter Gittern gesessen.

Die Islamische Republik hat weder die Macht, die Proteste völlig zu unterdrücken, noch kann sie sie ignorieren oder gar die Forderungen der Arbeiter*innen erfüllen. Die tiefen Ölpreise, die einbrechenden Exporteinnahmen sowie die hohe Inflation der letzten Monate sind Ausdruck einer strukturellen Krise. Die ökonomisch verheerende Situation schlägt immer häufiger in politische Proteste um, die der Regierung weder Fortschritt noch Rückzug ermöglichen.

In dieser Atmosphäre stellen Verbindungen der Proteste der Arbeiter*innen und der Aufstände der Armen und Arbeitslosen den grössten Alptraum des Regimes dar. Die internationale Solidarität aller progressiven Organisationen mit den Bewegungen im Iran kann die iranische Bevölkerung ermutigen, um bis zum letzten Ziel, nämlich der Freiheit und der Gerechtigkeit für alle, zu kämpfen.

*Nima Pour Jakub ist Menschenrechtsaktivist aus dem Iran und lebt seit sechs Jahren in der Schweiz. Er schreibt regelmässig für sozialismus.ch.

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