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Österreich: Ein neokonservativer Versuch

Die Nationalratswahl in Österreich am 15. Oktober 2017 offenbarte auf der Grundlage einer langanhaltenden Hegemonie konservativer Kräfte einen weiteren Rechtrutsch. Die wesentlichen Fraktionen der herrschenden Klasse des Landes beschlossen, die sogenannte Sozialpartnerschaft und deren politische Verdichtung in Form der langjährigen SPÖ-ÖVP-Allianz aufzukündigen. Die auf eine Mitverwaltung des Staates und der kapitalistischen Gesellschaft ausgerichtete SPÖ und die Grünen erweisen sich als unfähig, auf diese neokonservative[1] Offensive mit eigenen Konzepten zu reagieren. Sie sind weitgehend orientierungslos und handlungsunfähig. Die Gewerkschaftsführungen setzen wie gewohnt auf Dialog, auch mit der neuen Regierung. Dennoch gibt es Proteste. Die Beteiligung von Mitgliedern deutschnationaler Burschenschaften an der Regierung empört viele Menschen in Österreich. Die geplante „Reform“ des Arbeitsregimes und der Ausbau des Niedriglohnbereichs sind unpopulär. Allerdings haben sich die Gewerkschaften bislang nicht an den Demonstration gegen die Regierung beteiligt. Ob sich eine wirksame Protestbewegung entwickeln kann, hängt auch davon ab, ob es gelingt gesellschaftliche Organisierungsprozesse voranzutreiben. Eine antikapitalistische Kraft existiert nicht in Österreich. Eine solche kann erst im Zuge eines langwierigen Neuformierungsprozesses entstehen.
von Christian Zeller

1. Umfassender Rechtsrutsch als Ergebnis einer langer Entwicklung

Die Nationalratswahl hat mit dem klaren Wahlsieg der „neuen ÖVP“ [konservative Österreichische Volkspartei] und den deutlichen Zuwächsen für die FPÖ [rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs] auf institutioneller Ebene eine Verschiebung nach rechts sichtbar gemacht (Tabelle 1). Doch diese Verschiebung der institutionell-politischen Kräfteverhältnisse ist Ergebnis einer längeren Entwicklung in den Zentrumsländern Europas. Gesellschaftlicher Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Erfindung der rechtspopulistischen Politik von Haider, Strache und nun Kurz, sondern tief verankert in der österreichischen Geschichte. Das Spiel mit rassistischen Ressentiments, nationalsozialistischen Zeichen und antisemitischen Codes hat eine lange Tradition. Auch WählerInnen von SPÖ [Sozialdemokratische Partei Österreichs] und ÖVP zeigen ausgeprägte xenophobe, rassistische und antisemitische Einstellungen.[2] In Österreich gibt es strukturell eine konservative bis reaktionäre Mehrheit, die auch durch die SPÖ in den 1970er Jahren nicht gebrochen wurde. Diese Mehrheit brachte sich manchmal mehr oder weniger deutlich und weitgehend zum Ausdruck.
Tabelle 1: Resultat der Nationalratswahl vom 15. Oktober 2017

Prozentanteil Veränderung gegenüber 2013 Anzahl Sitze im Nationalrat
ÖVP 31,47% 7,48% 62
SPÖ 26,86% 0,04% 52
FPÖ 25,97% 5,46% 51
Grüne 3,80% -8,62% 0
NEOS 5,30% 0,34% 10
PILZ 4,41% keine Teilnahme in 2013 8
KPÖ PLUS 0,8% -0,2%
Sonstige 1,4% -8,9%

Quelle: https://wahl17.bmi.gv.at/
Der Rechtsrutsch in Österreich auf gesellschaftspolitischem Terrain ist bedeutend. Doch es geht um mehr. Das Führungspersonal der herrschenden Klasse hat auf der institutionellen Ebene eine bedeutende wirtschaftspolitische Verschiebung nach rechts durchgesetzt. Die neue ÖVP-Führungsriege um Sebastian Kurz und die ihn stützenden Kräfte sind in die Offensive gegangen. Als sie im Frühjahr 2017 die Führung der ÖVP übernahmen, wetteten sie auf Sieg. Dieser erste Teil ihrer Operation ist aufgegangen. Nun wollen sie möglichst alle institutionellen Hürden aus dem Wege räumen, die der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten Schlüsselunternehmen noch im Wege stehen. Die Flexibilisierung der Arbeit, die Abschaffung der Notstandshilfe, die Infragestellung der Kollektivverträge, die Schwächung der Arbeiterkammer sowie der Um- und Abbau der Sozialversicherungen sind Bestandteile eines kohärenten Programms.
Die FPÖ hat sich mit ihrem Wirtschaftsprogramm dieser neoliberalen und neokonservativen Offensive angeschlossen. Sie hat ihre soziale Rhetorik weitgehend aufgegeben. Die FPÖ hat sich mit der EU, namentlich ihrem liberalen Wirtschaftsregime und ihren autoritären Tendenzen, versöhnt. Im ihrem Wahlkampf waren kaum Anti-EU-Töne zu vernehmen. Zugleich üben weder die EU-Spitze noch die Regierungen in Europa Kritik an der Beteiligung der populistischen und reaktionären Rechten an der österreichischen Regierung. Die FPÖ ist nun integrierter Bestandteil des herrschenden Blocks. Mit dem Innenministerium und dem Militärministerium erlangt sie nun die Kontrolle über den Sicherheits- und Repressionsapparat einschließlich der Geheimdienste.
Die „neue ÖVP“ trennt programmatisch nur noch wenig von der rechtspopulistischen FPÖ. Der fremdenfeindliche und rassistische Diskurs von ÖVP und FPÖ passt zu dieser Ausrichtung. Die Rhetorik von Kurz und Strache ist voll von Spaltungslinien: in Einheimische und Zugewanderte, in Junge und Alte, in gut Qualifizierte und LeistungsverweigerInnen, Arbeitssuchende und „Durchschummler“, die Arbeitslosengeld und Notstandshilfe erschleichen, in WienerInnen und Nicht-WienerInnen, in Familien und Alleinstehende. „Ausländer“ kämen um sich soziale Leistungen zu erschleichen. Die ExponentInnen von ÖVP und FPÖ schüren systematisch die Mechanismen der Ausgrenzung und den Geist des Egoismus, um jede Vorstellung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Infrastruktur und Vorsorge zu unterminieren.
Die FPÖ hat offene Rechtsextreme und Nazis in ihren Reihen. Einige ihrer Minister, Staatssekretäre und zahlreiche Parlamentsabgeordnete sind Mitglieder rechts- und deutschnationaler Burschenschaften. Diese StudentInnenverbindungen sind wichtig für die Karriereplanung der Angehörigen der rechten Eliten. Periodisch kommt ans Tageslicht, wie umfassend Burschenschaften deutschnationales Gedankengut pflegen und weiterverbreiten.
Die FPÖ erfüllt für die herrschenden Fraktionen des Kapitals die nützliche Funktion, das gesamte politische und gesellschaftliche Koordinatensystem nach rechts hin zu rechtskonservativen und wirtschaftsliberalen Vorstellungen zu verschieben. Gerade die Skandale um antisemitische und menschenverachtende Lieder von Burschenschaften, zu deren Mitgliedern auch das Spitzenpersonal der FPÖ gehört, hat die Regierung jeweils genutzt, um im Schatten der durch die Medien transportierten Empörung wirklich wichtige Anliegen vorzubringen.
Die Regierungsparteien verfolgen eine wirtschaftsliberale Agenda. Es geht darum, im Schatten der deutschen Exportmaschinerie die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie substantiell zu verbessern. Das Bürgertum will ein wesentlich kapitalfreundlicheres Arbeitsregime durchsetzen. Das ist die Voraussetzung um im Wettstreit mit den Konkurrenten den unersättlichen Hunger nach Mehrwert zu stillen. Offensichtlich sind gewichtige Teile der Eliten dieses Landes zum Schluss gekommen, dass hierzu nun anderes Projekt, als jenes wofür die Regierungskoalition von 2006 bis 2017 stand, durchzusetzen ist. Grundlegende soziale und demokratische Errungenschaften, welche die ArbeiterInnenbewegung nach dem 2. Weltkrieg erreichen konnte, sind zu zerstören oder, eleganter, zur Unkenntlichkeit umzuformen. Die Sozialdemokratie soll ihre Integrationsleistung derzeit besser in der Opposition ausüben. Die Mechanismen der Sozialpartnerschaft scheinen nicht mehr als zweckmäßig erachtet zu werden.
Allerdings ist es fraglich, inwiefern breite Teile der Bevölkerung und sogar der FPÖ-WählerInnen wirtschaftsliberale Vorstellungen angenommen haben.[3] Breite WählerInnenschichten haben gegen ihre eigenen Interessen gestimmt, weil diese Agenda im Windschatten des lautstarken Anti-Ausländer-Diskurses Einzug hielt.
Möglicherweise kann sich die beabsichtigte Abschaffung der Notstandhilfe zu einer zentralen Auseinandersetzung entwickeln. Die Notstandshilfe ist jene Versicherungsleistung, auf die Arbeitslose zurückgreifen können, nachdem sie Arbeitslosengeld erhalten haben und dessen Bezug ausgeschöpft haben. Die Regierung hat angekündigt diese Notstandshilfe abzuschaffen und die Menschen in die Mindestsicherung, die als staatliche Transferzahlung durch die Bundesländer konzipiert ist, abzudrängen. Dieses Vorhaben ähnelt stark den Arbeitsmarktreformen, die die deutsche Bundesregierung 2003 durchgesetzt hatte. Diese haben zu einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitsregimes geführt und zu einer langanhaltenden Stagnation der Löhne für große Teile Lohnabhängigen geführt.

2. SPÖ – Von der reformistischen Überwindung des Kapitalismus zu dessen Modernisierung

Die SPÖ erzielte zwar ein respektables Wahlresultat, welches jedoch den langfristigen Niedergang bestätigt. Die SPÖ verlor massiv Stimmen von enttäuschten ArbeiterInnen und Angestellten an die FPÖ. Zugleich gewann sie Stimmen relativ privilegierter Lohnabhängiger, vorwiegend AkademikerInnen, dazu, die vormals die Grünen gewählt haben.[4] Sie gewann diese Stimmen nicht aufgrund ihres Programms, sondern weil viele Angehörige „gebildete Schichten“ nun plötzlich Angst vor einem ungeschminkten Rechtskurs bekamen.
Die Bewegung vieler ehemaliger WählerInnen der Grünen zur SPÖ ist jedoch kaum Ausdruck einer weiteren Rechtsverschiebung. Die Grünen stellten sich der neoliberalen und neokonservativen Offensive keineswegs konsequenter gegenüber als die SPÖ. Gemäß Analysen des Unternehmens Sora sollen neben ehemaligen 161.000 WählerInnen der Grünen, die nun die SPÖ vorgezogen haben, sogar 165.000 ins Lager von Kurz gewechselt haben. Das zeigt, wie fließend die Übergänge der Grünen ins konservative Lager sind.
Die verbreitete Wahl des „kleineren Übels“ ist nicht zuletzt Ausdruck des mangelnden Selbstvertrauens vieler Lohnabhängiger und der Feststellung, dass es seit Jahrzehnten keine Kraft gibt, die wirksam eine solidarische Politik vorschlägt. Gerade der Zerfall der grünen WählerInnenschaft offenbart, dass es die Grünen in ihrer 30-jährigen Existenz nicht geschafft oder nicht einmal versucht haben, sich gesellschaftlich zu verankern. Mangelndes Selbstvertrauen bedeutet auch mangelndes Vertrauen gegenüber politischer Organisierung und kollektiven Antworten.
Die SPÖ hat sich mit ihrem im Januar 2017 vorgestellten Plan A, den sie selber „das Programm für Wohlstand, Sicherheit & gute Laune“ nennt, weitgehend neoliberalen Vorstellungen angepasst. Sie akzeptiert den kapitalistischen Standortwettbewerb und die mit ihm eingehenden sozialen Spaltungen. Sie erinnert in ihren Versuchen wieder Boden unter die Füße zu kriegen, bisweilen rhetorisch an die Reformpolitik Kreiskys. Doch für eine Korrektur zu einer sozialen Reformperspektive fehlen die aktiven Kräfte in der Partei.
Lange ist es her, als die Sozialdemokratie noch für eine reformistische Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsweise einstand. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die internationale Sozialdemokratie und damit auch die SPÖ mit dem Kapitalismus arrangiert. Die SPÖ profilierte sich als Partei sozialer Reformen, nicht um den Kapitalismus zu überwinden, sondern um breiten Teilen der österreichischen Lohnabhängigen die Lebensbedingungen zu verbessern und diese mit dem kapitalistischen System zu versöhnen. Die sozialpolitische Reformagenda der Kanzlerschaft von Bruno Kreisky 1970-83 stand für diese Vorstellungen des Wohlfahrtsstaats. Die neoliberale Wende seit den späten 1970er Jahren hinterließ zeitverzögert auch in Österreich ihre Spuren. Seit Mitte der 1980er Jahre, ausgeprägt seit der Übernahme der Kanzlerschaft und des SPÖ-Vorsitzes durch Franz Vranitzky 1986, verfolgte die SPÖ zunehmend eine Politik der sozialen Abfederung neoliberaler Konzepte. Sie betrieb zusammen mit der ÖVP die Durchsetzung einer sozialgefärbten Variante des Neoliberalismus, also einer Modernisierung der Kapitalherrschaft. Gleichzeitig trug die SPÖ aber Sorge, dass ihre Verbindungen zu den Gewerkschaften und die Strukturen der sogenannten Sozialpartnerschaft keinen Schaden erlitten.
Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben eine große Mitverantwortung für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Neoliberalen und Neokonservativen. Wir führen hier fünf wichtige Punkte an, über deren Konsequenzen wir verstärkt nachdenken sollten:

  • Die SPÖ, wie die ganze Sozialdemokratie in Europa, hat sich bereits seit Jahrzehnten weitgehend dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit unterordnet und trug tendenziell nationalistische Standortdiskurse mit.
  • Die SPÖ und ihre Schwesterparteien in Europa hielten lange Zeit an der Verteidigung des Sozialstaates, ein Erbe vergangener Kämpfe und der glorreichen Phase des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg, fest. Nachdem die Verteilungskämpfe aufgrund sinkender Produktivitätszuwächse härter wurden, verschrieben sie sich einem Modernisierungskurs im Dienste des exportorientierten Kapitals. Der britische Premierminister Blair und der deutsche Bundeskanzler Schröder trugen diese Orientierung Ende der 1990er Jahre auf die Spitze. Obgleich nicht so konsequent, ging die SPÖ einen ähnlichen Weg. Der im Januar 2017 mit großem Pomp vorgestellte Plan A, den die SPÖ selber „das Programm für Wohlstand, Sicherheit & gute Laune“ nennt, war kein sozialdemokratisches Reformprogramm, sondern ein Modernisierungsprogramm, das die Interessen der exportorientierten Industrie sozial gestalten und einbetten wollte.
  • Das Führungspersonal der SPÖ hat sich in den Staatsapparat und im Management staatnaher Unternehmen integriert. Wer seine politische Praxis mit einer erfolgreichen Karriere im Staatsapparat, in der Arbeiterkammer oder als Manager eines „nahestehenden“ Unternehmens verbindet, wird kaum mehr bedingungslos für die Interessen der weniger privilegierten Lohnabhängigen einstehen. Die SPÖ hat die sozialen Bindungen in die Stadtteile, in den Gemeindewohnbau, in die Betriebe und zur ehemaligen gewerkschaftlichen Basis verloren. Die Parteiexponenten sind ein Teil der politischen Kaste. Sie unterscheiden sich darin kaum von den Spitzen der ÖVP und FPÖ. Es gilt zu überprüfen, inwiefern Teile der Sozialdemokratie sich mittlerweile zu einem Teil der herrschenden Klassen beziehungsweise ihrer Hilfstruppen assimiliert haben, nicht nur objektiv, sondern sich dieser auch selber zugehörig fühlen.
  • Die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften tragen eine umfassende Mitverantwortung für eine seit Jahrzehnten fremdenfeindliche und fragmentierende Arbeitsmarktpolitik. Die Gewerkschaften machen es sich zur Aufgabe, die österreichischen ArbeiterInnen und Angestellten in Konkurrenz zu eingewanderten Lohnabhängigen und zu jenen in anderen Ländern zu verteidigen. Nicht die Einheit und das gemeinsame Interesse aller Lohnabhängigen und Ausgebeuteten stehen im Vordergrund, sondern die kurzfristigen Anliegen derjenigen mit dem richtigen Pass.
  • Die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften entwickeln kaum ein Verständnis dafür, die ganze Klasse der Lohnabhängigen, also wirklich aller, die ihre Arbeitskraft mehr oder weniger prekär verkaufen müssen beziehungsweise vom Lohn ihrer PartnerInnen abhängig sind, zu verteidigen. Teilzeitarbeitende Frauen, Prekäre, Kleinstunternehmen bleiben vergessen.

Der Rechtsrutsch der SPÖ ist nicht einer ungünstigen Konstellation in deren Führung oder dem rein taktischen Kalkül dieser Führung geschuldet (obwohl das noch hinzukommen mag), sondern ist Ausdruck der kompletten Integration der SPÖ in das bürgerlich-kapitalistische Herrschaftssystem und der Aufgabe jeder Orientierung der SPÖ als soziale Reformpartei, geschweige denn als klassisch reformistische Partei, die den Kapitalismus noch überwinden wollte.

3. Eine unabhängige Kraft aufbauen, die sich an den Interessen der Lohnabhängigen orientiert

Die Nationalratswahl vom 15. Oktober 2017 hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es in Österreich keine relevante linke Kraft gibt, weder eine, die konsequent für soziale Reformen einsteht noch eine, die eine antikapitalistische Perspektive formuliert. Das Wahlresultat der KPÖ PLUS [Kommunistische Partei Österreichs und Junge Grüne] mit 0,8% bundesweit ist ernüchternd. Ohne Unterstützung durch die Jungen Grünen (mit dem nichtssagenden Namen Plattform unabhängig & solidarisch PLUS) wäre die KPÖ in den westlichen Bundesländern gar nicht mehr in der Lage gewesen, einen Wahlkampf zu führen.
Aus der Perspektive der Emanzipation der arbeitenden Klassen besteht ein fundamentales Problem, dass sich in Österreich ganz besonders zeigt. Die Integration der Sozialdemokratie in die Verwaltung des kapitalistischen Herrschaftssystems ist in einem Maße vorangeschritten, dass es kaum mehr Ansätze einer eigenständigen politischen Organisierung von Lohnabhängigen gibt, um als unabhängige Akteure für ihre Interessen als soziale Klasse einzustehen. Die langjährige Sozialpartnerschaft beförderte nicht die eigenständige Handlungsfähigkeit von Gewerkschaften, sondern ihre Bürokratisierung, Verkrustung und Integration in die Verwaltung kapitalistischer Herrschaftsstrukturen. Die Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben ist brüchig geworden. In den neuen Wirtschaftssektoren sind sie kaum präsent. Darum sind sie kaum mehr streikfähig und beschränken sich auf die Interessenvertretung in den Institutionen. Als eigenständige politische Akteure im Dienste der Lohnabhängigen treten sie nur noch punktuell auf. Eine gewerkschaftliche Erneuerungsbewegung im Sinne eines „social movement unionism“ fehlt. Gewerkschaften, die sich als soziale Bewegungen verstünden, die alle lebensweltlichen Belange der Beschäftigten aufgriffen, also von den Problemen am Arbeitsplatz über die Wohnung und das Wohnumfeld, den täglichen Verkehr bis hin zur freien Zeit, würden die Situation bereits stark verändern. Sie könnten ein attraktiver Bezugspunkt für eigene Aktivitäten und ein Labor für neue Ideen sein. Leider sind die Gewerkschaften gegenwärtig weit von einer derartigen Orientierung als umfassende soziale Bewegungen entfernt.

4. Kämpfe nur von oben oder auch von unten?

Wir befinden uns mitten in einem Klassenkampf von oben gegen unten, der an Härte und Brutalität zunehmen wird. Das bedeutet leider nicht, dass sich automatisch breiter gesellschaftlicher Widerstand entwickeln wird. Zweifellos werden sich die Menschen gegen den soziale Angriffe zu wehren beginnen. Doch ob es einen verallgemeinerten Widerstand geben wird, ist komplett offen. Die Reaktionen der SPÖ auf die Vorhaben der neuen Regierung haben bislang keine Anzeichen dafür ergeben, dass sie sich der neokonservativen Offensive entgegenstellen möchte. Ganz in gewohnten Bahnen wird sie sich wahrscheinlich damit begnügen, die Politik der rechten Regierung sozial etwas abzufedern und erträglicher zu machen. Der SPÖ-Vorsitzende Christian Kern plädierte in einem Diskussionsbeitrag in der Tageszeitung Der Standard[5] für eine intensive Zusammenarbeit von Unternehmen und Staat zur Stärkung der österreichischen Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Um seine technologielastige Argumentation für eine grüne Wirtschaft zu untermauern, zog er sogar Microsoft-Gründer und Milliardär Bill Gates als Referenz heran. Auf lokaler Ebene sieht es nicht besser aus. Vielfach treibt die SPÖ selber Ausgrenzungsprozesse voran und spaltet damit die arbeitende Bevölkerung. So will die Führung der Linzer SPÖ anerkannten Flüchtlingen die Mindestsicherung wegnehmen.[6] Seit der Nationalratswahl kritisiert die SPÖ in einer nationalistischen Rhetorik die Regierung für den Import billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa. Anstatt die Lohnabhängigen in ihrer Gesamtheit anzusprechen und für gemeinsame Standards einzustehen, schließt sie sich damit dem üblen Spiel der Spaltung an. Die Vorbereitung einer auch nur ansatzweise konsequenten Oppositionspolitik sähe anders aus.
Die Gewerkschaften bleiben zentral für die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen und für die Organisierung von Widerstand. Hier können durchaus Situationen entstehen, in denen die Gewerkschaftsführungen so unter Druck geraten, dass sie handeln und ihre eigenen Basis mobilisieren müssen, um weiterhin als VerhandlungspartnerInnen anerkannt zu bleiben. Das kann auch für die Gewerkschaftsbürokratie eine Frage des Überlebens sein, da diese ohne eine gewisse Mitgliedsbasis selber ihre gesellschaftliche Stellung verlieren würde. Entscheidend ist, inwiefern es gelingt, lebendige gewerkschaftliche Vernetzungsstrukturen in den Betrieben aufzubauen, sei es im Rahmen der bestehenden Gewerkschaften oder in eigenständigen Organisationen.

5. Herausforderungen

Die Herausforderungen in Österreich sind groß. Es geht um einen wirklichen Neuaufbau antikapitalistischer Kräfte. Die Herausforderung besteht darin, Forderungen und Perspektiven zu formulieren, die einerseits an konkreten Bedürfnissen und Auseinandersetzungen anknüpfen, diese in einem alternativen Programm zusammenzuführen und schließlich Vorschläge einzubringen, die den Rahmen der bestehenden Konkurrenz- und Profitlogik hinter sich lassen. Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise sind die Initiativen von Beschäftigten im Gesundheitswesen wie „Pflege ist mehr Wert“ und „CaRevolution“. Letztlich werfen diese Initiativen die Frage auf, wie das Gesundheitswesen überhaupt jenseits der Warenlogik organisiert werden soll. Konsequent gedacht führt das mitunter zu einer Infragestellung der kapitalistischen Organisation von Pflegediensten, Krankenhäusern, Krankenversicherungen und Medikamentenherstellung. Gerade im öffentlichen Dienst geht es immer auch darum, die Beschäftigten und die NutzerInnen in einen fruchtbaren Dialog über gemeinsame Perspektiven für gute Arbeitsbedingungen und Qualität der Dienstleistungen zu bringen.
Erforderlich ist eine Orientierung auf die Klasse der Lohnabhängigen in ihrer ganzen Vielfalt und Unterschiedlichkeit sowie eine längerfristig ausgerichtete Organisierungsarbeit. Die Lohnabhängigen, Deklassierten, Prekären, KleinstunternehmerInnen, MigrantInnen und die große Mehrheit der Frauen brauchen eine Organisation, die ihnen mit Rat und Tat beisteht, die sie unterstützt und die versucht, ihr Sprachrohr in der ihnen fremden Welt tendenziell autoritärer Institutionen zu sein. Eine solche Organisation fehlt seit vielen Jahrzehnten. Das ist bereits so lange her, dass das Bewusstsein über die Nützlichkeit einer solchen Organisation erloschen ist.
Antikapitalistische Projekte stehen vor einer dreifachen Herausforderung. Erstens ist eine politische Kraft zu entwickeln, die sich grundsätzlich der kapitalistischen Profit- und Konkurrenzlogik entgegenstellt. Die Organisation Aufbruch kann hierzu einen Beitrag leisten. Die Herausforderung reicht aber weit über die Kapazitäten von Aufbruch hinaus. Eine relevante Kraft kann sich letztlich nur im Zuge gesellschaftlicher Bewegungen und Auseinandersetzungen entwickeln. Diese antikapitalistische Organisation soll zugleich eine offene Bündnispolitik auf konkreten Sachfragen mit allen Gruppierungen und Individuen betreiben, die sich der neoliberalen und neokonservativen Offensive entgegenstellen wollen. Je nach Auseinandersetzung und Thema können sich durchaus unterschiedliche Bündniskonstellationen ergeben.
Zweitens sind Aktivitäten zu entwickeln, die dazu beitragen, Lernprozesse, eine widerständige Praxis am Arbeitsplatz, am Wohnort, an der Uni und der Schule sowie überhaupt in der Gesellschaft zu befördern. Durch Selbstaktivität und Organisierung können sich die Menschen einbringen und als politische ProtagonistInnen verstehen lernen. Gewerkschaften, die alle lebensweltlichen Belange der Beschäftigten berücksichtigen, MieterInnenverbände, Umweltorganisationen, feministische und antirassistische Organisationen können derartige Selbstermächtigungen zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist das wieder zu entwickelnde Verständnis einer unabhängigen und eigenständigen Organisierung.
Drittens stehen wir der Herausforderung, Programme zu formulieren, die einerseits an den real wahrgenommenen Problemen großer Teil der arbeitenden Bevölkerung ansetzen, von diesen verstanden werden und zugleich in eine Richtung jenseits der Profit- und Konkurrenzlogik hinausweist. Es geht also um eine Programmatik, die ansatzweise Perspektiven eines Übergangs zu nicht-kapitalistischen Formen der Gesellschaft weist. Diese programmatische Arbeit ist europäisch, transnational und global auszurichten. Das geht letztlich selbstverständlich nur im internationalen Dialog mit ähnlichen Organisationen und Bewegungen anderswo.
Eine antikapitalistische Organisation, die zugleich radikal, also den Dingen auf den Grund geht, und flexibel breite Bündnisse gegen die neoliberale Offensive eingeht, sollte in der Lage sein, diese drei Ebenen miteinander zu verbinden. Es geht um nicht weniger als den Neuaufbau sozialer und politischer Zusammenhänge, die auch ihren politischen Ausdruck in einer antikapitalistischen Kraft finden sollen.
12. Februar 2018

[1] Der Begriff neokonservativ soll auszudrücken, dass die Programmatik dieser Regierung wirtschaftsliberale Vorstellungen mit einer gesellschaftlich konservativen, autoritären und reaktionären Programmatik verbindet. Der Begriff neoliberal wäre nicht treffend und charakterisiert beispielsweise eher die Programmatik der Partei Neos.
[2] OTS, 9. November 2001: Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Österreich: Autoritarismus und Antisemitismus https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20011109_OTS0006/ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-oesterreich-autoritarismus-und-antisemitismus
[3] Tanja Traxler: FPÖ-Wähler stehen ökonomisch weiter links als die Partei. Der Standard, 21. Dezember 2017  http://derstandard.at/2000070788364-2000020665585/FPOe-Waehler-stehen-oekonomisch-weiter-links-als-die-Partei.
[4] SORA: Wahlanalyse Nationalratswahl 2017, SORA/ISA im Auftrag des ORF
Gerald Gartner Arbeiter zur FPÖ, Akademiker zur SPÖ: Welche Wählergruppen wohin gewechselt sind. Der Standard 17. Oktober 2017
http://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2017_NRW_Wahlanalyse.pdf
http://derstandard.at/2000066198328/Welche-Waehlergruppen-wohin-gewechselt-sind
[5] Christian Kern: Die Sozialdemokratie hat eine große Zukunft. Der Standard, 8. Dezember 2017. http://derstandard.at/2000069877857/Die-Sozialdemokratie-hat-eine-grosse-Zukunft
[6] OÖ Nachrichten, 21. November 2017. http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/Linzer-SPOE-will-Fluechtlinge-aus-der-Mindestsicherung-nehmen;art4,2741018

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