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Schweiz: Gewerkschaftliche Rechte? Fehlanzeige!

Die Schweiz steht in punkto Einhaltung grundlegender Gewerkschaftsrechte auf der schwarzen Liste der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Der folgende offene Brief an Pierre-Yves Maillard, den neuen Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), dokumentiert die jüngsten Fälle der antigewerkschaftlichen Praxis der Schweizer Unternehmen und ihrer Justiz. (Red.)

von kritischen Gewerkschafter*innen

Ist es vorstellbar, die Löhne und das Beschäftigungsniveau ohne Gewerkschaftsrechte in den Betrieben zu schützen? Das ist die Frage.

Der neugewählte Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Pierre-Yves Maillard, erklärt zu Recht: Wir müssen die sogenannten flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit verstärken und uns nicht darauf beschränken, sie zu verteidigen. Die Fakten bestätigen diese Stellungnahme.

1. Die Schweiz auf der schwarzen Liste der ILO

Im November 2006 forderte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit, im heute unersetzbaren Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO-ILO), den Bundesrat auf, «Massnahmen mit dem Ziel zu ergreifen, Gewerkschaftsvertreter*innen, welchen aus gewerkschaftsfeindlichen Gründen gekündigt wurde, eine gleichartigen Schutz zu gewähren wie den aus Gründen der Geschlechterdiskriminierung missbräuchlich entlassenen Personen, einschliesslich der Möglichkeit einer Wiedereinstellung [Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes GlG], dies in Entsprechung der oben genannten Grundprinzipien und der von der Schweiz ratifizierten  Übereinkommen Nr. 87 und 98.»Diesem schweren Verstoss zufolge steht die Schweiz auf der schwarzen Liste der IAO-ILO.»

Dreizehn Jahre später haben, nach mehreren hundertseitigen bundesrätlichen Berichten, einige vergebliche Einigungsversuche stattgefunden, aber geändert hat sich bisher nichts. Im Gegenteil, die schweizerische Gerichtspraxis hat sich in Bezug auf Gewerkschaftsrechte stark verschlechtert:

Zu Beginn der 1990er-Jahre sprachen die Gerichte noch die Maximalentschädigung von sechs Monatslöhnen zu, welche das Obligationenrecht bei missbräuchlichen Einzelkündigungen vorsieht. Heute werden aber zumeist höchstens zwei bis drei Monatslöhne zugesprochen.

Trotz diesen Missständen steigt der SGB in die Mediation von Bundesrat Guy Parmelin ein und stimmt der Streichung der Schweiz aus der schwarzen Liste der IAO zu. Ist das annehmbar? Nein.

Zudem geben SGB-Verantwortliche zu verstehen, dass sie eine Lösung als IAO-tauglich erachten, welche eine Erhöhung der vom Obligationenrecht bei gewerkschaftsfeindlichen Kündigungen vorgesehenen Maximalentschädigung von sechs auf zwölf Monate und/oder die Ermöglichung von gesamtarbeitsvertraglichen Schutzbestimmungen vorsieht. Letztere Schutzbestimmungen werden übrigens dadurch erschwert oder verunmöglicht, dass das schweizerische Arbeitsrecht Arbeitnehmer*innenrechte zur absoluten Ausnahme macht!

2. Diese gewerkschaftlichen Wunschvorstellungen straft die Wirklichkeit Lügen.

Erstens kann eine Frau, welche Lohngleichheit fordert, im Fall einer missbräuchlichen Kündigung wiedereingestellt werden, hingegen fliegt die Gewerkschaftsvertreterin, die ihr diesbezüglich Rat gegeben hatte, ohne weiteres aus dem Betrieb – abgesehen von einer für die Zerstörung eines dreissigjährigen Berufslebens völlig unzureichenden Entschädigung. Dies traf die in den Usines métallurgiques de Vallorbe angestellte Rose Lornet, ein gewähltes Mitglied der Personalkommission, die trotz ihres „Sieges“ vor Arbeitsgericht alles verloren hat[1]. Allein ihr Beispiel geht vergessen. Das ist unannehmbar und zutiefst ungerecht.

Sodann sind die Gerichtskosten ein unüberwindbares Hindernis für eine wirksame Verteidigung der Gewerkschaftsrechte in der Schweiz. Für einen Streitwert von 100’000 Fr. verlangen manche Kantone Gerichtskosten bis zu 100’000 Fr., oder gar 500’000!

Die der Gegenseite geschuldeten Parteientschädigungen, die zu den Gerichtskosten hinzukommen, liegen allein in erster Instanz zwischen 4’000 und 23’700 Fr. So ist z. B. eine Parteientschädigung geschuldet, wenn eine Arbeitnehmerin sechs Monatslöhne fordert und drei erhält!

Ausserdem sind Prozesse am Arbeitsgericht nur dann kostenlos, wenn der Streitwert unter 30’000 Fr. liegt. Es wundert deshalb nicht, dass sich zur Vertretung von Arbeitnehmer*innen gewählte Personen auf die Forderung dieses Betrags beschränken, was ihren Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen noch weiter schmälert. Zur Erinnerung: Der Medianlohn liegt bei 6’502 Fr. pro Monat!

Folglich würde auch eine Erhöhung der maximalen Entschädigung von sechs auf zwölf Monate in den allermeisten Kantonen keinen verbesserten Schutz bieten.

Im Allgemeinen wird die Kündigung von zur Vertretung von Arbeitnehmer*innen gewählten Personen aus wirtschaftlichen Gründen ohne jegliche Beschränkung vom Bundesgericht gutgeheissen. Dies obwohl der Beistand durch einen Vertreter oder eine Vertreterin gerade im Fall von Massenentlassungen besonders nötig ist. Dazu muss sich er oder sie furchtlos äussern können. Andernfalls bleiben diese Vertreter*innen in der Ausübung ihres Auftrags verletzlich. Genau das ist der Fall, da die – begründete – Angst besteht, Teil der Massenentlassung zu werden. 

Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)

3. Es gibt aber noch Schlimmeres: Vor kurzem hat das Bundesgericht die fristlose Kündigung von streikenden Arbeitnehmer*innen gutgeheissen.

Der Grund? Weil der neue Arbeitgeber den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) gekündigt hatte, haben es die Pflegefachfrauen „gewagt“ zu streiken, um diesen bis zu seinem Ablauf aufrechtzuerhalten!

Da der Arbeitgeber – eine private Gesellschaft, die das Spital La Providence in Neuenburg übernommen hatte – «grosszügig» bereit war, trotz Kündigung den GAV bis Ende Jahr gelten zu lassen, war das Bundesgericht der Meinung, dass die Weiterführung des Streiks „unverhältnismässig“ und „rechtswidrig“ wurde! Daraus folgt, dass ein Arbeitgeber in allen zukünftigen Streitigkeiten ungestraft jeglichen laufenden GAV kündigen und – sollten die Arbeitnehmer*innen Widerstand leisten – einfach die Verschlechterung während einiger Zeit aussetzen kann. Damit würde jeglicher weitere Widerstand rechtswidrig – mit dem Segen der Gerichte!

Gleichsam zur Krönung des Ganzen wurden dieselben Streikenden strafrechtlich wegen Hausfriedensbruch verurteilt, weil sie während des Streiks auf dem Parkplatz des Spitals geblieben waren!

4. Ohne Gewerkschaftsrechte keine echte Personenfreizügigkeit

Schliesslich schlagen gewisse Jurist*innen zur Einhaltung der fundamentalen (oder grundlegenden) Rechte und Prinzipien bei der Arbeit (zu denen IAO-Übereinkommen 98 gehört) die Einführung eines Schutzes gewählter gewerkschaftlicher Vertreter*innen in den Gesamtarbeitsverträgen vor.

Dies kann mitnichten einen gesetzlichen Schutz ersetzen. Die Gewerkschaften sind ja mittels der Solidaritätsbeiträge vom Bestehen eines Gesamtarbeitsvertrages finanziell abhängig und werden dadurch oft dazu gedrängt, einen GAV auch ohne wirksamen Kündigungsschutz zu unterschreiben. Ausserdem werden schon jetzt jegliche bereits bestehenden Schutzbestimmungen durch die Gerichtspraxis nutzlos gemacht.

So wurde Hans Oppliger – einem Vertreter der Versicherten im Stiftungsrat einer Vorsorgeeinrichtung – gekündigt, nachdem er es gewagt hatte, sich erfolgreich gegen einen Leistungsabbau bei seiner Pensionskasse zu wehren.

Das Bundesgericht befand zunächst, seine Kündigung hätte trotz arbeitsvertraglicher Schutzbestimmung der paritätischen Verwaltung keinen Abbruch getan, da er ja von einem anderen Vertreter ersetzt worden sei! Später entschied dasselbe Gericht, dass die Kündigung rechtens war, weil Hans Oppliger zwar zweimal schriftlich gegen die Kündigung Einsprache erhoben hatte, dies aber gegen eine nur per Telefon, während einer ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ausgesprochene dritte Kündigung versäumt hatte!

Zusammenfassend stellt die Bestimmung, die bereits jetzt in der schweizerischen Rechtsordnung insbesondere für Frauen verankert ist, die einen Gleichstellungsanspruch geltend machen (Art. 10 GlG) – eine Bestimmung, die zu Recht von zahlreichen Gewerkschaftsvertreter*innen und Feministinnen als unzureichend kritisiert wird – ein absolutes Minimum für die Erfüllung der Verpflichtungen der Schweiz gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation dar[2]. Zudem muss eine aufgrund eines Streiks ausgesprochene fristlose Kündigung ausdrücklich als nichtig bezeichnet werden, weil sie das Streikrecht zu einer leeren Hülse macht. 

Ohne Vereinigungsfreiheit, ohne Menschenrechte und -würde verkommt der Schutz von Lohn und Beschäftigungsniveau der Arbeitnehmer*innen, er wird zu einem Betrug. Die „Verstärkung“ der flankierenden Massnahmen erfordert die obengenannten Gesetzesänderungen als Vorbedingung, damit die Schweiz aus der schwarzen Liste herauskommt. Dies erwarten wir von der neuen SGB-Führung, nach der beispielhaften Mobilisierung der Frauen, die sich am 14. Juni 2019 u.a. für eine tatsächliche Gleichstellung stark gemacht haben.

Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner

Arigoni Simona, gran consigliera MPS-POP-Indipendenti
Bianchi Nicolas, sindacalista UNIA
Burri Virginie, secrétaire SSP Fribourg
Caspani Emida, militante SSM
Cattani Manuela, secrétaire générale du SIT
Charrière Pierre-André, membre comité régional UNIA Fribourg
Cicero Vincenzo, sindacalista UNIA
Cozzaglio Ivan, presidente commissione personale Officina FFS Bellinzona
Dandrès Christian, avocat, député au Grand Conseil genevois
de Rham Geneviève, militante SSP, membre du collectif vaudois pour la grève féministe du 14 juin 2019
Ducrest François, secrétaire syndicom
Eberle Willi, Mitglied Unia
Federer Lucas, Basismitglied, VPOD Zürich
Gammenthaler Walter E., politischer Aktivist Luzern
Gewerkschaft Basis 21
Gilardi Paolo, militant SSP Genève
Gnos Beni, Gewerkschaftsaktivist VPOD Basel
Gysin Hanspeter, Gewerkschafter Unia
Ivanovic Milka, secrétaire Union syndicale fribourgeoise
Krauer Rolf, Gewerkschafter Unia
Kunz Jean, syndiqué UNIA
Künzler Roman, Gewerkschaftssekretär Unia
Lepori Angelica, gran consigliera MPS-POP-Indipendenti
Locciola Maurizio, avocat, Genève
Martin Philippe, secrétaire central SSP
Martins Alexandre, syndicaliste Unia
Michel Anne, coprésidente du SSP Genève
Molo Romolo, avocat, ancien secrétaire auprès de l’USS
Mugny Yves, secrétaire syndical UNIA Genève
Negri Lucio, Presidente commissioni Istituti sociali VPOD /SSP
Pelizzari Alessandro, secrétaire régional UNIA Genève
Poretti Matteo, sindacalista UNIA
Pronzini Matteo, sindacalista Unia
Scheffre Fabrice, coprésident du SSP Genève
Schmid Philipp, Gewerkschafter VPOD und Unia, Zürich
Schmid Werner, syndicaliste retraité
Sergi Giuseppe, membro SSP, delegato al comitato cantonale USS
Soldini Agostino, secrétaire central SSPSoldini Monica, militante SSM
Studer Claudia, Gewerkschafterin IGA, Basel
Thomann Rainer, langjähriges Gewerkschaftsmitglied Unia, Winterthur
Wampach Alain, caissier SSP Fribourg
Zurkinden Gaétan, secrétaire SSP Fribourg
Zurkinden Guy, rédacteur services PUBLICS

Leichte Überarbeitung durch die Redaktion.


[1] Nach 30 Jahren im Unternehmen erhielt Rose Lornet 40’000 Fr., d.h. 6 Monatslöhne und eine Zusatzentschädigung von 20’000 Franken. Sie hatte aber fünf Jahre nach ihrer Kündigung immer noch keine Stelle gefunden.

[2] Streitigkeiten über gewerkschaftsfeindliche Kündigungen (Art. 336 Abs. 2 Obligationenrecht) müssen zudem ohne Streitwertgrenze kostenlos sein, genauso wie jene nach dem Mitwirkungsgesetz. Letzteres bleibt mangels eines wirksamen Schutzes derjenigen, die es anwenden sollen, oft toter Buchstabe.


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1 Kommentar

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