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Schweiz: Erfahrungsbericht einer Coop-Arbeiterin

Die Krise überrollt die Lohnabhängigen in der Schweiz in einem bisher unbekannten Ausmass. Am Montag, 30. März 2020 waren bereits 750’000 Lohnabhängige in Kurzarbeit, 13’500 wurden seit anfangs März entlassen und mindestens ein Drittel aller Unternehmen ziehen laut einer Umfrage von economiesuisse ebenfalls Kündigungen in Betracht. Die Abwälzung der Krise auf die Schulten der Lohnabhängigen ist immer mit harten persönlichen Schicksalen verbunden. Mit der Publikation von Erfahrungsberichten aus der Arbeitswelt möchten wir dabei helfen, dass das Erlebte nicht individualisiert verarbeitet werden muss. So können die Erfahrungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, das möglicherweise Ähnliches durchmacht. Schliesslich können solche Berichte ein erster Schritt beim Aufbau einer Gegenwehr von unten sein. Anna wurde auf Facebook auf die Berichterstattung von sozialismus.ch aufmerksam und berichtet über ihre Krisenerfahrungen als Arbeiterin in einem Coop Supermarkt in Zürich. (Red.)

von Anna Somaini*

Mein Mann hat seit letzten Samstag Halsschmerzen und mittlerweile auch starken Husten. Wir haben deswegen telefonisch unsere Hausärztin konsultiert. Sie hat uns angewiesen, dass sich mein Mann zehn Tage lang isolieren und erst wieder aus dem Haus gehen sollte, wenn er 48 Stunden keine Symptome mehr zeige. Da wir zusammen in einem Haushalt leben, sollte auch ich mich bis zum 6. April 2020 isolieren und folglich nicht zur Arbeit erscheinen, auch wenn ich keine Symptome habe (was glücklicherweise der Fall ist). Die Ärztin hat uns beide krankgeschrieben.

Ärztliches Arbeitsunfähigkeitszeugnis von Anna Somaini

Ich habe die Situation telefonisch meinen Vorgesetzten erläutert und ihnen mitgeteilt, was die Ärztin verordnet hat. Mein Vorgesetzter hat mir daraufhin geantwortet, dass ich aufgrund der Schutzmassnahmen im Coop (Abstand halten, Hände waschen etc.) trotzdem arbeiten müsse, solange ich keine Symptome zeige. Er meinte zudem, dass er Schutzmasken von einem Arzt erhalten habe, die er an die Mitarbeiter*innen verteilen werde. Das freiwillige Tragen der Schutzmasken sei mittlerweile von seinem Chef erlaubt worden. Letzte Woche wurde es uns noch verboten, da die Vorgesetzten befürchteten, dass die Kund*innen und Mitarbeiter*innen ansonsten das Einhalten des Abstandes vernachlässigen würden.

Ich war sehr verzweifelt. Was sollte ich nun machen? An welche Anweisung sollte ich mich nun halten – an diejenige der Ärztin oder die meines Vorgesetzten?

Der Bund bestätigt: Profite sind ihm wichtiger als unsere Gesundheit

Daraufhin habe ich angefangen zu telefonieren. Ich wandte mich als erstes an das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Aber auch das BAG konnte mir nicht explizit sagen, ob ich zu Hause bleiben darf – und das trotz des Arztzeugnisses. Ich habe ihnen erklärt, dass mein Vorgesetzter darauf bestehe, dass ich arbeiten müsse, solange ich keine Symptome habe. Die Frau am Telefon antwortete mir, dass es vom Bundesamt nur Empfehlungen gebe und man eine*n Arbeitgeber*in deshalb nicht belangen könne, wenn er oder sie sich nicht daran hält.

Anschliessend habe ich das Ärzt*innen-Telefon des Kantons Zürich angerufen und nachgefragt, ob es nicht möglich sei, meinen Mann auf das Corona-Virus zu testen. Ich erläuterte ihnen, dass ich im Verkauf arbeite und trotz einem Arztzeugnis arbeiten gehen müsse. Kurz darauf haben sie mich zurückgerufen und gesagt, dass sie meinen Mann nicht testen könnten, weil er kein Risikopatient sei.

Als letztes habe ich noch mit meiner Gewerkschaft (Unia) telefoniert, um mich über meine Rechte zu informieren. Der Gewerkschaftssekretär am Telefon hat mir dann mitgeteilt, dass der Bundesrat am 21. März 2020 beschlossen habe, dass Risikopatient*innen trotz allem arbeiten gehen müssen, sofern die Sicherheitsmassnahmen am Arbeitsplatz eingehalten werden. Er fragte mich, warum ich mich nicht einfach krank gemeldet habe, statt dem Vorgesetzten die Lage ehrlich zu erklären und zu sagen, dass ich noch keine Symptome habe. So sei klar, dass ich weiterhin zur Arbeit müsse…

Es ist mir einmal mehr klargeworden, wie unwichtig den Unternehmen und dem Bund die Gesundheit von uns Arbeiter*innen ist. Es ist ein Witz, dass das BAG nur Empfehlungen herausgibt, statt die rechtliche Lage klar zu definieren. So hängt alles im luftleeren Raum.

Auf jeden Fall muss ich weiterhin zur Arbeit und mich, die Kund*innen und meine Mitarbeiter*innen einem erheblichen gesundheitlichen Risiko aussetzen.

Arbeiter*innenrechte in der Schweiz? Fehlanzeige

Es ist mir ein sehr grosses Anliegen anonym zu bleiben. Denn ich kann es mir nicht leisten, meine Arbeit zu verlieren. Wir leben in einer sogenannten «freien» Markwirtschaft und niemand würde mir freiwillig die Miete zahlen und längerfristig für die Unterhaltskosten meiner Familie aufkommen. Da nützen uns auch die Arbeitslosenkasse oder das Sozialamt wenig.

Ich habe in der Vergangenheit sehr bittere Erfahrungen mit meinem letzten Arbeitgeber Valora gemacht. Weil ich die schlechte Behandlung während der Arbeit nicht akzeptieren wollte, wurde ich entlassen. Gegen das Mobbing meiner Vorgesetzten bin ich mit einer Anwältin der Unia vorgegangen. Danach wurden mir nach der Freistellung noch drei Monatslöhne bezahlt. Arbeitslos war ich danach trotzdem.

In der Schweiz existieren keine Gesetze, welche die Lohnabhängigen an ihrem Arbeitsplatz tatsächlich schützen. Wir haben nicht einmal einen tauglichen Kündigungsschutz oder einen landesweiten Mindestlohn. Der Schweizer Staat ist durch und durch bürgerlich und oligarchisch. Ich habe die Hoffnung und den Kampfgeist verloren. Denn den Arbeiter*innen in der Schweiz sind vor dem Gesetz die Hände gebunden.

*Name geändert. Wenn du uns deine Erfahrungen am Arbeitsplatz in irgendeiner Form (anonym, schriftlich oder mündlich) mitteilen möchtest, dann nimm Kontakt mit uns auf (info@bfs-zh.ch).

Mehr zu den nicht-existierenden gewerkschaftlichen Rechten in der Schweiz:

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