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Venezuela: Ursachen und Konsequenzen der Krise

Die politische und soziale Krise in Venezuela nimmt immer grössere Ausmasse an. Die astronomische Inflationsrate und der allgemeine Mangel an Grundnahrungsmitteln machen die in den ersten Jahren der Chávez-Regierung erreichten Fortschritte in der Sozialpolitik zunichte. Gleichzeitig verschärft sich die politische Krise. Die rechte Opposition versucht, auf legalen und illegalen Wegen die Regierung des jetzigen Präsidenten Nicolas Maduro zu stürzen, während die populäre Basis der Regierungspartei PSUV zusehends schwindet. Als Antwort greift die Regierung vermehrt zur Repression, sei es innerhalb der Regierungspartei selbst, wo Kritik nicht mehr geduldet wird, oder gegen verschiedenste Gewerkschaften und soziale Bewegungen, die mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht einverstanden sind. Die Regierung selbst und mit ihr viele linke Organisationen auf der ganzen Welt bezeichnen diese Krise als Resultat einer gezielten imperialistischen Intervention der westlichen Mächte. Wenngleich dies teilweise mit Sicherheit zutrifft, so darf die Verantwortung der Regierung nicht geleugnet werden. Dieser vor einigen Monaten publizierte Artikel beschreibt die Probleme und Widersprüche der Politik von Chávez und Maduro und zeigt, wer die ersten Opfer dieser Krise sind: Die Lohnabhängigen, die Bauern und Bäuerinnen sowie die Indigenen, jene Gruppe also, deren Interessen die Regierung ursprünglich zu vertreten vorgab. Der Autor ist venezolanischer Soziologe und gehörte lange zu den kritischen Unterstützern der Chavez-Regierung. (Red.)

von Edgardo Lander; von der Rosa-Luxemburg-Stiftung publiziert und übersetzt

Die bolivarianische Regierung, die Sozialismus als etatistisches Projekt begriff, vergrößerte den Staatssektor weit über seine Kapazitäten hinaus. Deshalb ist der Staat größer, aber gleichzeitig schwächer, ineffizienter, intransparenter und korrupter geworden. Sowohl die Sozialprogramme, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung deutlich verbesserten, als auch die zahlreichen Projekte der lateinamerikanischen Solidarität und Integration beruhten auf dem hohen Ölpreis. Dabei ignorierte die Regierung die historischen Erfahrungen der zyklischen Ölpreisschwankungen und agierte, als würden die Ölpreise ewig oberhalb der 100-Dollar-Marke liegen. Da die Einnahmen aus dem Ölexport schließlich 96 Prozent der Gesamtexporte ausmachten, kamen praktisch alle Devisen über den Staat ins Land. Über eine Politik der staatlichen Devisenkontrolle wiederum wurde die Überbewertung des venezolanischen Bolívar immer weiter verschärft. Dies und die persönliche Macht der zuständigen Staatsbeamten, Devisen zuzuteilen oder zu verweigern, haben den Devisenhandel zum wichtigsten Korruptionsherd im Land gemacht.

In den fetten Jahren hat man die enormen Staatseinnahmen zudem ausgegeben, ohne Reservefonds für schlechtere Jahre anzulegen. Als der Ölpreis schließlich einbrach, geschah das Unvermeidliche: Die Wirtschaft stürzte in eine tiefe und anhaltende Rezession, und das politische Projekt des Chavismus begann zu zerfallen. Das Bruttoinlandsprodukt fiel 2014 um 3,9 Prozent, im Folgejahr um 5,7 Prozent. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL verdoppelten sich die Staatsschulden zwischen 2008 und 2013. Zudem leidet Venezuela unter der weltweit höchsten Inflationsrate. Im Jahr 2015 betrug sie offiziell 180,9 Prozent, für Lebensmittel und für nicht alkoholische Getränke sogar 315 Prozent. Und diese Zahlen sind mit Sicherheit noch zu niedrig angesetzt. Es gibt keine offiziellen Daten für das laufende Jahr, aber die Inflation im ersten Halbjahr lag, vor allem im Lebensmittelbereich, deutlich über diesen Werten.

Die wirtschaftliche Rezession hat zu einer allgemeinen Unterversorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Haushaltsartikeln geführt. Die venezolanischen Familien müssen immer mehr Zeit darauf verwenden, nach erschwinglichen Lebensmitteln zu suchen und Schlange zu stehen. Der Konsum von Lebensmitteln ist spürbar zurückgegangen. Während die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Venezuela 2013 noch eine «Anerkennung für die außerordentlichen Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers» aussprach, ist das Land nun mit wachsenden Versorgungsschwierigkeiten konfrontiert. Schon vor der aktuellen Zuspitzung der Krise, zwischen dem zweiten Halbjahr 2012 und dem ersten Halbjahr 2014, ging der Konsum von Vollmilch um mehr als die Hälfte zurück.

Im Gesundheitsbereich ist die Lage nicht weniger kritisch. Die Unterversorgung mit Medikamenten, medizinischen Geräten und chirurgischem Material in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren ist dramatisch. Das Trinkwasser ist rationiert, was vor allem die arme Bevölkerung trifft. Außerdem herrscht wegen fehlender Ersatzteile wie Batterien und Autoreifen auch eine schwere Krise im öffentlichen Nahverkehr.

Die Regierung weigert sich, in Betracht zu ziehen, dass das Land in einen Notstand gerät, der Hilfe aus dem Ausland nötig macht. Zum einen würde sie damit das Scheitern ihrer Politik anerkennen. Zum anderen will sie aber auch vermeiden, dass die Mechanismen des humanitären Interventionismus in Gang gesetzt werden und die Tür für eine politische oder womöglich militärische Intervention aufgestoßen wird.

In den letzten Jahren hat die Regierung verschiedene Programme zur Verteilung von Nahrungsmitteln ins Leben gerufen, denen aufgrund von Ineffizienz und Korruption nur ein kurzes Leben beschert war. Zudem haben sich all diese Instrumente auf die Verteilung von Gütern beschränkt, ohne sich systematisch mit der Krise der einheimischen Produktion auseinanderzusetzen. Dies alles hat zu einer dramatischen Verschlechterung der Versorgung und zu einem rasanten Verlust der in den Jahren zuvor erreichten sozialen Errungenschaften geführt.

Der Verfall der Kaufkraft ist ein generelles Phänomen, das allerdings nicht alle Gruppen der Bevölkerung gleichermaßen trifft. Die Verringerung der Einkommensungleichheit war einer der wichtigsten Erfolge des bolivarianischen Prozesses. Unter dem Verfall der Kaufkraft haben nun aber vor allem diejenigen zu leiden, die von Löhnen, Renten und Pensionen leben. Faktisch wirkt die Wirtschaftspolitik der Regierung wie eine neoliberale Strukturanpassung, die zur Verschlechterung der Lebensbedingungen führt. Der Zahlung der Auslandsschulden wird gegenüber der Befriedigung der Grundbedürfnisse Vorrang eingeräumt.

Basisbewegungen, politische Organisationen und Forschungseinrichtungen haben Vorschläge entwickelt, wie sich finanzielle Mittel mobilisieren ließen, um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Dazu gehört vor allem die Plattform für ein öffentliches Bürgerhearing (Plataforma de Auditoría Pública y Ciudadana), die eine grundlegende Untersuchung der Korruption vor allem im Zusammenhang mit der Devisenzuteilung durch den Staat an Importunternehmen fordert. Doch die Regierung hat diese Vorschläge zurückgewiesen. Eine Untersuchung der Korruptionsfälle käme dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich, da mit großer Wahrscheinlichkeit höchste Zivil- und Militärbeamte sowie Großunternehmer in diese Fälle verwickelt sind.

Die vielen Gesichter des Bachaqueo

In den letzten drei Jahren hat es in der ökonomischen Struktur des Landes wichtige Veränderungen gegeben, insbesondere im Handel. Die meisten Grundgüter sind heute nur noch auf dem illegalen Markt, dem sogenannten bachaqueo, zu bekommen. Dieser komplexe neue ökonomische Sektor wird sowohl von Netzwerken im Staat als auch von Privatunternehmern betrieben. Da Venezuela unter einer allgemeinen Unterversorgung und einer exorbitanten Inflation leidet, sind die Preise, die man auf illegalen Märkten erzielen kann, zehnoder 20-mal so hoch wie die offiziell regulierten. Die illegale Wirtschaft, die viele Menschen und viel Geld mobilisiert, operiert auf verschiedenen Ebenen. Dazu gehören ein gewaltiger Schmuggel, vor allem Richtung Kolumbien, die massive Umlenkung von Gütern aus den öffentlichen Großhandelsketten, das Horten von Gütern durch private Händler und der Kauf und Verkauf von Waren, die staatlich regulierten Preisen unterliegen, in kleinem und mittlerem Maßstab durch die sogenannten bachaqueros (Schwarzhändler).

Außer Zweifel steht aber auch, dass Venezuela zum Erliegen käme, wenn dieser Wirtschaftssektor von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktionieren würde. In einer Umfrage gaben 67 Prozent der venezolanischen Bevölkerung an, ihren Bedarf ganz oder teilweise bei den bachaqueros zu decken. Es liegt auf der Hand, dass sich die Korruption in den staatlichen Vertriebsketten, das Horten von Grundgütern sowie die Spekulation durch Privatpersonen und durch bewaffnete, Teile der Vertriebskette kontrollierende Mafias verheerend auf die Gesellschaft auswirken. Diese Korruption und Kriminalität sind nicht mit dem kleinen bachaqueo zu vergleichen, der von einem großen Teil der Bevölkerung einfach deshalb praktiziert wird, weil es keine andere Möglichkeit gibt, die eigene Familie zu ernähren.

Festzuhalten ist auch, dass die Antwort auf die Krise nicht von Solidarität und kollektiven Strategien, sondern von Individualismus und Konkurrenz bestimmt ist – und das, obwohl der politische Prozess über Jahre den Wert der Solidarität hochgehalten und vielfältige Formen kollektiver Organisierung unterstützt hat. Nachdem der bolivarianische Prozess wichtige Veränderungen der politischen Kultur in Gang gesetzt hat, das Selbstvertrauen der Bevölkerung gestärkt und die Überzeugung verbreitet hat, am Aufbau einer besseren Welt beteiligt zu sein, ist nun eine regressive Entwicklung zu beobachten. Die meisten der in den vergangenen Jahren entstandenen Basisorganisationen (Wasserkomitees, Nachbarschaftsräte, comunas usw.) sind heute stark geschwächt, und zwar sowohl wegen der fehlenden staatlichen Mittel, von denen sie über die Jahre abhängig wurden, als auch aufgrund des allgemeinen Vertrauensverlustes in die Regierung und die Zukunft des Landes.

Die politische Situation

Mit dem Tod von Hugo Chávez im März 2013 ist eine neue politische Situation eingetreten. Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2013 besiegte Nicolás Maduro, der von Chávez auserkorene Kandidat, den Oppositionspolitiker Henrique Capriles mit einem Vorsprung von nur 1,49 Prozent. Fünf Monate früher hatte Chávez bei seinen letzten Wahlen noch mit 10,76 Prozent Abstand gewonnen.

Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 siegte die in der Mesa de Unidad Democrática (MUD) zusammengeschlossene Opposition klar: Sie kam auf 56,26 Prozent der Stimmen, das Regierungslager nur auf 40,67 Prozent. Die Identifikation der Unterschichten mit dem Chavismus nimmt stark ab, die Opposition hat in vielen Wahlbezirken gewonnen, in denen bis dahin stets für die Regierung gestimmt worden war.

Doch seit der Niederlage bei den Parlamentswahlen wendet sich die Regierung Maduro jedes Mal, wenn sie mit einer Abstimmung im Parlament nicht einverstanden ist, an den Obersten Gerichtshof, damit dieser den Parlamentsbeschluss für verfassungswidrig erklärt – was das Gericht in der Regel auch umgehend tut. Dazu kommt, dass die Regierung bedeutendere Maßnahmen einfach als Präsidialdekrete beschließt. Folglich ist die neue Nationalversammlung heute eher ein Ort der politischen Polemik als ein Staatsorgan mit Entscheidungskompetenzen.

Die Regierung hat immer wieder neue Spezialmaßnahmen verkündet, Sonderkommissionen gebildet, Projekte zur Ankurbelung der Wirtschaft und Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen oder den Zuständigkeitsbereich von Ministern und dem Vizepräsidenten neu zugeschnitten. Dochletztlich handelt es sich um eine orientierungslose Regierung, deren wichtigstes Ziel in der Verteidigung der Macht zu bestehen scheint. Mit dieser Politik unterminiert sie die Legitimität der Verfassung von 1999, während der wirtschaftliche und gesellschaftliche Verfall des Landes weitergeht.

Es ist kein Geheimnis, dass die US-Regierung der venezolanischen Opposition seit Antritt der bolivarianischen Regierung 1999 politische und finanzielle Rückendeckung gibt und sogar den Staatsstreich des Jahres 2002 unterstützt hat. Diese Aggression hat nicht nachgelassen. Im März 2016 bestätigte die Obama-Regierung die Resolution des Vorjahres, wonach Venezuela eine «besondere und außerordentliche Gefahr für die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der USA» darstellt. Aufgrund der Vormachtstellung progressiver Regierungen in der Region und aufgrund der lateinamerikanischen Integrationsprozesse (der politischen Union UNASUR, der Freihandelszone MERCOSUR und des lateinamerikanisch-karibischen Wirtschaftsrates CELAC) hatten diese Feindseligkeiten in der Vergangenheit wenig Erfolg. Doch nun hat sich der geopolitische Kontext grundlegend verändert.

Proteste, Plünderungen, Repression und Unsicherheit

Die Meinungsumfragen bestätigen den Eindruck einer allgemeinen Unzufriedenheit, den man auch in den Schlangen vor Geschäften, im Bus oder in der U-Bahn bekommt. Die Schwierigkeiten, mit denen die große Mehrheit der Bevölkerung im Alltag konfrontiert ist, haben überall im Land zu Protesten, Straßenblockaden und der Plünderung von Warenlagern, Geschäften und Lkw geführt. Einige dieser Proteste wurden möglicherweise angezettelt, um die Regierung zu destabilisieren. Es steht auch außer Frage, dass im Land paramilitärische Gruppen aktiv sind. Aber das Ausmaß der Proteste verweist doch auch darauf, dass es sich um ein weitverbreitetes soziales Phänomen handelt.

Dazu kommt die Unsicherheit, die von der venezolanischen Bevölkerung viele Jahre lang als Hauptproblem im Land bezeichnet worden ist. Den Vereinten Nationalen zufolge hat Venezuela nicht nur die höchste Mordrate Südamerikas, sondern ist auch das einzige Land der Region, in dem die Mordrate seit 1995 beständig gestiegen ist. Auch die Fälle von Selbstjustiz haben zugenommen. Das zeigt uns, in welcher tiefen auch ethischen Krise sich die venezolanische Gesellschaft befindet. Die Regierung greift vor dem Hintergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Zerfalls und in Anbetracht dessen, dass sie die Gesellschaft immer weniger erreicht, zunehmend auf Repression zurück. Demonstrationen werden mit Tränengas gestoppt und unterdrückt. Jede Woche sterben Menschen durch Polizeikugeln. Obwohl der Einsatz von Schusswaffen durch die Verfassung ausdrücklich verboten ist, hat das Verteidigungsministerium ein Dekret vorgelegt, demzufolge Sicherheitsbeamte bei einer «Gefahr für Leib und Leben» «potenziell tödliche Gewaltmittel einsetzen» sollen.

Das Abwahlreferendum

Die venezolanische Verfassung sieht die Möglichkeit vor, dass jeder gewählte Mandatsträger nach der Hälfte seiner Amtszeit durch ein Referendum abgewählt werden kann. Dieses Instrument wurde vom Chavismus immer als eine der wichtigsten demokratischen Errungenschaften der Verfassung von 1999 und als zentrale Stütze der partizipativen Demokratie hervorgehoben. Die Regierung, die weiß, dass Präsident Maduro das Referendum verlieren würde, hat dank ihrer Kontrolle über die Oberste Wahlbehörde (Consejo Nacional Electoral) eine Reihe von Hindernissen etabliert, die das Referendum so lang wie möglich hinauszögern soll.

Die Oberste Wahlbehörde genoss als Institution bislang sehr großes Ansehen. Die Einführung von elektronischen Wahlautomaten und diverse Kontrollverfahren machten es extrem schwer, den Wählerwillen zu manipulieren. Internationale Wahlbeobachter haben in den vergangenen 15 Jahren immer wieder bestätigt, dass es sich um transparente Wahlen gehandelt habe. In diesem Sinne spielte die Oberste Wahlbehörde eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der bolivarianischen Regierung gegenüber den Angriffen aus Washington und der Rechten weltweit. Doch die Bemühungen der Obersten Wahlbehörde, ein Abwahlreferendum im Jahr 2016 zu verhindern, und die Tatsache, dass die Behörde dabei immer offensichtlicher den Anordnungen der Exekutive folgt, unterminieren ihre Glaubwürdigkeit. Das ist in Anbetracht der wachsenden politischen Spannungen besonders dramatisch. Wenn der Bevölkerung die Möglichkeit genommen wird, mit regulären demokratischen Mitteln über die politische Zukunft zu entscheiden, dann wächst die Gefahr, dass sich die lokal versprengten Gewaltausbrüche zu einer allgemeinen Gewalt ausweiten, was wegen der Verbreitung von Schusswaffen in der Bevölkerung eine extreme Gefahr darstellen würde.

Je länger eine geordnete Regierungsübergabe hinausgezögert wird, die in Anbetracht der Ablehnung gegenüber der Regierung Maduro unvermeidlich erscheint, desto stärker wird der Chavismus als Projekt der unteren Klassen an Ansehen verlieren und desto unvorstellbarer werden Alternativen zum Kapitalismus. Die Herausforderung besteht heute darin, dafür zu sorgen, dass ein Ende der Regierung Maduro von der Bevölkerung nicht als Scheitern des gesellschaftlichen Transformationsprojekts erlebt wird.

Vom Öl- zum Bergbauextraktivismus

Die tiefe Krise, in der Venezuela heute steckt, stellt einen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte des Landes dar. Aber in welche Richtung wird es weitergehen? Nach einem Jahrhundert der Ölausbeutung, in dem die Gesellschaft von Rentiers-Logik, Etatismus und klientelistischen Beziehungen beherrscht war und das sowohl für Umwelt als auch für die kulturelle Vielfalt verhängnisvolle Folgen hatte, sollte jetzt der Moment gekommen sein, in dem sich die Gesellschaft – über die anstehenden Notmaßnahmen hinaus – des Endes dieses ökonomischen Modells bewusst wird. Wir brauchen eine Debatte, aber auch kollektive Experimente, um einen Übergang in Richtung einer anderen Gesellschaft zu wagen. Doch das war bisher nicht die Antwort auf die Krise. Sowohl die PSUV als auch das Oppositionsbündnis MUD propagierten in ihren letzten Wahlprogrammen eine Verdoppelung der Ölproduktion auf 6 Millionen Barrel im Jahr 2019, was den Rentiers-Charakter der venezolanischen Ökonomie noch weiter vertiefen würde. Zuzeit beschränken sich die Anstrengungen der Opposition fast ausschließlich darauf, die Regierung Maduro zu stürzen, um zu jener – neoliberalen? – Normalität zurückzukehren, die vor dem bolivarianischen Prozess herrschte. Das wichtigste Vorhaben der Regierung ist die Förderung des Bergbaus als neuem Wachstumsmotor. Auf diese Weise würde die auf Öl beruhende Rentiers-Ökonomie durch einen Bergbau-Extraktivismus ersetzt werden.

Am 24. Februar 2016 verordnete Nicolás Maduro per Präsidialdekret die Einrichtung einer «Strategischen Entwicklungszone ‹Bergbauregion Orinoco›», wodurch fast 112.000 Quadratkilometer, das heißt 12 Prozent des venezolanischen Staatsgebiets, zur Förderung von Gold, Diamanten, Coltan, Eisen und anderen Mineralien freigegeben werden. Dem Präsidenten der Zentralbank Nelson Merentes zufolge unterzeichnete die Regierung bereits Verträge mit 150 einheimischen und transnationalen Unternehmen, die «von nun an Explorationsarbeiten durchführen können, um danach mit der Ausbeutung von Gold, Diamanten, Eisen und Coltan zu beginnen». Der Bergbau, vor allem der in der Region Orinoco vorgesehene großflächige Tagebau, bringt kurzfristig hohe finanzielle Einnahmen, zieht aber eine unwiderrufliche soziale und ökologische Zerstörung eines beträchtlichen Teils des venezolanischen Territoriums nach sich. Dies alles wurde per Präsidialdekret, das heißt ohne jede öffentliche Debatte und ohne die vom Gesetz verlangten Umweltverträglichkeitsstudien beschlossen – und das in einem Land, dessen Verfassung von einer «demokratischen, partizipativen, aktiven, multiethnischen und plurikulturellen Gesellschaft» spricht.

Es gibt keine Technologie für große Bergbauprojekte, die wirklich umweltverträglich wäre. Die internationalen Erfahrungen sind in dieser Hinsicht eindeutig. In Waldgebieten, wie sie in der Bergbauregion Orinoco bestimmend sind, würden die großen Tagebauminen unvermeidlich zu einer massiven Abholzung führen. Die Zerstörung der Wälder würde gleichzeitig zu einem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen und einer geringeren CO2-Aufnahmekapazität führen und somit die Klimaerwärmung beschleunigen.

Dieses Projekt stellt eine offene Verletzung der Rechte der indigenen Völker, wie sie im 8. Kapitel der Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela festgelegt sind, dar. Dazu gehört auch, dass den Indigenen das Informationsund Konsultationsrecht auf ihrem Territorium vorenthalten wurde, wie es sowohl in der venezolanischen Gesetzgebung als auch in internationalen Verträgen (wie der 169. Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation) festgehalten ist. In offenem Widerspruch zu den Prinzipien der venezolanischen Verfassung werden die indigenen Völker erneut in ihrer Existenz bedroht; diesmal im Namen des Sozialismus des 21. Jahrhunderts.

Die Ausbeutung der Bergbauvorkommen soll von «privaten, staatlichen und gemischten Unternehmen» vorangetrieben werden. Das Dekret sieht eine Vielzahl öffentlicher Anreize für die Bergbaukonzerne vor, unter anderem die Flexibilisierung von Rechtsnormen und die Beschleunigung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren. Dies alles ist noch besorgniserregender, wenn man weiß, dass Präsident Maduro nur zwei Wochen vor Unterzeichnung des Dekrets zur Einrichtung der Bergbauregion Orinoco die Gründung einer dem Verteidigungsministerium zugeordneten Militärischen Aktiengesellschaft Bergbau, Öl und Gas (CAMIMPEG) anordnete. Dieses Unternehmen hat umfangreiche Kompetenzen, um sich «ohne Einschränkungen» dem Bergbau-, Öloder Gasgeschäft widmen zu können. Mit dem absehbaren Engagement des Unternehmens in der Region Orinoco werden die Streitkräfte ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse daran haben, dass die Bergbauaktivitäten reibungslos verlaufen.

Faktisch stellt das Präsidialdekret eine Suspendierung der Verfassung von 1999 auf 12 Prozent des venezolanischen Territoriums dar. Die Regierung verfolgt damit offenbar zwei Ziele. Zum einen will sie den transnationalen Unternehmen, die sie anzulocken versucht, die Sicherheit geben, keinerlei Widerstand gegen ihre Projekte befürchten zu müssen. Zum anderen billigt sie den Militärs eine noch größere Macht zu und vergewissert sich so ihrer Loyalität gegenüber der bolivarianischen Regierung. Dies geht mit der Kriminalisierung des Widerstands gegen die Bergbauprojekte einher.

Die Reaktionen aus der Gesellschaft haben nicht lange auf sich warten lassen. Neben zahlreichen Foren, Versammlungen, Demonstrationen und Kommuniqués ist vor allem die am 31. Mai 2016 am Obersten Gerichtshof eingereichte Klage zur Verfassungswidrigkeit des Präsidialdekrets zu nennen. Beim Kampf um die Annullierung des Bergbaudekrets geht es um eine demokratische Zukunft Venezuelas, die Überwindung des auf grenzenloser Rohstoffausbeutung beruhenden Gesellschaftsmodells und um ein Leben im Einklang mit der Natur. Doch darüber hinaus geht es auch darum, eine Position sichtbar zu machen, die die unproduktive, eine kollektive Reflexion verhindernde Polarisierung zwischen Regierung und MUD überwindet.

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1 Kommentar

  1. Per Lennart Aae

    FALSCH VERSTANDENER SOZIALISMUS
    Aus der, allem Anschein nach sehr ehrlichen Darstellung kann ich nur schließen, daß sowohl Chaves als auch Maduro den Sozialismus völlig falsch verstanden hat. Denn statt Venezuela zu einer, mit dem eigenen Lebensraum, d.h. in diesem Fall mit der venezolanischen Heimat, integrierten nationalen Volkswirtschaft zu machen, haben sie es anscheinend zu einem Teil der Weltwirtschaft gemacht. Und die läuft nun mal – noch! – nach den Regeln des Kapitalismus! Statt die von den Weltmärkten – wahrscheinlich hauptsächlich aus den USA – stammenden Erdöleinnahmen zum Aufbau einer in sich geschlossenen NATIONALEN VOLKSWIRTSCHAFT – und somit LEISTUNGS- UND SOLIDARGEMEINSCHAFT – zu verwenden, haben sie die riesigen Einnahmen offenbar vergeudet, um Wohltaten zu verteilen und andere Länder zu alimentieren.
    SELBST SCHULD!
    Trotz dieser kritischen Worte wünsche ich der Bolivarischen Republik Venezuela jeden nur erdenklichen Erfolg. Ich wünsche den venezolanischen Idealisten, daß sie die Krise geläutert durchstehen und anschließend ein starkes sozialistisches Venezuela aufbauen können – und WERDEN.
    Per Lennart Aae
    P.S. »NATIONAL« schließt auch eine multiethnische Gemeinschaft selbstbewußter, »funktionierender« Ethnien mit ein, einer Gemeinschaft, die sich entschlossen hat, einen gemeinsamen selbstbestimmten Weg zu gehen und am Ende vielleicht EINS zu werden.

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