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Ökosozialismus definieren

Photo by Steve Eason

Am 2. Dezember 2023 fand in London eine ökosozialistische Konferenz statt. An dieser wurde diskutiert, wie eine ökosozialistische Bewegung geschaffen werden kann, die in den Gewerkschaften, den Gemeinden, in Schulen, Hochschulen und Universitäten, in sozialen Bewegungen und in Arbeitsverhältnissen verwurzelt ist. Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den Simon Pirani im Rahmen der Konferenz in London gehalten hat. (Red.)

von Simon Pirani; aus People and Nature

Die Verwirklichung des Ökosozialismus ist eindeutig eine riesige, vielseitige und kollektive Aufgabe, von der ich hier nur drei Aspekte hervorheben möchte: Erstens, die Art und Weise, wie der Krieg in Gaza, der in den letzten Wochen so viel unserer Aufmerksamkeit beansprucht hat, für sie relevant ist. Zweitens, die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Umwelt, insbesondere in Bezug auf die globale Erwärmung. Und drittens einige Punkte, wie wir ökosozialistische Ideen entwickeln könnten.

1. Krieg und Klimawandel

Die Zusammenhänge zwischen Krieg und Klimawandel sind komplex und gehen an den Kern dessen , wie unsere Gesellschaft funktioniert. Über diese nachzudenken, ist eine kollektive Aufgabe, an der wir kontinuierlich arbeiten müssen. Hier stelle ich einige Punkte zur Diskussion.

Es wurde vorgeschlagen, dass eine der Hauptursachen für den Krieg in Gaza die Kontrolle über fossile Brennstoffe sei. Dem kann ich nicht zustimmen: Ich denke, es ist ein damit verbundenes, aber zweitrangiges Thema. Gaza wurde 1967 von Israel besetzt, mehr als 30 Jahre bevor Gas im östlichen Mittelmeer entdeckt wurde. Selbst 2007, als die Hamas in Gaza die Macht übernahm und das Gebiet von Israel mit einer Blockade belegt wurde, waren keine Arbeiten durchgeführt worden, um die grossen Gasfeldern zu erschliessen. Obwohl ein unerschlossenes Feld in den Hoheitsgewässern Gazas liegt, befinden sich die grösseren, produzierenden Felder in ägyptischen und israelischen Gewässern.

Im Krieg geht viel mehr um Land und Wasser als um Gas oder Öl. Er wird von politischen Faktoren angetrieben: der Entschlossenheit der israelischen Regierung, die ethnische Säuberung der palästinensischen Bevölkerung voranzutreiben, und der Entschlossenheit der westlichen Mächte, Israel als strategisches Bollwerk im Nahen Osten zu nutzen.

Die Verbindungen mit dem Klimawandel sind, meiner Meinung nach, tiefer und komplexer als ein einfacher Ressourcenraub. Ich möchte zwei Aspekte hervorheben.

Ein Aspekt ist, dass der Krieg die erschreckende Realität der Vereinten Nationen und anderer Institutionen der sogenannten «Global Governance» vor Augen führt. Alle Entscheidungen dieser Institutionen und die Friedensabkommen der 1990er Jahre, die auf eine Zwei-Staaten-Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt hindeuteten, wurden in den letzten zwei Monaten effektiv über den Haufen geworfen.

Der Krieg in Gaza ist ebenso wie der russische Krieg gegen die Ukraine ein Symptom für die tiefe Krise der internationalen Governance. Und es sind die selben Institutionen, die angeblich die Bemühungen koordinieren, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern.

Diese Bemühungen begannen offiziell mit der Rio-Deklaration von 1992; seitdem ist das Mass, in dem Treibhausgase in die Atmosphäre gepumpt werden, um etwa 60% gestiegen.

Der Diskurs um die jährlichen Klimakonferenzen, der sich auf Technofixes, das betrügerische Konzept des «grünen Wachstums» und auf den Missbrauch der Idee von «netto Null» konzentriert, wird genutzt, um die ökologische Zerstörung zu erleichtern. Dies ist ein Versagen der Staatenwelt im globalen Massstab. Der jüngste Skandal, dass die diesjährigen Verhandlungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Gelegenheit genutzt wurden, um über neue Öl- und Gasförderprojekte zu sprechen, ist das Ergebnis davon.

All dies hat politische Implikationen. Viele Organisationen, die sich auf das Klima konzentrieren, formulieren ihre Politik in Form von Forderungen an die UN und die an den Klimakonferenzen teilnehmenden Nationen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.

Eine zweite Verbindung zwischen Krieg und Klimakrise hat mit der modernen Form des Imperialismus zu tun. Die israelische Aggression gegen die Palästinenser:innen und die westliche Unterstützung dafür ist Teil eines breiteren Komplexes von politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, durch die die reichen Länder des globalen Nordens die Kontrolle über den internationalen Handel und die Wirtschaft ausüben.

Der Krieg in Gaza ist eine schockierende Erinnerung an die Gewalt, die für diese Beziehungen zentral ist. Der Klimawandel schafft bereits Bedingungen, unter denen diese Gewalt verschärft wird: Er hat Katastrophen wie die Überschwemmungen im vergangenen Jahr in Pakistan und die jüngsten Überschwemmungen und Dürren in Subsahara-Afrika weit, weit wahrscheinlicher gemacht.

All dies hat auch politische Folgen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir diese Zusammenhänge verstehen, wie sie sich in unserem Leben manifestieren und wie wir, die wir im globalen Norden leben, Allianzen mit denen schmieden können, die diesen Verhältnissen direkter ausgesetzt sind.

2. Kapitalismus und Umwelt: Globale Erwärmung

Die Emission von Treibhausgasen, hauptsächlich durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, ist die Hauptursache für die globale Erwärmung. Es ist die unmittelbar bedrohlichste Art und Weise, wie der Kapitalismus die Beziehung der Menschheit zur natürlichen Welt zerstört. Dieser Bruch vernichtet auch die biologische Vielfalt, stört das Stickstoffgleichgewicht und richtet andere Schäden an; ich werde diese Dinge in diesem kurzen Artikel nicht behandeln.

Der Punkt, den ich zum Thema fossile Brennstoffe unterstreichen möchte, ist, dass wir zwar die Öl-, Gas- und Kohlekonzerne für ihre Produktion und ihre widerliche Profitgier anprangern können und sollten, aber unsere politischen Bemühungen, die globale Erwärmung zu bekämpfen, müssen sich auch auf den Verbrauch fossiler Brennstoffe konzentrieren.

Wir müssen ein Verständnis von Konsum entwickeln, das den Mainstream-Analysen entgegengesetzt ist, die sich auf den Konsum von Einzelpersonen und Haushalten konzentrieren – und dadurch die Aufmerksamkeit von den Systemen ablenken, durch die und in denen die meisten fossilen Brennstoffe verbraucht werden.

Dies sind Technologiesysteme – wie Stromnetze, bebaute Umgebungen, Verkehrssysteme, industrielle, landwirtschaftliche und militärische Systeme –, die wiederum in soziale und wirtschaftliche Systeme eingebettet sind.

Nehmen wir zum Beispiel die Verkehrssysteme. Es ist zwar richtig, den Luftverkehr im Allgemeinen und Privatjets im Besonderen ins Visier zu nehmen, da sie ein ungeheuerliches Beispiel für Luxuskonsum sind, der in keiner Weise als Deckung menschlicher Bedürfnisse eingestuft werden kann. Doch die weitaus grössere Herausforderung sind die auf Autos ausgerichteten städtischen Verkehrssysteme des globalen Nordens. Diese sind in unserem Leben stärker präsent und machen einen viel grösseren Teil der Emissionen aus.

Wir brauchen eine Politik des Verkehrs, die dem Technofix der Elektrofahrzeuge entgegenwirkt, einem zentralen Element der ruinösen Klimapolitik, die die Welt in die Katastrophe treibt. Es geht darum, wie wir in Städten leben, und wofür all diese Fahrten – oft zu «Bullshit-Jobs» – überhaupt eingesetzt werden.

Im Südosten Londons war ich an einer Kampagne beteiligt, um den angeblich klimabewussten Labour-Bürgermeister daran zu hindern, einen neuen Strassentunnel unter der Themse zu bauen. Das ist eine Art von Projekt, die von jeder lokalen oder nationalen Regierung, die vorgibt, sich um den Klimawandel zu kümmern, verboten werden sollte.

Wir haben den Tunnel nicht gestoppt, aber wir haben auch nicht aufgehört uns zu organisieren. Wir diskutieren jetzt darüber, unsere Kampagne auszuweiten, um kostenlosen öffentlichen Verkehr in London zu fordern. Dies ist die Art von weitreichender Massnahme, die dringend benötigt wird, sowohl um den Klimawandel zu bekämpfen, als auch um die Krise der Lebenshaltungskosten zu bewältigen.

Dies bringt uns zu der Frage nach politischen Strategien, um klimarelevante Probleme anzugehen. Ich würde drei Prioritäten vorschlagen:

Erstens müssen wir dringend Massnahmen entwickeln, die sowohl die Treibhausgasemissionen senken als auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit angehen. Kostenloser öffentlicher Verkehr, um das Verkehrsaufkommen auf den Strassen zu reduzieren, ist ein Beispiel. «Insulate Britain», das sowohl den unnötigen Gasverbrauch als auch die Energierechnungen der Menschen senken soll, ist ein weiteres. Ein drittes, langfristigeres, ist die Entwicklung von gesellschaftlich kontrollierten Stromnetzen für erneuerbare Energien.

Erinnern wir uns an die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die mit einer Erhöhung der Dieselsteuer begann, die von der Regierung als klimarelevante Massnahme gerechtfertigt wurde. Damals wurde der Slogan geprägt: «Ihr redet vom Ende der Welt, ich mache mir Sorgen um das Ende des Monats.» Politische Massnahmen wie kostenlose öffentliche Verkehrsmittel und ein massives Nachrüstungsprogramm für Isolierung und Wärmepumpeninstallation sind die Antwort darauf.

Diese Strategien widersprechen den falschen Behauptungen (sowohl von Tory- als auch von Labour-Abgeordneten), dass die Klimapolitik die Normalbürger:innen Geld kosten wird, und den Geschichten über die Rechte einzelner Autofahrer:innen (mit denen die extreme Rechte zu mobilisieren versucht hat).

Zweitens müssen wir die Rolle des zivilen Ungehorsams anerkennen. Ich habe viele Kritiken an den Taktiken von zum Beispiel Just Stop Oil gehört: Ich denke, viele dieser Kritiken sind berechtigt. Aber der zivile Ungehorsam spielt eine Rolle und wird dies auch weiterhin tun: In Deutschland haben wir gesehen, wie er massenhaft von Tausenden von Menschen organisiert wurde.

Drittens müssen wir in den reichen Ländern reale, praktische Verbindungen zu ökologischen Bewegungen im globalen Süden herstellen. Wie zum Beispiel in Ecuador, wo viele Jahre des Kampfes zu der jüngsten Volksabstimmung führten, die die Ölförderung aus einem Teil des ecuadorianischen Amazonas stoppte.

3. Ökosozialismus

Hier sind vier Diskussionsbereiche, die wir meiner Meinung nach priorisieren könnten, um klarer zu definieren, was wir eigentlich unter Ökosozialismus verstehen.

Erstens: Ökosozialist:innen sind sehr gut darin, die Zukunft zu beschreiben, die sie anstreben, aber viel weniger gut darin, zu diskutieren, wie wir sie erreichen könnten – das heisst, den Übergang aus dem Kapitalismus heraus. Dieser Punkt wurde sehr gut in einem kürzlich erschienenen Artikel von Michael Albert (dem in Edinburgh tätigen Forscher, nicht dem US-amerikanischen Anarchisten gleichen Namens) gemacht, und ich denke, er sollte angesprochen werden. Albert schreibt:

Ökologische Marxist:innen haben es geschafft, überzeugende ökologische Kritiken am Kapitalismus und Prinzipien für alternative ökosozialistische politische Ökonomien zu entwickeln. Sie haben jedoch relativ wenig Aufmerksamkeit auf strategische Fragen gerichtet, wie zum Beispiel: Wie könnten ökosozialistische Übergänge stattfinden? Mit welchen Herausforderungen, Kompromissen und Risiken wären sie wahrscheinlich konfrontiert? Und wie können Ökosozialisten und verbündete Bewegungen am besten vorgehen, um all dies zu bewältigen?

Zweitens sehe ich wenig Interaktion von Ökosozialist:innen mit den zentralen politischen Debatten zwischen Klimawissenschaftler:innen, zum Beispiel der aktuellen Diskussion zwischen James Hansen, Michael Mann und anderen über das Ausmass, in dem die globale Erwärmung weitergehen wird und wann die Treibhausgasemissionen zu sinken beginnen werden.

Hier in Grossbritannien könnten wir uns mit den Klimawissenschaftlern auseinandersetzen, die sich politisch bemerkbar gemacht haben. Wie zum Beispiel mit Kevin Anderson, dem schärfsten Kritiker des UN-Verhandlungsprozesses und des betrügerischen Missbrauchs des Konzepts von «netto Null». Sein neuester Artikel über COP28 ist meiner Meinung nach Pflichtlektüre.

Es gibt auch Energiesystemforscher, wie die Gruppe unter der Leitung von Arnalf Grubler und Charlie Wilson, die einen Fahrplan für die globale Wirtschaft erstellt haben, um sich auf sozial gerechte Weise von fossilen Brennstoffen zu verabschieden.

Drittens brauchen wir dringend eine sozialistische Technologie-Kritik. Diese sollte in der Tradition stehen, die die «Luddites» vor mehr als 200 Jahren begründet haben, mit ihrem Programm, «alle Maschinen niederzulegen, die der Gemeinschaft schaden».

Die Arbeit, die sozialistische Gelehrte in den 1970er- und 80erjahren geleistet haben, wurde zum Beispiel von Les Levidow aufgegriffen. Leider wird diese Arbeit von einem übermässigen Fokus auf Autoren überschattet, die wie Matt Huber die Atomkraft unterstützen; oder Andreas Malm und Holly Buck, die für Geoengineering plädieren. Was auch immer diese Leute in der Vergangenheit Wertvolles geschrieben haben – die «technomodernistische» Politik, die sie jetzt vertreten, kann kein Teil einer ernsthaften Diskussion sein.

Viertens und letztens müssen wir in den Griff bekommen, wie sozialistische Ideen durch die Analyse des unhaltbaren materiellen Durchsatzes, der den Spätkapitalismus kennzeichnet und auf den sich ein Grossteil der «Degrowth»-Forschung konzentriert, bereichert werden können.

Ich schlage vor, dass wir statt des oberflächlichen Geplänkels, das einige der jüngsten Debatten beherrscht hat, ernsthafte Beiträge diskutieren, wie zum Beispiel das Buch A Social Ecology of Capital von Eric Pineault. Er geht von einem marxistischen Ansatz aus, der die Wirtschaft als Produktion, Zirkulation und Verteilung von Gütern betrachtet, und legt, aufbauend auf Forschungen im Bereich der industriellen Ökologie, eine Analyse der Weltwirtschaft vor, die sich wie folgt zusammensetzt: Gewinnung: Produktion: Konsum: Verschwendung.

Es gibt Arbeiten über die «imperiale Lebensweise» von Ulrich Brand und Markus Wissen, die versuchen, die komplexe Mischung aus materiellem Überkonsum und Ungleichheit, die die Wirtschaften der reichen Länder durchdringt, zu analysieren. Und es gibt sehr praktische Arbeiten über nicht nachhaltige wirtschaftliche Praktiken in verschiedenen Sektoren, wie zum Beispiel die Forschung über die gebaute Umwelt von Linda Clarke und anderen an der University of Westminster.

Dies sind einige der Diskussionen, die wir führen könnten, um klarer zu definieren, was Ökosozialismus bedeutet.


Der Autor dieses Artikels, Simon Pirani, wird am Anderen Davos 2024 einen Workshop zur Energieversorgung und Degrowth geben.

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