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Schweiz: Die NZZ und das Gespenst des Postkolonialismus

Am 15.11 veröffentlichte die NZZ einen Kommentar von David Signer mit dem Titel: „Der Postkoloniale Diskurs sperrt Afrika in ein identitäres Gefängnis ein“. Die Absurdität der darin vertretenen Thesen ist durchaus bemerkenswert und lädt dazu ein, einige Worte über das ihnen zu Grunde liegende krude Geschichts- und Gegenwartsverständnis zu verlieren.
von BFS Jugend

Koloniale Unterdrückungsverhältnisse gibt es weiterhin

Signer formuliert in seinem Kommentar eine Art Rundumschlag gegen das gesamte Feld der postkolonialen Theorie anhand eines einzigen Werkes: Achille Mbembe’s[1] „Kritik der schwarzen Vernunft“. Besonders weit kann Signer mit der Lektüre allerdings nicht gekommen sein, bezieht er sich doch nur auf die ersten drei Seiten von Mbembe’s Buch. Diese scheinen ihn aber derart echauffiert zu haben, dass er kurzerhand die These aufstellt, dass nicht etwa die andauernden neokolonialen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen den imperialistischen Zentren des globalen Kapitalismus und des afrikanischen Kontinents Schuld für dessen Probleme sind, sondern – eben die Postkoloniale Theorie. Postkoloniale Theoretiker*innen sperren, so Signer, Afrika in einen “identitären Kafig“, indem sie behaupten, der Imperialismus, der transnationale Sklavenhandel und der europäische Rassismus hätten wichtige Rollen in der historischen Entwicklung der westlichen Moderne gespielt und würden bis heute nachwirken. Als ob es nicht zutreffen würde, dass der transatlantische Dreieckshandel, der den entstehenden Kapitalismus mit der Gratisarbeit von unzähligen versklavten Menschen und der brutalen Ausbeutung der Ressourcen ganzer Weltregionen fütterte, die Struktur der westlichen Moderne prägte. Als ob es eine besonders abwegige Behauptung sei, dass koloniale Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse auch nach der Dekolonisation in den formell unabhängigen Staaten des globalen Südens nicht spurlos verschwanden. Als ob es nicht mehr als genug Beweise dafür gäbe, dass dem Kapitalismus eine grundsätzlich rassistische Funktionsweise unterliegt. (Wer daran zweifelt, möge doch einen Blick auf den Massenmord an den europäischen Aussengrenzen, die Praxis der US-amerikanischen Polizei, unbewaffnete schwarze Jugendliche zu erschiessen, oder die strukturelle Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte in den kapitalistischen Zentren werfen).

Signer hat die Werke nicht gelesen, über die er schreibt

Von Postkolonialer Theorie scheint Signer indes genauso wenig zu verstehen, wie er „Die Kritik der Schwarzen Vernunft“ gelesen zu haben scheint. So wirft er dem Postkolonialismus vor, das Rassendenken zu reinstallieren, weil postkoloniale Theoretiker*innen sich weigern so zu tun, als wäre Rassismus keine soziale und kulturelle Realität mehr, nur weil die pseudowissenschaftlichen Rassenkonzepte der Aufklärung inzwischen auch im Westen diskreditiert sind. Ein weiterer Pauschalvorwurf Signers am Postkolonialismus, dem jegliche Grundlage fehlt, ist dessen angeblicher „Afrozentrismus“, eine merkwürdige Unterstellung an eine akademische Disziplin, die sich mit dem Erbe des Imperialismus in allen Weltteilen, von Asien über die Arabische Halbinsel bis nach Südamerika, auseinandersetzt und deren Hauptvertreter*innen unter anderem aus Palästina, Indien und der Karibik kommen. Bezeichnend ist auch die Unterstellung, dass der Postkolonialismus das bürgerliche Fortschrittsnarrativ von „Aufklärung, Abolitionismus, Bürgerrechtsbewegung, Antikolonialismus, Demokratisierung, weltweite Steigerung des Lebensstandards“ nicht angemessen würdigt. So kann sich Signer auch nicht vorstellen, warum Werke wie Frantz Fanon’s „Die verdammten dieser Erde“[2], traurigerweise nach wie vor brennende Aktualität besitzen. Was der Postkolonialismus tatsächlich macht, und dies ist es, was Signer zu missfallen scheint, ist das Narrativ eines westlich-universalistischen Fortschrittsgedanken kritisch zu hinterfragen. Schliesslich war es im Zuge der Aufklärung, dass die pseudowissenschaftlichen Rassenkonzepte formuliert wurden, welche die imperialistische Ausbeutung und den Sklavenhandel legitimierten, und später die ideologische Grundlage für Eugenik und die Rassenlehre im Dritten Reich darstellten. Die Kolonien waren indes immer der Spiegel, in dem sich die dunkelsten Seiten der westlichen Moderne zeigten und die aus deren eigenem Selbstverständnis völlig ausgeblendet wurden. So erscheint der Ausbruch der Barbarei und der Zusammenbruch der „aufgeklärten Zivilisation“ in den zwei Weltkriegen nur aus europäischer Perspektive als wirklich überraschend. Die unmenschliche Gewalt, zu der sich das liberale Europa nicht fähig geglaubt hatte, war in den Kolonien schon lange tägliche Realität. Diese Nichtanerkennung der eigenen Gewalttätigkeit, im globalen Süden aber auch in den kapitalistischen Zentren selbst, ist nach wie vor ein wichtiges Element der bürgerlichen Selbstwahrnehmung.

Postkoloniale Theorie ist wichtiger denn je

Hinter den fadenscheinigen Vorwürfen am Postkolonialismus steht der Versuch, den Westen und den Kapitalismus aus der Verantwortung für die Probleme des globalen Südens zu ziehen und den Imperialismus, sowohl als historischer Moment als auch als andauerndes Ausbeutungsverhältnis, zu verharmlosen. Die Verantwortung des Westens negiert Signer mit billigen Verweisen auf rassistische Stereotypen, etwa die Faulheit oder die Irrationalität der afrikanischen Bevölkerungen. So liess er sich etwa 2005 in den Freiburger Nachrichten folgendermassen zitieren: „Im Westen konzentrieren wir uns auf Reales und sind produktiv. In Afrika dagegen kursieren die verrücktesten Geschichten – eine Art Kollektiv-Phantasma […]. Im Westen entsteht Reichtum im Allgemeinen durch Arbeit, nicht so in Afrika. Dort glauben die Leute, Geld fällt vom Himmel.“ In einem NZZ Artikel vom 14.7. schreckte Signer auch nicht davor zurück, das Massensterben im Mittelmeer, welches ein Resultat der europäischen Migrationspolitik ist, als einen „Massenselbstmord“ zu bezeichnen. Solche Schuldzuweisungen, die wahlweise afrikanische Kulturen und deren implizierte Unterlegenheit oder eben den Postkolonialismus zum Grund für die Probleme des Kontinents erklären, sind symptomatisch für die Unfähigkeit des liberalen Europas, die strukturelle Gewalt des globalen Kapitalismus und die hässlichen Auswirkungen dieses Systems anzuerkennen. Und sie zeigen auf, wie weit die hiesige Geschichtskultur davon entfernt ist, sich von eurozentristischen Ideologien und imperialistischen Überlegenheitsdünkeln emanzipiert zu haben. Postkoloniale Theorie mag durchaus auch aus marxistischer Perspektive ihre blinden Flecken haben, aber Äusserungen wie jene von Signer weisen darauf hin, wie wichtig sie für die Dekonstruktion des verzerrten Selbstbildes des Westens und den Aufbau solidarischer Perspektiven nach wie vor ist.
 
Fussnoten:
[Vorbemerkung] Postkolonialismus bezeichnet eine akademische Disziplin, die sich mit der ehemals kolonialisierten Welt und ihren Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialmächten nach dem Ende des formellen Imperialismus und den politischen und kulturellen Auswirkungen des Kolonialismus auseinandersetzt. Darüber hinaus ist der Postkolonialismus auch ein Projekt, dass die imperialistische und eurozentristische Wissensproduktion über die postkoloniale Welt kritisch hinterfragt und die Geschichte von Kolonisierung, Dekolonisierung und Neokolonialismus aus der Perspektive der Kolonisierten neu schreibt. Der Postkolonialismus beschränkt sich dabei nicht auf die Felder der Politik und Wirtschaft, sondern fokussiert sich auch auf Fragen der kulturellen Identität, Geschlechterrollen, Rassenkonstrukten, Nationalität usw.
[1] Achille Mbembe ist ein Kamerunischer Intellektueller und Vertreter des Postkolonialismus. In seinem hier erwähnten Werk „Kritik der Schwarzen Vernunft“ argumentiert Mbembe, dass der kapitalistischen Moderne eine grundsätzliche rassistische Logik unterliegt, und dass das Sklaverei und Kolonialismus bis heute reale Nachwirkungen haben.
[2] Frantz Fanon war ein in Martinique geborener Psychiater und Theoretiker der Dekolonisation. Er analysierte die Auswirkungen von kolonialer Gewalt sowohl auf materieller als auch auf psychologischer Ebene, und nahm aktiv teil am Unabhängigkeitskrieg in Algerien. Sein Werk „Die Verdammten dieser Erde“ war sehr einflussreich, sowohl in den antikolonialen Bewegungen im globalen Süden, als auch in der Solidaritätsbewegung im Westen. Fanon ist auch einer der Haupteinflüsse der Postkolonialen Theorie.
Für eine tiefere Beschäftigung mit der NZZ und ihrem Umgang mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz empfehlen wir die Lektüre des Artikels “Die NZZ im Herzen der weissen Hybris. Anmerkungen zur helvetischen ‚color line‘” aus Geschichte der Gegenwart.

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